70 Jahre nach Boders Interviews: Erfahrungen nationalsozialistischer Verfolgung für die Gegenwart begreifbar machen

70 Jahre nach Boders Interviews: Erfahrungen nationalsozialistischer Verfolgung für die Gegenwart begreifbar machen

Veranstalter
Dr. Axel Doßmann (Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit), Hanna Huhtasaari (Bundeszentrale für Politische Bildung), Europäisches Kolleg Jena „Repräsentationen des 20. Jahrhunderts“
Veranstaltungsort
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Schillers Gartenhaus
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.07.2016 - 08.07.2016
Von
Doßmann, Axel

Vor 70 Jahren, im Sommer 1946, hat David P. Boder Interviews mit 130 Displaced Persons geführt, die in mitteleuropäischen Lagern und Heimen auf ihre Ausreisegenehmigung warteten. Der in Litauen geborene, in die USA emigrierte Psychologe war der erste Wissenschaftler, der Interviews mit nationalsozialistisch Verfolgten auch akustisch aufgezeichnet hat. Anders als die Interviewer der Jüdischen Historischen Kommissionen kannte der jüdische Sprach- und Katastrophenforscher Ghettos und NS-Lager nur aus der Literatur und Presse. Mit seinen Fragen brachte der Feldforscher ein Jahr nach Kriegsende überwiegend junge Frauen und Männer ins Erzählen. Er griff aber auch thematisch ein und schnitt Aspekte recht schroff ab. Der polyglotte Boder ließ die meisten der Interviewten in ihren Muttersprachen von ihren Verfolgungserfahrungen erzählen, darunter auch etliche nicht-jüdische DPs. Boders Praxis steht in vielem quer zu den heutigen, oft stark von der auratischen Medienfigur des Holocaust-„Zeitzeugen“ geprägten Erwartungen an ein „gutes“ erfahrungsgeschichtliches Interview. Auch das mag ein Grund sein, warum die Interviews der Sammlung vor allem im deutschen Sprachraum bislang nur zurückhaltend diskutiert worden sind, obschon sie seit 2009 auf der Website „Voices of the Holocaust“ des Illinois Institute of Technology (IIT) frei zugänglich sind (http://voices.iit.edu) und 2011 die erste deutsche Übersetzung von Boders kleiner Edition „I Did Not Interview the Dead“ (1949) erschienen ist.

„Wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens“, schrieb auffordernd die Germanistin und Schriftstellerin Ruth Klüger. Die Interviews geben uns noch heute erstaunlich plastische Eindrücke in das dialogische Deutungsgeschehen von 1946. Erkennbar wird, wie extreme Erfahrungen sich sprachlich oft nicht fassen ließen, einem Verstehen widersetzten und einer Sinnstiftung entzogen. Unser Workshop wird die Interviews vor allem als Herausforderung und Chance für die historisch-politische Bildung zur Zeugenschaft im 20. Jahrhundert konturieren. In Jena wird ein Prototyp für ein künftiges online-Portal „hören und begreifen“ (AT) der Bundeszentrale für Politische Bildung vorgestellt, den eine Arbeitsgruppe am Jenaer Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit mit der Agentur werkraum.media Weimar entwickelt. Der konzentrierte Austausch über die Analysekonzepte des Psychologen Boder und die biografischen Erzählungen der Displaced Persons und deren Rezeptionsgeschichte dient zugleich der weiteren Vorbereitung eines interdisziplinären Forschungsvorhabens, das der Arbeit am künftigen Bildungsportal der bpb eine solide wissenschaftliche Grundlage geben soll.

Der Jenaer Workshop ist bewusst klein gehalten und versteht sich als Auftakt für eine Serie von konzentrierten Arbeitstreffen und öffentlichen Tagungen, die sich fachübergreifenden Fragen zum öffentlichen Umgang mit erfahrungsgeschichtlichen Zeugnissen nach dem Sterben der Augenzeugen widmen. Wir freuen uns auch nach dem Workshop über Kontakt und Austausch mit allen Interessierten.

Programm

Donnerstag, 7. Juli

13.30 Uhr
Begrüßung und kleiner Rundgang durch Schillers Gartenhaus

14.00 Uhr Einführung
Axel Doßmann (Jena), Was kann mit Boders Zeugenschaft begriffen werden?

MIT WISSENSCHAFTLICHER NEUGIER: PERSPEKTIVEN AUF BODERS PROJEKT

14.30 – 15.30 Uhr
David P. Boders Interviews in zeitgenössischen Kontexten

Raphael Utz (Jena), Osteuropa und die Shoah: Frühe Zeugenschaft und erste Begriffsfindungen
Michael Becker (Jena), Wissenschaft und Konzentrationslager-Erfahrung: David P. Boder im Kontext der frühen KZ-Forschung
Moderation: Hanna Huhtasaari (Bonn)

Kaffeepause in Schillers Garten

16.00 – 17.00 Uhr
Vergleichende Perspektiven, synchron und diachron

Gudrun Jäger (Frankfurt/Main), Erzählstrategien: Die Boder Interviews im Vergleich zu Liana Millus Tagebuch (1945) und Erzählungen (1947)
Daniel Schuch (Jena), „From Victim to Survivor“? Die Interviews mit Jürgen Bassfreund (1946) und Jack Bass (1997/2003) im Vergleich
Moderation: Linde Apel (Hamburg)

Pause

17.30 – 18.30 Uhr
Wie lassen sich Extremerfahrungen bewerten – und besser verstehen?

Jorina Fenner, Pia Marzell (Jena, Leipzig), Stellen zum Aufhorchen – warum die Boder-Interviews Fragen für uns aufwerfen
Beate Müller (Newcastle), Von der Dekulturation zur Transkulturation: Boders Übersetzungen und Annotationen im Licht seines Trauma-Konzepts
Moderation: Axel Doßmann (Jena)

19.00 Uhr Abendessen

Freitag, 8. Juli

9.00 – 10.00 Uhr
Mit Interviews Geschichte aneignen? Widerstände und Chancen

Linde Apel (Hamburg), Befremdliche Quellen: Die Boder-Interviews heute gehört
Dennis Bock (Hamburg), Muselmänner revisited: Zur Funktion von Akteur und Figur im Verstehensprozess der nationalsozialistischen Konzentrationslager
Moderation: Beate Müller (Newcastle)

Pause

10.30 – 11.30 Uhr
Was will das Zeugnis? Ethiken der Aushandlung

Gloria Freitag (Jena), Antwort – Anspruch – Verantwortung. Die normative Dimension geschichtlicher Zeugnisse
Ronald Hirte (Weimar-Buchenwald), Lebendige Performativität: Abraham Kimmelmann heute gefragt
Moderation: Raphael Utz (Jena)

Pause

70 JAHRE DANACH: BODERS INTERVIEWS IN BILDUNGSPOLITISCHER ABSICHT

12.00 – 13.30 Uhr
Formfindung: Technische und grafische Gestaltung des online-Portals

Dirk Koritnik (Weimar), Vorstellung des Entwurfs zum Prototypen
Axel Doßmann, Gloria Freitag, Daniel Schuch (Jena), Boder spricht mit Bella Zgnilek und Gert Silberbard: Exemplarische Kommentare, Deutungsangebote, Fragen
Einstiegskommentar und Moderation: Gunnar Schmidt (Trier)
Diskussion

Mittagessen

15.00 – 16.30 Uhr
Zu welchem Ende studieren wir 30 Interviews mit DPs aus dem Jahr 1946?

Einstiegskommentar und Moderation: Franka Maubach (Jena)
Diskussion

Wie gestalten wir unsere Kooperation?
Ideen und Moderation: Axel Doßmann (Berlin) und Hanna Huhtasaari (Bonn)

Kontakt

Dr. Axel Doßmann

Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena

axel.dossmann@uni-jena.de

http://www.gmoe.uni-jena.de