Unbekannte Jahre: Die vernachlässigte Epoche deutsch-jüdischen Aufstiegs: 1848-1880

Unbekannte Jahre: Die vernachlässigte Epoche deutsch-jüdischen Aufstiegs: 1848-1880

Organizer
Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik Deutschland (Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum - Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft / Zentrum für Antisemitismusforschung / Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg; Dr. Mathias Berek - Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig / Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg)
Venue
Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin, Ernst-Reuter-Platz 7
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
29.02.2016 - 01.03.2016
Deadline
22.02.2016
Website
By
Berek,Mathias

Die drei Jahrzehnte zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und dem Ende der liberalen Ära des deutschen Kaiserreichs markieren eine bemerkenswerte, jedoch unterbelichtete Epoche für das deutsche Judentum. Diese Jahre waren geprägt von der Emanzipation und ihren Grenzen: Sozialer Aufstieg und zumindest formell volle bürgerliche Rechte seit 1869/71 gingen einher mit ununterbrochener Ausgrenzung aus zentralen Bereichen der männlichen Gesellschaft wie dem Militär oder der Höheren Beamtenschaft; offener Antisemitismus galt vielen noch als unsittlich, aber die Judenmission dauerte ebenso an wie eine christliche Identität des Staates weithin vorausgesetzt wurde.

Gleichzeitig waren deutsche Juden und Jüdinnen ein wichtiger Motor der grundlegenden Veränderungen in Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Literatur und anderen Bereichen der Kultur – sowohl als jüdische Deutsche wie auch ganz ungeachtet ihres Jüdischseins:

Sie waren aktiver Teil der Bemühungen um den ideellen und materiellen Aufbau der neuen Nation und um die Gestaltung der Gesellschaft – im Nationalverein, in der Presse, im Militär während der sogenannten Reichseinigungskriege, in liberalen, sozialdemokratischen, selbst in konservativen Parteien.

Sie trieben die großen wissenschaftlichen Veränderungen der Zeit mit an: die Entwicklung der neukantianischen Programmatik, die philosophische Synthese von Empirismus und Idealismus und ihre Anwendung in Psychologie, Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften, den Aufstieg der Naturwissenschaften.

Als Religionsgemeinschaft focht man dieselben Kämpfe aus wie andere Religionen in der modernen Industriegesellschaft zwischen Aufklärungssäkularismus und religiöser Renaissance: um traditionelle Autorität oder individuellen Glauben, Dogma oder Ethik, Gesetz oder Religiosität. Nur wurde die Auseinandersetzung im Judentum noch um die Frage erweitert, ob man zu einer Konfession oder einer Nation gehörte. In jenen Jahrzehnten wurde die moderate jüdische Reform unter der Hand zum Mainstream und nationsweite Institutionen wie der Deutsch-Israelitische Gemeindebund entstanden.

Diese Erfahrung von Mitgestaltung und Aufstieg ließ, gegen alle stets vorhandenen Rückschläge, viele deutsche Juden und Jüdinnen ein tiefes Vertrauen in Staat und Nation entwickeln – und eine unerschütterliche Hoffnung, dass das Reich sich im liberalen Sinne weiterentwickeln, der Staat in all seiner „sittlichen“ Fortschrittlichkeit nicht nur für die Aufrechterhaltung, sondern die wirkliche Umsetzung der erreichten Emanzipation sorgen und mit der Blüte der „zivilisierten“ Nation Deutschland auch die letzten anti-jüdischen Hindernisse verschwinden würden. Antisemitismus wurde als ein Problem Russlands und Rumäniens angesehen, nicht Deutschlands. Jene Jahre zwischen Reaktion und Nation sollten in einer ganzen Generation jüdischer Deutscher einen idealistischen, bürgerlichen Optimismus erzeugen, ein deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein, das untrennbar mit deutschem Nationalismus und Liberalismus verbunden war. Gleichzeitig war es genau jener Optimismus, der die meisten von ihnen blind machte für die Fallstricke von Nationalismus wie Nationalliberalismus und der ihre Wahrnehmung der Rückschläge nachhaltig prägte, die spätestens seit dem Berliner Antisemitismusstreit ab Ende 1879 folgten.

Aber trotz ihrer Bedeutung ist diese Periode der deutsch-jüdischen Geschichte seltsam unterschätzt geblieben – sie erscheint oft als eine eher unbedeutende Übergangsphase zwischen 1848 und dem Kaiserreich Wilhelms II. Das Ziel dieses Workshops ist es, mehr Licht auf diesen zentralen Zeitraum zu werfen und die Bedeutung herauszuarbeiten, die er für den deutschen Nationalismus, für das deutsch-jüdische Vertrauen in Staat und Nation, für den Antisemitismus, für die innerjüdische Diskussion um konfessionelles oder nationales Selbstverständnis hatte – und für die Frage, ob 'national' und 'liberal' nicht sich wesentlich ausschließende Konzepte waren und sind.

Aufgrund des Charakters der Veranstaltung ist die Teilnehmer/-innen-Zahl begrenzt. Anmeldungen bitte unter: Patricia.Piberger@campus.tu-berlin.de

Programm

MONTAG 29.2.

Workshop-Auftakt
Reinhard Rürup (Berlin): "Emanzipation und bürgerliche Gesellschaft. Zur Dynamik der deutsch-jüdischen Geschichte 1848-1878"

Umbruch Emanzipation
Andreas Gotzmann (Erfurt): „Gemeinschaft - Vertrautes als Neues? Zu den konservativen Rückgriffen des deutschen Judentums der Emanzipations­phase.“
Arndt Engelhardt (Jerusalem): „Das 'Institut zur Förderung der israelitischen Litera­tur' (1855–1873) zwi­schen Bewahrung und Reform“

Das deutsche Judentum und die Nation
Ulrich Wyrwa (Berlin): „Die Konstruktion der deutschen Nation mit den Juden. Jüdische Akteure im Deutschen Nationalverein (1859-1867)“
Harald Lönnecker (Koblenz): "Juden und Burschenschaft ca. 1848/49-1880"
Manja Herrmann (Berlin/Beer Sheva): „Der frühe national-jüdische Diskurs: Moses Hess (1812–1875) und Wilhelm Herzberg (1827–1897)“

Revolution, Reaktion, Universalismus
Kirsten Heinsohn (Kopenhagen): „1848 bis 1880 aus der Sicht jüdischer Publizisten“
Richard Volkmann (München): „1848 und der frühe Nachmärz“
Uffa Jensen (Berlin): „Die Entstehung des jüdischen Universalis­mus zwischen Revolu­tion und Reichsgrün­dung“

DIENSTAG 1.3.

Innerjüdische Perspektiven
Christiane Wendler (Trier): „Orthodoxe Ansichten der innerjüdischen Emanzipationsdebatte“
Nadine Garling (Lübeck/Hamburg):"'...auf ererbter orthodoxer Basis gegründetes Gemeinde­wesen'. Die Herausbil­dung der Neo-Orthodo­xie am Beispiel des Übergangs der ländlichen Gemeinde in Moisling zur Stadtgemeinde in Lübeck zwischen 1848 und 1880“
Imanuel Clemens Schmidt (Leipzig): „Veröffentlichtes Leiden. Meir Wiener (1819–1880) und die Wiederkehr jüdischer Martyriologie“

Liberalismus, Optimismus, Antisemitismus
Christine Achinger (Warwick): „Die Figur des Juden und die Erzählbarkeit der Welt: Realismuskonzeptionen und Antisemitismus bei Gustav Freytag“
Christine Hartig (Göttingen): „Vom ‚liberalen Zeitalter‘ zur Dissimilation: Zäsuren zwischen 1850-1880“
Marcel Stoetzler (Bangor): „An euphoric moment of liberal optimism: Jewish liberals’ re­buttals of Treitschke’s antisemi­tism in the Berlin Antisemitism Dispute“

Vernachlässigte Jahre?
Christian Jansen (Trier): "Die nachrevo­lutionäre Epoche als Gründerzeit - und wa­rum die Historiker sich lange nicht für sie interessiert haben"

Contact (announcement)

Patricia Piberger

TU Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung
Ernst-Reuter-Platz 7, TEL 9-1, 10587 Berlin

Patricia.Piberger@campus.tu-berlin.de