Jüdische Soldaten im kollektiven Gedächtnis Zentraleuropas. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg aus jüdischer Perspektive / Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective

Jüdische Soldaten im kollektiven Gedächtnis Zentraleuropas. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg aus jüdischer Perspektive / Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective

Veranstalter
Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität Graz
Veranstaltungsort
Karl-Franzens-Universität Graz
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
23.05.2016 - 25.05.2016
Deadline
31.12.2016
Von
Gerald Lamprecht

english version below

Der Erste Weltkrieg stellt eine weitreichende Zäsur innerhalb der jüdischen Geschichte Zentraleuropas dar. Die verheerenden Kriegsereignisse zerstörten nicht nur die traditionellen Lebenswelten und Gesellschaftsstrukturen des osteuropäischen Judentums, sondern durch die Folgen des Krieges, die geopolitischen Veränderungen sowie durch eine Radikalisierung des Antisemitismus wurden eingeübte Identitätsnarrative der jüdischen Bevölkerung Zentraleuropas fundamental in Frage gestellt. In vielen der neu entstandenen Staaten wurde im Zuge nationaler Selbstfindungsprozesse die Position der Jüdinnen und Juden innerhalb der Gesellschaft sowie ihre Beziehung zum Staat ungewiss. Diese teils gewaltsamen Prozesse evozierten innerjüdische wie gesamtgesellschaftliche Debatten, in denen Fragen jüdischer Loyalitäten zu den alten und neuen Staaten, resp. Gesellschaften ebenso wie jüdische Identitätsentwürfe unter den neuen Anforderungen verhandelt wurden. Ein zentrales und umstrittenes Diskussionsfeld war dabei der Kriegsdienst der jüdischen Soldaten, allgemein die Stellung der jüdischen Bevölkerung zum und ihre Haltung und Tätigkeiten im Krieg. So sahen viele Jüdinnen und Juden in Zentraleuropa und darüber hinaus in ihrem uneingeschränkten Kriegsdienst während des Weltkrieges die Möglichkeit einer Beweisführung ihres Patriotismus und ihrer Loyalität gegenüber den Heimatländern.
Allein in den Armeen Rußlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns kämpften rund 900.000 jüdische Soldaten, von denen circa 100.000 auf den unterschiedlichen Kriegsschauplätzen fielen. Ihr Tod verlangte ebenso wie der von hunderttausenden nichtjüdischen, christlichen und muslimischen Gefallenen, eine politische Rechtfertigung und Sinnstiftung, während und nach dem Krieg. Dies geschah in Form von medialen Diskursen, in öffentlichen und privaten Erinnerungspraktiken und Denkmalsetzungen sowie in Synagogenpredigten.
Für Zentraleuropa und die jüdische Bevölkerung ist von besonderer Bedeutung, dass Kriegserinnerung, als öffentlicher und politischer Akt der Sinnstiftung, stets mit der Rechtfertigung der Existenz der politischen Einheit, des Staates, der Nation, für die gekämpft und gestorben wurde, verbunden war. Nach dem Zerfall der beiden Imperien der Habsburger und Romanows, dem Übergang Deutschlands von der Monarchie zur Republik sowie den Versuchen, in Regionen struktureller Heterogenität homogene Nationalstaaten zu etablieren, waren ab 1918 die Bezugnahmen zu den alten, nicht mehr bestehenden kriegsführenden Staaten problematisch geworden. Eine politische Sinnstiftung für das massenhafte Sterben im Krieg musste daher den neuen politischen Realitäten angepasst werden.
Kriegserinnerung war damit stets Ort der Ausverhandlung der gesellschaftlichen und staatlichen Einheit sowie der politischen und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten unterschiedlicher Gruppen: eine davon waren die Jüdinnen und Juden.
Die Konferenz „Jüdische Soldaten im kollektiven Gedächtnis Zentraleuropas“ rückt die Debatten um den jüdischen Kriegsdienst in all seinen unterschiedlichen Formen (Soldaten und Kriegsgefangene, Flüchtlingsfürsorge und Zwangs- bzw. Fremdarbeiter, Wohlfahrt, …) sowie die Kriegserinnerung in ihren vielfältigen Ausprägungen während und nach dem Ersten Weltkrieg ins Zentrum. Unter Zentraleuropa werden dabei das Deutsche Reich, die Habsburgermonarchie und die westlichen Gebiete des Russländischen Reiches sowie die in diesem Gebiet nach 1918 entstandenen neuen Staaten verstanden.

Im Rahmen der Tagung sollen vorrangig Fragen jüdischer Loyalitäten und jüdischen Selbstverständnisses im Kontext des Krieges ebenso wie unterschiedlichste Debatten um die Verortung der jüdischen Bevölkerung innerhalb der jeweiligen Staaten während und nach dem Krieg behandelt werden. Von besonderem Interesse ist hierbei, wie diese Debatten sich angesichts der neuen politischen und nationalen Realitäten Zentraleuropas nach 1918 wandelten. Konnten die jüdischen Soldaten und der jüdische Kriegsdienst in die neuen nationalen Erinnerungs- und Sinnstiftungsdiskurse integriert werden, oder wurden sie vielmehr, ähnlich der Dolchstoßlegende in Deutschland, aus diesen ausgeschlossen? Welche Rolle spielten hiebei der Antisemitismus und der Aufstieg des Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Bolschewismus? Wie wirkten sich diese Entwicklungen in unterschiedlichen nationalen bzw. staatlichen Kontexten aus? Wie organisierten sich jüdische Erinnerungsmilieus (Veteranenorganisationen, Hilfsvereinigungen für die Versehrten, Witwen und Waisen), und welche Ziele verfolgten sie? Gab es gemeinsame jüdische und nichtjüdische Erinnerungsmilieus und Überlappungen in den Erinnerungs- und Sinnstiftungsdebatten? Welche Loyalitäts- und Identitätsidiskurse verbanden die unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen (zionistisch, religiös, akkulturiert) mit dem Kriegsdienst und der Erinnerung an diesen? In welchen Formen artikulierten sich die Erinnerungsdiskurse, und welche Manifestationen in Form von Denkmälern, Gedenktafeln und Erinnerungsritualen gab es?
All diese Aspekte sollen nicht nur aus einer nationalen oder (national)staatlichen Perspektive behandelt werden. Vielmehr möchte diese Tagung zum einen eine zentraleuropäische, vergleichende Perspektive eröffnen und zum anderen auch das transnationale Element jüdischer Kriegserinnerung, wie es beispielsweise in der Gründung des Weltbundes jüdischer Frontsoldaten 1935 zum Ausdruck kam, berücksichtigen.

Die Tagung richtet sich an WissenschafterInnen unterschiedlichster kultur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Von besonderem Interesse sind dabei Beiträge zu nachfolgenden Themen.
- Jüdische Erinnerungsdiskurse mit ihren politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Rückbezügen
- AkteureInnen jüdischer Kriegserinnerung – Erinnerungsmilieus
- Jüdische Veteranenorganisationen
- Medien der Erinnerung: Erinnerungsschriften, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Filme, autobiographische Texte, Kunstwerke, usw.
- Denkmalsetzungen, Heldenfriedhöfe
- Jüdische Kriegserinnerung in der Literatur
- Wechselbeziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Erinnerungsdiskursen und -Milieus
- Antisemitismus
- Transnationale Aspekte jüdischer Kriegserinnerung
- Weibliche Kriegserinnerungen
- Bildsprache: Fotografien, Postkarten

Die Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch.

Die Organisatoren bemühen sich um eine ausreichende Tagungsfinanzierung, sodass Reise- und Aufenthaltskosten übernommen werden können.

Eine Tagungspublikation (peer review) ist geplant (deutsch und englisch).

Bei Interesse senden Sie bitte einen Abstract (max. 500 Wörter) und kurzen CV an:
gerald.lamprecht@uni-graz.at

Deadline: 31.12.2015

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Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe
The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective

World War I marks a huge break in Central European Jewish history. Not only had the violent wartime events destroyed Jewish life and especially the living space of the Eastern European Jewish people, but the impacts of war, the geopolitical change and a radicalization of anti-Semitism also led to a crisis of Jewish identity. Furthermore, during the process of national self-discovery and the establishing of new states the societal position of the Jews and their relationship to the state had to be redefined. These partially violent processes, which were always accompanied by anti-Semitism, evoked Jewish and Gentile debates, in which questions about Jewish loyalty to the old and/or new states as well as concepts of Jewish identity under the new political circumstances were negotiated. In this context, one central and contested field of discussion was the question of Jewish military service, Jewish loyalty, and the Jewish attitude towards warfare. Many Jews in all belligerent countries expected to prove their patriotism and loyalty to the state with their military service.
About as many as 900.000 Jewish soldiers fought in the armies of the Russian Empire, Germany and the Austrian-Hungarian Monarchy, and about 100.000 of them died on various battlefields. Jews as individuals and Jewish communities tried to make sense of the deaths of Jewish soldiers as well as the manifold physical and psychological injuries that had been inflicted upon them during and after the war. They did this in terms of media discourses, in public and private practices of commemoration, by erecting memorials, and in religious rituals.
Commemorating the war has always been a public and political act of creating meaning and justifying the existence of the political unit, the state, the nation, for which the soldiers had died. After the collapse of the Romanov Empire and the Habsburg Monarchy as well as the transition of Germany from monarchy to a democratic republic, references to the no longer existing states became problematic. Furthermore, in Central Europe, a region of structural heterogeneity, the new states were attempting to establish homogeneous nation states. The process of making political meaning of the multitude of deaths in the war thus had to be adapted to the new political realities after 1918.
Therefore, commemorating the war was always a place where social and national belonging and unity were negotiated.
The Conference “Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe” opens up discussions about Jewish military service in its various forms (soldiers, prisoners of war, refugees, forced laborer, war welfare, …) and war memories in their multifaceted formations during and after World War I. Central Europe is understood as the German Empire, the Austria-Hungarian Monarchy, the western parts of the Russian Empire, and all the successor states of these empires.
Conference presentations should discuss discourses of Jewish loyalty, Jewish solidarity, Jewish identities, negotiations of the positioning of the Jews in the states and societies during World War I and afterwards. Furthermore, special attentions should be paid to the transformation of all these discourses during the pivotal years from 1918 and 1919, and the transition from the multiethnic/multinational empires to the national states that developed. Could the Jewish soldiers and Jewish military service be integrated into national and hegemonic war memories, or were they excluded, like the German “stab-in-the-back myth” did? What roles did anti-Semitism, the rise of fascism, National Socialism, communism, or bolshevism play? Are there any differences between the different national contexts? How were Jewish milieux de memoire organized (e.g. organizations of war veterans, relief organizations for the invalids, widows and orphans), and what were their aims? Did joint Jewish and Gentile milieux de memoire exist, and are there any communalities between the Jewish and Gentile memories and meaning-making discourses? Are there differences between discourses of loyalty, identity, and memory between the various Jewish groups (Zionists, “acculturated”, religious/orthodox)? What are the manifestations of these discourses, such as memorials, commemorative plaques, commemorative rituals or literature, and publications in general?
All these aspects should not only be discussed from a national point of view. The conference aims at discussing these questions also from a transnational, Centrale European perspective, as it could be exemplified by the foundation of the World Federation of the Jewish War Veterans in 1935.

The conference committee invites contributions from the Humanities (specifically Cultural Studies, Jewish Studies, History, Literary Studies and Art History). Topics may include, but are not limited to, the following:

- Jewish memory discourses with their political, social, cultural and religious references
- Agents of Jewish war memory – milieux the memoire
- Jewish war veterans organizations
- Media of memory: memoires, journals, newspapers, books, movies, so called ego-documents, artwork, …
- Heroes cemeteries, memorials, commemorative plaques, …
- Jewish war memory and literature
- Interrelations between Jewish and Gentile discourses of memory and milieux de memoire
- Anti-Semitism
- Transnational aspects of war memory
- War memory and Gender
- Pictorial perspectives: e.g. photographs, postcards, …

Conference languages: German and English

The conference committee is trying to raise funding for assistance with travel and hotel costs.

A publication (peer reviewed) is planned.

The conference committee welcomes abstracts of max. 500 words.
Please send your abstract and a brief biography to
gerald.lamprecht@uni-graz.at

The closing date for submissions is December 31, 2015.

Programm

Kontakt

Gerald Lamprecht

Heinrichstraße 22/III, 8010 Graz

gerald.lamprecht@uni-graz.at

http://juedischestudien.uni-graz.at/de/
Redaktion
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