Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung waren zweifellos von nationaler, in vielfacher Hinsicht auch europäischer und globaler Bedeutung. Politikhistorisch trennten die Jahre 1989/1990 das Vorher und das Nachher deutlich, als sich die DDR – so die völkerrechtliche Sprachregelung – der alten Bundesrepublik anschloss. Diese Entwicklung markierte die Überwindung der SED-Diktatur wie auch das Ende der nationalen Teilung. Der Rückblick auf diese Ereigniskette und deren empathische Deutung mitsamt populären Versatzstücken wie Freiheit, Demokratisierung und Wohlstand stand lange Zeit für die Gründungsgeschichte des wiedervereinigten Deutschlands wie auch eines sich erweiternden Europas.
Mit dem Abstand von mittlerweile einem Vierteljahrhundert wird diese emphatische Lesart blasser. Nicht nur die Verwerfungen der Banken- und Eurokrise seit 2008, sondern auch die Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene lassen die Ambivalenzen der Entwicklung seit 1989 deutlicher hervortreten. Aus der Zäsur wird aus der distanzierten Rückschau ein immer weicherer Übergang, der die Zeit des Kalten Krieges deutlicher mit den 1990er Jahren verbindet. "Wir sind vereint, aber noch nicht eins", so resümiert jüngst eine Studie des Zentrums für Sozialforschung der Universität Halle den Stand der deutschen Einheit und verweist damit deutlich auf das Gewicht, das der Teilungsgeschichte auch heute noch zukommt. Von einer "Meistererzählung" Europas mit den Glücksversprechen von Demokratie und Überwindung von Armut und Krieg sind wir im Zeichen der Ukraine-Krise weiter entfernt denn je.
Diese Beobachtungen sind Anlass, mit dem geplanten wissenschaftlichen Symposium, dem "11. Nassauer Gespräch", einen Anstoß zu einer Historisierung der Vereinigungsgesellschaft zu geben. Prof. Dr. Thomas Großbölting, Universität Münster, der die wissenschaftliche Leitung übernommen hat, plant die Konzentration auf das geteilte und dann wiedervereinigte Deutschland in seinen europäischen Bezügen. Die Frage nach dem "Zäsurcharakter" von 1989 wird Auftakt dazu sein, nach der gemeinsamen Basis und dem Trennenden zu fragen, welches Ost und West vorfanden und verarbeiteten:
- Mit den "Arenen" der Wiedervereinigung werden speziell diejenigen Institutionen und Formen der organsierten Öffentlichkeit analysiert, in denen der Übergang politisch gestaltet und diskursiv verhandelt wurde. Insbesondere das Verhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft galt es neu zu gestalten in einem Kontext, der die Opposition Kapitalismus – Kommunismus (vermeintlich) hinter sich gelassen hatte.
- Der Blick wird auf das Funktionieren und die Fuktion der zahlreichen nationalen Selbstbeschreibungen und Vereinigungslegenden gerichtet, die die Debatten um Identitäten und kollektive Selbstbilder anfachten. Wo mit 1989 Weltbilder, feste Grenzziehungen wie auch Selbstverständnisse ins Wanken gerieten, soll nach Substituten oder dem Verschwinden alter Gewissheiten gefragt werden.
- Ordnungsvorstellungen realisieren sich zudem in kollektiv diskutierten und individuell gelebten Verhaltensweisen und Stilen. Auch auf dieser alltags- und kulturgeschichtlichen Ebene wird nach Kontinuitäten in der Zäsur und nach den historischen Vermächtnissen aus der Zeit der europäischen wie deutschen Teilung, die die Vereinigungsgesellschaft dann geprägt haben, gesucht.
Die Ergebnisse des wissenschaftlichen Symposiums werden in einem Sammelband publiziert. Die Veranstaltung findet in Räumen und mit Unterstützung der Alfred-Toepfer-Stiftung im Seminarzentraum auf Gut Siggen in Ostholstein statt.
Es handelt sich um einen geschlossenen Teilnehmerkreis.