Die Berichterstattung über die ‚Flüchtlingsströme‘ der Jahre 2015/2016 offenbarte einen grundlegenden kulturellen Mechanismus: Grenzen bestimmen unser Handeln als Men-schen, indem sie uns Orientierung verleihen. Sie strukturieren zwischen außen und innen, fremd und eigen, bekannt und neu unseren Alltag ebenso wie unser Denken in Kategorien, Begriffen und Denkmustern. So schaffen Grenzen Strukturen, die es (uns) überhaupt erst ermöglichen, in dieser Unterscheidung Bedeutung und Sinn zu konstituieren und sich über (uns selbst) zu verständigen.
Die Auswirkungen dieser Alteritätsdebatten auf die Innen- und Außenpolitik, die veröffentliche Meinung und die Hoch- und Alltagskultur der bundesdeutschen und der europäischen Kulturen prägen aktuell explizit und implizit viele gesellschaftliche Prozesse: Der globalen Mentalität des ‚anything goes‘ vieler gleichberechtigter Identitäten und Kulturen werden neuerdings Konzepte einer sich abgrenzenden eigenen Identität und einer eigenen Kultur entgegengesetzt. Genauso wichtig wie die trennende Funktion ist aber auch die Funktion der Grenzüberschreitung. Die Grenze bedingt durch ihre trennende Funktion in der Grenzüberschreitung den Kontakt zwischen unterschiedlichen Konzepten, Werten und Normen. Grenzen ermöglichen die Konturierung eines Eigenen in Abgrenzung und vor der Folie eines Anderen, sodass durch die Überschreitung der Grenze eine kommunikative Aushandlung über den Status der Grenze, ihre Funktionen und ihre Dekonstruktion oder Neuziehung initiiert wird. Grenzen provozieren einen kulturellen Austausch und die Verhandlung kultureller Werte und Normen. Diese Prozesse werden durch Medien als Raum kultureller Selbstverständigung getragen und durch den gegenwärtigen Medienwandel forciert.
Angesichts der ‚neuen‘ Medien und der allgegenwärtigen multimodalen Kommunikationsformen lässt sich Wittgensteins logozentrische Auffassung daher zeitgemäß neu formulieren: „Die Grenzen der mir verfügbaren Zeichensysteme und Kommunikationsmittel sind die Grenzen meines Weltentwurfes und meiner Verarbeitung kulturellen Wissens“. Der (Weiter-)Entwicklung semiotischer Prozesse und dem medialen Wandel kommt damit auch eine Rolle in der Modernisierung der Gesellschaft und im kulturellen Wandel zu, da neue Wahrnehmung, neues Denken und neue kulturelle Praxen nur durch neue Zeichen, Zeichenkombinationen, Zeichensysteme in Form medialer Kodes möglich werden.
Der Kongress möchte die für die Gegenwart erneut notwendige gewordene wissenschaftliche Reflexion des Konzeptes der Grenze mit initiieren und seine theoretische Fundierung vor allem auch semiotisch ausloten.