Subjekt und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit

Subjekt und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit

Veranstalter
Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Dr. des. Isabelle Schürch, Reinhart Koselleck-Projekt „Vergesellschaftung unter Anwesenden und ihre Transformation. Eine Gesellschaftsgeschichte und Theorie der europäischen Neuzeit“
Veranstaltungsort
Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2016 - 26.11.2016
Deadline
15.04.2016
Website
Von
Prof. Dr. Rudolf Schlögl (Konstanz), Dr. des. Isabelle Schürch (Konstanz)

Die Gegenwart zeigt uns eindrücklich, dass der Mensch in sehr unterschiedlicher Weise in Gesellschaft vorkommt. Die modernen Wissenschaften sind dabei, ihn zu biologisieren. Genetik, Evolutionsbiologie und Neurowissenschaften arbeiten daran, zentrale Begriffe wie Selbstbestimmung, Vernunft, Willensfreiheit, die sich mit dem Subjekt seit Beginn der Moderne verbanden, in Frage zu stellen und aufzulösen. Gleichzeitig setzt die postmoderne Gesellschaft ein unternehmerisches Selbst voraus, das Körper und Psyche gleichermaßen mit Praktiken der Selbstoptimierung konfrontiert. Die Steuerung moderner Gesellschaften ist in wesentlichen Teilen Humanökonomie geworden, die neuerdings auch noch über bereits sehr effektive Techniken des genetischen Designs und des verhaltensprognostizierenden Datamining verfügt.

Man kann in solchen Befunden eine Bestätigung für den kulturpessimistischen Schluss sehen, der Mensch werde als Subjekt wieder verschwinden. Wir wollen jedoch umgekehrt in einer disziplinübergreifenden Diskussion, die idealerweise Historiker, Soziologen, Wissenschaftshistoriker, Philosophen, Theologen, Literatur- und Medienwissenschaftler, Rechtshistoriker zusammenführt, diese Diagnose zum Anlass nehmen, aus historischer Warte das Projekt des modernen Subjekts in seinem vormodernen Kontext in den Blick zu nehmen, indem wir nach historischen Konfigurationen von Subjektivität und Praktiken der Subjektivierung fragen und sie in Beziehung setzen zu den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturmustern. Besonderes Augenmerk möchten wir dabei auch auf Konstellationen richten, in denen Semantiken und Praktiken aus sich ausdifferenzierenden Feldern kollidieren und irritieren.

Die zentrale Figur, die den Bezug von Mensch und Welt, aber auch den von Mensch und Gesellschaft in der Neuzeit fasst, wird das Subjekt. Die Ausgangskonfiguration lässt sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert identifizieren. Bis dahin war die Rede vom Menschen und seiner Sozialität bestimmt von einem verchristlichten Aristotelismus, der ihn in seinem Wesen und seiner Handlungsfähigkeit als das durch Erbsünde und Vorsehung eingeschränkte Geschöpf entwarf, das erst durch Gottesbezug und Gnade sich in seinem Wesen vervollkommnen konnte. Seine soziale persona und damit seine soziale Inklusion war durch Normenkataloge bestimmt, die eine theologisch begründete und naturrechtlich ausformulierte Moral umriss, in der die Wesensbestimmung des Menschen und die (hierarchischen) Grundstrukturen gesellschaftlicher Ordnung aufeinander bezogen waren.

Diese Gewissheiten einer heilsgeschichtlichen Ordnung zerfielen im 17. Jahrhundert. Die Gesellschaft Europas begann sich auf diese neue Dynamik einzustellen, indem sie nach und nach Kontingenz und Komplexität als Voraussetzung gesellschaftlicher Ordnungsbildung anerkannte. Die auf den Menschen bezogenen theologischen, sozialtheoretischen und philosophisch-erkenntnistheoretischen Diskurse griffen jetzt auf bis dahin marginalisierte Vorschläge des Renaissancehumanismus und auf die laufende medizinische Forschung am Menschen zurück, um ein Subjekt zu entwerfen, das sich in Selbstverhältnissen und Reflexivität begründete und das mit einer jetzt bereits arbeitsteilig integrierten Gesellschaft über Selbstliebe, die den Anderen zur Unterstützung und Bestätigung braucht, sowie der Unendlichkeit seiner Bedürfnisse vermittelt war. Inwieweit das Subjekt auch andere weiterwirkende Vorgeschichten, etwa in der in religiöser Wahrheit begründeten Handlungsmacht von Reformation und Konfessionalisierung hat, wäre zu untersuchen. Die eminenten Autoren, angefangen von Descartes über Hobbes, Locke, Mandeville, Vico und Hume, formulierten bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts die Grundelemente des modernen, in seinen Verstandesoperationen verzeitlichten Subjekts und einer Sozialität aus, die auf eine zunehmend funktional differenzierte und daher immer weniger über Moral integrierte Gesellschaft bezogen waren. Die Romantik fasste das alles noch einmal zusammen und spitzte es gleichzeitig zu, bevor Neurophysiologie und Psychologie in einer Gesellschaft der Massen die Frage nach dem Subjekt um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine neue Konstellation von Semantiken und Strukturen führten.

Durch die Prozesse struktureller Differenzierung vervielfältigten und diversifizierten sich die Möglichkeiten wie die Voraussetzungen sozialer Inklusion seit dem 17. Jahrhundert, so dass Menschen zwar zu Subjekten werden konnten, aber als solche dauerhaft mit einer Reihe von Spannungen konfrontiert waren. Das moderne Subjekt musste die steigende Diversität seiner Rollen mit der gleichzeitigen Konsistenzforderung seiner Identität verbinden; es musste die im Selbstbezug begründete Subjektivität in Beziehung setzen zu den moral sentiments der Anderen, weil nur so Sozialität gelingen konnte. Moderne Subjektivität entstand mithin historisch aus der fortgesetzten „Arbeit am Subjekt“, in der Konsistenz und Diversität, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Identität und Differenz, Einmaligkeit und Nachahmung aufeinander zu beziehen und in ein wie auch immer gestaltetes Verhältnis zu setzen waren.

Die Schwierigkeiten dieses Projekts schlugen sich in einer auffallenden Intensivierung von Diskursen nieder, in denen die Anthropologie des Menschen und seiner Gesellschaft in den sie tragenden Unterscheidungen ausbuchstabiert und weiterentwickelt wurde. So scheint gerade jenseits einer aristotelisch-christlichen Ordnung der Wesenheiten die Differenz Mensch/Tier zu einem Dauerthema des 17. und 18. Jahrhunderts zu werden. Nahezu alle Diskussionen um die Natur des Menschen zeugen von einer intensiven Problematisierung dieser Grenzsetzung. Die tradierte Unterscheidung von Leib und Seele wurde in neuer Weise gefasst und dramatisiert. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen: Vernunft und Affekte, Wille und Triebe, Freiheit und Vorsehung, Lust und Unlust, Selbstliebe und Altruismus wären zu nennen und lassen erkennen, dass Selbst- und Fremdbestimmung in ein sich selbst dynamisierendes Verhältnis getreten waren. Gleichzeitig verdichtete sich die Zahl der Orte und Institutionen, in denen Praktiken der Subjektivierung ausgedacht, erprobt und umgesetzt wurden. Man muss dabei an Schauspiel und Literatur (einschließlich ihrer jeweiligen ästhetischen Theoretisierung) ebenso denken, wie an die vielfältigen Einrichtungen der selbstbestimmten Geselligkeit, aber auch funktional orientierte Subjektprojektionen und Praktiken berücksichtigen, die sich in Kaufmannslehren, religiösen Formen der Selbstthematisierung, den Konzepten von der Person im Recht und in der Rechtspraxis, den Zergliederungs- und Heilpraktiken der Ärzte oder auch in der Disziplin der stehenden Heere verwirklichten – ohne dass diese Aufzählung dann vollständig wäre.

In diesem Rahmen freuen wir uns über Themenvorschläge für den Zeitraum zwischen etwa 1500 und 1850, wobei der Schwerpunkt unseres Interesses auf dem Zeitraum zwischen 1600 und 1850 liegt. Im Zentrum sollen tragende Begriffe und Unterscheidungen des anthropologischen Diskurses der Subjektkonstitution sowie Orte und Praktiken der Subjektivierung stehen. Die Themen sollen so gefasst sein, dass dabei ein Bezug zwischen Subjektivierung und den strukturbedingten Voraussetzungen der gesellschaftlichen Inklusion des Menschen greifbar wird. Ziel des Vorhabens ist es, die Grundlagen wie die Spannungen in der Anthropologie des Subjekts gleichermaßen sichtbar zu machen.

Wir bitten um Vorschläge mit einem Exposé von maximal 1 Seite bis zum 15. April 2016.

Die gemeinsame Diskussion am Thema soll sich in zwei Stufen vollziehen. Auf einem ersten Workshop Ende 2016 (KW 47, genauer Termin wird noch bekannt gegeben) sollen Ausarbeitungen von etwa 6-7 Seiten vorgestellt und besprochen werden, die dann weiter ausgearbeitet und auf einem zweiten Treffen erneut diskutiert werden. Das Ziel ist eine inhaltlich und argumentativ möglichst kohärente gemeinsame Publikation zum Thema.

Programm

Kontakt

Dr. des. Isabelle Schürch

isabelle.schuerch@uni-konstanz.de
Tel. +49 7531 88 34 35

Universität Konstanz
Fachbereich Geschichte und Soziologie
Fach 5
Universitätsstrasse 10
D-78457 Konstanz