Aktuell wird der Zusammenhang von Generation und Sexualität häufig auf Gewalt oder Fortpflanzung reduziert. Zu Ersterem tragen die notwendige Aufarbeitung sexueller bzw. sexualisierter Gewalt gegen Kinder in pädagogischen Institutionen und die „me too“-Debatte ebenso bei wie die Skandalisierung von sexualisierten Darstellungen in der Netz-Kultur (DGfE 2017; #MeToo). Zudem kann ein gewandelter Umgang mit kindlicher Sexualität beobachtet werden, in dem das Nein-Sagen vor eine bejahende Sexualität getreten ist (Sager 2008, Baader u.a. 2017). Die Reduktion auf Fortpflanzung hingegen äußert sich in Demographie-Strategien zur Erzeugung von Humankapital wie auch in einer ‚Neuauflage‘ völkisch-rassistischer Forderungen der neuen Rechten. Dabei zeigen die Konflikte um Sexuelle Bildung in Schule und Kita, um Schwangerschaftsabbruch, Sexualstrafrecht und sexuelle Übergriffe, wie emanzipative Bestrebungen und Forderungen nach Schutz verschoben werden (Kemper 2014; Hark/Villa 2017). Der ‚Schutz‘ der nachwachsenden Generation und der ‚eigenen‘ Frauen wird instrumentalisiert, um ‚Fremde‘, nicht-heterosexuelle Perspektiven und reproduktiv-selbstbestimmte Frauen abzuwerten und auszuschließen. Paradoxerweise wird darin gerade – durch Nicht-Information oder Bevormundung (z.B. Aufrechterhaltung von §219, Negation des Aufklärungsauftrags von Schule) – die sexuelle Freiheit der vermeintlich zu Schützenden beschnitten.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Thema Generation und Sexualität sowohl mit den Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts als auch mit deren Freiheitsbestrebungen verknüpft war (Rendtorff/Kleinau/Riegraf 2016; Casale/Windheuser 2018). Zwar setzten sich Frauenbewegungen und feministische Theorie mit der Gewalt im Sexuellen, im Geschlechter- und im Generationenverhältnis auseinander (Pappenheim 1924; Brownmiller 1975; Kavemann/Lohstöter 1984), aber ebenso waren Fragen der freien Gestaltung von Sexualität wie auch der Reproduktionsfunktion von entscheidender Bedeutung (Stöcker 1906; Beauvoir 1949; Firestone 1970; Rubin 1975). In diesem Sinne soll mit dem Jahrbuch ein Perspektivwechsel angeregt werden, der bildungs- und kulturhistorische Geschlechterforschung und feministische Theorie zum Ausgangspunkt nimmt, um insbesondere Freiheit bzw. Befreiung im Verhältnis von Generation und Sexualität zu berücksichtigen.
Eine solche Perspektive lädt dazu ein, die Gegenwart und ihren Blick auf Phänomene zu überschreiten und erstens alternative Entwürfe aus der Geschichte der Frauenbewegungen zum Gegenstand zu machen. Zweitens sind auf theoretischer Ebene Beiträge willkommen, die sich – neben gender-/queer-theoretischen Konzepten – der Fragestellung aus gleichheits- oder differenzfeministischer Perspektive nähern.
Vor diesem Hintergrund stellt das Jahrbuch die Frage, was aus geschlechtergeschichtlicher und geschlechtertheoretischer Perspektive unter Generation und Sexualität und ihrem Verhältnis zu einander zu verstehen ist. Generation kann dabei als sozial- und erziehungswissenschaftliche Analysekategorie wie auch als zeitspezifische Konstellation der Frauenbewegungen oder feministischen Theorie gedacht werden. Wie wurde und wird das Verhältnis von Generation und Sexualität zum Gegenstand und/oder zur Utopie für die Frauenbewegungen und die Pädagogik? Wie beschreibt und analysiert die feministische Theorie – in ihren unterschiedlichen historischen und aktuellen Strömungen – den Zusammenhang von Generation und Sexualität? Welche Entwürfe gehen damit einher? Welchem Wandel unterliegen die Frauenbewegungen, ihre möglichen Nachfolger*innen und das feministische Denken hinsichtlich des genannten Gegenstandes?
Folgende mögliche Fragen und thematische Schwerpunkte könnten in den Beiträgen aufgegriffen werden:
- Welche Utopien/Dystopien wurden und werden hinsichtlich Generation, Geschlecht und Sexualität entworfen (z.B. in der frühen Frauenbewegung ab Mitte des 19. Jh. (vgl. Kleinau 1987) oder in der lesbischen/frauenbewegten Literatur der 1970er Jahre (z.B. Wittig 1969))?
- Wie verändert sich die Betrachtung des Verhältnisses von Generation und Geschlecht aus gleichheits-, differenz- oder gendertheoretischen Perspektiven und wie wird darin jeweils Freiheit gefasst? Wie wird darin die Beziehung von Natur und Kultur und von Subjekt und Objekt verstanden?
- Welche Positionen werden bezüglich Generation und Sexualität von einzelnen frauenbewegten Akteurinnen und Theoretikerinnen vertreten? (z.B. Helene Stöcker, Clara Zetkin, Simone de Beauvoir, Carla Lonzi, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Judith Butler etc.)
- Wie können autobiographische Texte von Frauen zum Ausgangspunkt für eine kritische Re-Lektüre des Verhältnisses von Generation und Sexualität werden?
- Welche Folgen hat die feministische politische und/oder theoretische Beschäftigung mit Sexualität und Reproduktion für die Erziehungswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit Erziehung, Bildung und Sozialisation (vgl. Rendtorff 2006)?
- Welche Bedeutung kann der feministischen sexuellen Bildung (z.B. der Frauengesundheitszentren) und der Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung der 1970er Jahre für heutige Sexuelle Bildung zugesprochen werden?
- Inwiefern kann ein Wandel in der Betrachtung des Verhältnisses von Generation und Sexualität beobachtet werden? Welche Folgen hat dies für die Familie und pädagogische Institutionen (z.B. im Vergleich der anti-autoritären Kinderladenbewegung zu heute oder hinsichtlich sexueller Gewalt, vgl. Baader 2014, Baader u.a. 2017)?
- Welche Perspektiven auf das Generationen- und Geschlechterverhältnis und auf Sexualität eröffnet ein Blick zurück auf psychoanalytische und marxistische Ideen, nachdem in der Gegenwart eine „gefährliche Liaison“ (Eisenstein 2005) zwischen Kapitalismus und Feminismus konstatiert wurde (vgl. Fraser 2009; Soiland 2010)?
- Inwiefern betrifft der Zusammenhang von Generation und Sexualität auch die Homosexuellenbewegung und wo liegen mögliche Unterschiede zur Frauenbewegung hinsichtlich sexueller Freiheit und Reproduktion?