Ist die Endlichkeit menschlicher Existenz anthropologisch konstant, sind dagegen die Formen ihrer Wahrnehmung, Verhandlung, Repräsentation und Bewältigung historisch und kulturell höchst variabel. Die Erfahrung von Unentrinnbarkeit und Irreversibilität des Todes bringt vielfältige, individuelle wie kollektive, Sinnhorizonte und soziale Praktiken hervor, welche Vergänglichkeit durch unterschiedliche Transzendierungsideen und -rituale überwindbar zu machen versuchen. Um sich solchen Phänomenen historisch adäquat anzunähern, ist es daher sinnvoll, nach den jeweils wirksamen Deutungsmustern und Erzählformen zu fragen, über die weniger der Tod als vielmehr der jeweilige Umgang mit Vergänglichkeit historisch beobachtbar wird, gerade wenn man das Sterben als Prozessierung, Schwelle und Übergangsphänomen begreift.
Diese Fragestellung ist in den mediävistischen Fächern zwar bereits vielfach bearbeitet worden, wurde aber entweder anhand globaler Thesen wie derjenigen vom im Kollektiv aufgehobenen, „gezähmten“ Tod im Mittelalter (Ariès) analysiert oder allein auf insuläre Bereiche wie die Ars moriendi oder die höfische Literatur bezogen. Demgegenüber soll im Rahmen der Tagung zu einer differenzierteren Beschreibung gefunden werden, indem die zugrundeliegende existentielle Erfahrung von Vergänglichkeit als Endlichkeit fokussiert wird. Um der in diesem Kontext begegnenden Vielfalt an Beschreibungs- und Bewältigungsformen gerecht zu werden, soll insbesondere die jeweils inhärente Reflexion von Zeitlichkeit in den Blick genommen werden, denn im Umgang mit Endlichkeit können neben dem dominanten Deutungshorizont christlicher Auferstehungslehre und den sich im Mittelalter ausbildenden differenzierten Jenseitsvorstellungen auch andere, etwa pagan-antike, archaisch-heroische oder keltisch-mythische Zeithorizonte und Sinnbildungsinstanzen aufgerufen oder integriert werden. Auf dieser Grundlage lassen sich auch die Übertragungen, Interferenzen, aber auch Unterschiede zwischen religiös-monastischen und weltlich-höfischen Sinnentwürfen analysieren. Diese können einander ergänzen, miteinander konkurrieren, einander aber auch aufheben. Als weiterführend erweisen sich hier auch Fragen der historischen Codierung von Emotionen wie Trauer und Verzweiflung im Umgang mit Endlichkeit – ein Kollaps der Deutungsangebote scheint etwa dann auf, wenn individuelle Trauer angesichts persönlicher oder kollektiver Verluste durch religiöse Vermittlung nicht gestillt werden kann.
Die Tagung geht somit den vielfältigen Übertragungs- und Resemantisierungsphänomenen im Umgang mit den fundamental „letzten Dingen“ um, seien es Alter, individueller Tod, kollektiver Untergang, Jüngstes Gericht oder apokalyptisches Weltende. Den Ausgangspunkt für diesen Ansatz bildet die Beobachtung, dass die genannten Phänomene jeweils mit einer impliziten oder expliziten Reflexion von Zeitlichkeit verbunden sind und auf Erfahrungen von Heterochronie reagieren. Konfrontationen und Verschränkungen unterschiedlicher Temporalitäten entstehen etwa in der Jenseitsreiseliteratur aus der Ausgangssituation heraus, dass die Protagonisten – aus ihrer eigenen Lebenszeit herausgerissen – reisend mit den Sünden ihrer Vergangenheit, mit Heilserwartung und Ewigkeit konfrontiert werden. In ihrer Disruption werden Lebenszeit und Weltzeit somit zugleich auch reflexiv miteinander verknüpft. Gerade in der Konfrontation der eigenen Sterblichkeit mit Konzepten von Ewigkeit werden somit für das mittelalterliche Denken grundlegende Aspekte von Zeitlichkeit reflektiert. Erst die Aussicht auf Ewigkeit schafft, pointiert gesagt, ein Zeitbewusstsein, über das Endlichkeit bewältigt werden kann. Der Befund lässt sich aus der Reiseliteratur ergänzen, die in raumzeitlichen Prozessierungen in vergleichbarer Weise Temporalitäten hybridisiert, dabei aber andere und neue Sinnhorizonte und Konzepte zur Weltdeutung evoziert.
Im Zentrum der Beiträge zur Tagung sollen daher unterschiedliche Artikulationsformen im Umgang mit Vergänglichkeit wie auch die jeweils damit verbundene Reflexion von Zeitlichkeit stehen. Das kann in unterschiedlicher Weise in Riten und Praktiken, diskursiv oder narrativ geäußert werden, zu nennen wären neben den Jenseitsreisen etwa die emotionale Ausstellung individueller Trauer im höfischen Roman oder die ästhetische Überhöhung des Liebestodes in der Dichtung, aber auch übergeordnete Geschichtsmodelle, mithilfe derer in der Chronistik und Prognostik der kollektive Untergang zu dokumentieren oder auch in der genealogischen Fortführung aufzufangen gesucht wird.
Das Augenmerk soll dabei insbesondere auch Irritationen und Brüchen in der Darstellung von Zeitlichkeit gelten, die auf inkonsistente Zeitmodelle oder prekäre Erfahrungen von Zeit verweisen und somit Schwellenphänomene indizieren, die moderne Zeiterfahrung zu antizipieren scheinen. Dabei soll weder die Dominanz religiöser Sinnentwürfe unhinterfragt vorausgesetzt noch ein höfischer Sonderdiskurs postuliert werden, vielmehr ergibt sich aus diesem differenzierenden Ansatz die Möglichkeit, komplementäre – und auch konkurrierende – Sinnbildungsangebote miteinander zu vergleichen und auf die jeweilige Modellierung von Zeitlichkeiten zu befragen.
Die avisierten Beiträge sollen daher jenseits starrer Unterscheidungen von weltlichen und religiösen Konzepten unterschiedliche Gegenstandsbereiche im Hinblick auf die darin verhandelten Zeitsemantiken analysieren und so das Forschungsfeld neu aufspannen. Denn die Dichotomien von Endlichkeit/Ewigkeit und Diesseits/Jenseits, so der Ausgangspunkt der Tagung, evozieren im Mittelalter eine imaginative Vielfalt an unterschiedlichen Zwischenräumen, Grenzüberschreitungen, Bedeutungsübertragungen und Bewältigungsstrategien, die sich nur in der Betrachtung verschiedenster Artikulationsformen im Hinblick auf Endlichkeit und Vergänglichkeit ausloten lässt.
Die Tagung wird vom 28.-30.6.2018 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattfinden. Die Kosten für Reise und Unterkunft der ReferentInnen werden vorbehaltlich der Einwerbung von Drittmitteln zur Finanzierung der Tagung von den VeranstalterInnen getragen.
Erwünscht sind Beiträge von 30 Minuten aus allen mediävistischen Disziplinen. Insbesondere ist auch der wissenschaftliche Nachwuchs aufgerufen, sich mit Vortragsvorschlägen zu beteiligen. Bewerbungen sind mit Vortragstitel und einem Exposé (max. eine A4-Seite) bis zum 31. August 2017 elektronisch an die VeranstalterInnen zu richten.
Prof. Dr. Andreas Bihrer
Historisches Seminar
abihrer@email.uni-kiel.de
Prof. Dr. Timo Reuvekamp-Felber
Germanistisches Seminar
reuvekamp@germsem.uni-kiel.de
JProf. Dr. Julia Weitbrecht
Germanistisches Seminar
weitbrecht@germsem.uni-kiel.de
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Leibnizstraße 8
24118 Kiel