Die drei Jahrzehnte zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und dem Ende der liberalen Ära des deutschen Kaiserreichs markieren eine bemerkenswerte, jedoch unterbelichtete Epoche für das deutsche Judentum. Diese Jahre waren geprägt von der Emanzipation und ihren Grenzen: Sozialer Aufstieg und zumindest formell volle bürgerliche Rechte seit 1869/71 gingen einher mit ununterbrochener Ausgrenzung aus zentralen Bereichen der männlichen Gesellschaft wie dem Militär oder der Höheren Beamtenschaft; offener Antisemitismus galt vielen noch als unsittlich, aber die Judenmission dauerte ebenso an wie eine christliche Identität des Staates weithin vorausgesetzt wurde.
Gleichzeitig waren deutsche Juden und Jüdinnen ein wichtiger Motor der grundlegenden Veränderungen in Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Literatur und anderen Bereichen der Kultur – sowohl als jüdische Deutsche wie auch ganz ungeachtet ihres Jüdischseins:
Sie waren aktiver Teil der Bemühungen um den ideellen und materiellen Aufbau der neuen Nation und um die Gestaltung der Gesellschaft – im Nationalverein, in der Presse, im Militär während der sogenannten Reichseinigungskriege, in liberalen, sozialdemokratischen, selbst in konservativen Parteien.
Sie trieben die großen wissenschaftlichen Veränderungen der Zeit mit an: die Entwicklung der neukantianischen Programmatik, die philosophische Synthese von Empirismus und Idealismus und ihre Anwendung in Psychologie, Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften, den Aufstieg der Naturwissenschaften.
Als Religionsgemeinschaft focht man dieselben Kämpfe aus wie andere Religionen in der modernen Industriegesellschaft zwischen Aufklärungssäkularismus und religiöser Renaissance: um traditionelle Autorität oder individuellen Glauben, Dogma oder Ethik, Gesetz oder Religiosität. Nur wurde die Auseinandersetzung im Judentum noch um die Frage erweitert, ob man zu einer Konfession oder einer Nation gehörte. In jenen Jahrzehnten wurde die moderate jüdische Reform unter der Hand zum Mainstream und nationsweite Institutionen wie der Deutsch-Israelitische Gemeindebund entstanden.
Diese Erfahrung von Mitgestaltung und Aufstieg ließ, gegen alle stets vorhandenen Rückschläge, viele deutsche Juden und Jüdinnen ein tiefes Vertrauen in Staat und Nation entwickeln – und eine unerschütterliche Hoffnung, dass das Reich sich im liberalen Sinne weiterentwickeln, der Staat in all seiner „sittlichen“ Fortschrittlichkeit nicht nur für die Aufrechterhaltung, sondern die wirkliche Umsetzung der erreichten Emanzipation sorgen und mit der Blüte der „zivilisierten“ Nation Deutschland auch die letzten anti-jüdischen Hindernisse verschwinden würden. Antisemitismus wurde als ein Problem Russlands und Rumäniens angesehen, nicht Deutschlands. Jene Jahre zwischen Reaktion und Nation sollten in einer ganzen Generation jüdischer Deutscher einen idealistischen, bürgerlichen Optimismus erzeugen, ein deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein, das untrennbar mit deutschem Nationalismus und Liberalismus verbunden war. Gleichzeitig war es genau jener Optimismus, der die meisten von ihnen blind machte für die Fallstricke von Nationalismus wie Nationalliberalismus und der ihre Wahrnehmung der Rückschläge nachhaltig prägte, die spätestens seit dem Berliner Antisemitismusstreit ab Ende 1879 folgten.
Aber trotz ihrer Bedeutung ist diese Periode der deutsch-jüdischen Geschichte seltsam unterschätzt geblieben – sie erscheint oft als eine eher unbedeutende Übergangsphase zwischen 1848 und dem Kaiserreich Wilhelms II. Das Ziel dieses Workshops ist es, mehr Licht auf diesen zentralen Zeitraum zu werfen und die Bedeutung herauszuarbeiten, die er für den deutschen Nationalismus, für das deutsch-jüdische Vertrauen in Staat und Nation, für den Antisemitismus, für die innerjüdische Diskussion um konfessionelles oder nationales Selbstverständnis hatte – und für die Frage, ob 'national' und 'liberal' nicht sich wesentlich ausschließende Konzepte waren und sind.
Aufgrund des Charakters der Veranstaltung ist die Teilnehmer/-innen-Zahl begrenzt. Anmeldungen bitte unter: Patricia.Piberger@campus.tu-berlin.de