Das Meer in all seinen Wirkungs- und Wahrnehmungsschattierungen hat in den letzten Jahren stark an Prominenz gewonnen: als Erfahrungs- und Herrschaftsraum, insbesondere aber in seiner besonderen Widerständigkeit gegenüber menschlicher Planung, als liminaler Raum, ja mitunter gar als Un-Ort. Einem besonderen Elementarereignis menschlicher Auseinandersetzung mit diesem ganz besonderen Ort, dem Schiffbruch, widmet sich seit einiger Zeit eine interdisziplinäre Forschergruppe, die sich nun zum zweiten Mal am Deutschen Schiffahrtsmuseum Bremerhaven trifft.
Nachdem der erste Workshop im Juli 2016 zunächst das Tableau möglicher Quellen und Fragestellungen möglichst weit aufspannte, geht es nun um die Vertiefung und Systematisierung dieser Möglichkeiten.
Eine nun vertiefende Engführung geschieht in geographischer Hinsicht auf den europäischen Norden, d.h. insbesondere die Nord- und Ostsee, einschließlich aber auch des Nordatlantik. Eine zweite Engführung betrifft den Anlass von Schiffsuntergängen: explizit durch Menschenhand herbeigeführte Versenkungen, etwa im Kontext von Piraterie oder Kriegführung, werden zukünftig ausgeschlossen, weil sie andere Vor- und Nachsorgepraktiken, aber aller begründeten Vermutung nach auch gänzlich andere Wahrnehmungen als sie die Auseinandersetzung mit geographisch, nautisch oder witterungsbedingten Katastrophen evozierten. Viel unmittelbarer scheint uns in der Verarbeitung solcher Erfahrungen das »intellektuelle Werkzeug zur Kontingenzbewältigung« (Benjamin Scheller) greifbar zu werden.
Grundfragen, denen wir nachgehen wollen, sind:
- Wie wurde das Risiko der Schifffahrt mit Blick auf Schiffbruch kalkulierbar zu machen versucht?
- Welche Rolle spielte die permanente Möglichkeit Schiffbruch zu erleiden für die kommunikative Situation an Bord – und an Land? Strukturiert sie den sozialen Ort »Schiff« auf besondere Weise?
- Wie wurde erlittener Schiffbruch wahrgenommen und narrativ verarbeitet?
- Welche Nachsorgepraktiken kamen Schiffbrüchigen zugute?
Fortgeführt wird dabei insbesondere die Erhebung und quellenkritische Einordnung aussagekräftiger Quellengruppen, die für eine Geschichte des Schiffbruchs in der Vormoderne als einschlägig gelten können. Die drei dafür explizit aufgerufenen Aspekte »Sprache«, »Schrift« und »Objekte« verweisen im Ersten auf die Kommunikationssituationen bei/nach/über Schiffbruch, sodann auf den Prozess der Verschriftlichung und die gegebene schriftliche Überlieferung sowie im letzten Punkt sowohl auf die sprachliche und schriftliche Be- und Verhandlung der Überreste (etwa des Strandgutes in Korrespondenzen und Rechnungen) als auch auf die materielle Überlieferung und deren Aufbereitung in Forschung und musealer Praxis – die wiederum eine eigene, zeitgenössische Erfahrungskategorie zum Thema begründet. Damit soll der bereits in Angriff genommenen Untersuchung von Selbstkonstitution sowie von Raum- und Wissenskonstitution im Zuge von Schiffbrucherfahrungen der Vormoderne nun eine in Materialitäten gebundene, »konservierte« Interaktionsperspektive hinzugestellt werden.