In der Gegenwart werden das Verhältnis von Schaffen und Nachahmen sowie die Bedeutung beider Aspekte für kreative Prozesse neu ausgehandelt: Die Postmoderne hat das Subjekt dezentriert und intensiv über den Tod des Autors diskutiert. Die Möglichkeiten, die erst die Informationstechnologie und das Internet eröffnet haben, generieren neuartige Debatten über die Grenzen von Urheberschaft und das Verhältnis von Original und Kopie, Zitat und Plagiat. Im Internet ist ein Urheberrecht kaum zu behaupten, „Copy and Paste“ sind längst Praxis. Hier werden Seiten gespiegelt, Aussagen, Bilder und Filme anderer Seiten kompiliert, Zitate nicht mehr angeführt, sondern verlinkt. Symptome dieses Wandels kreativer Prozesse sind etwa die Diskussionen über Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) und das Kompilieren als künstlerisches Verfahren oder auch die – durchaus politischen – Debatten über die Grenzen des Plagiats in der Wissenschaft.
Das Tübinger Symposium des Mediävistenverband e.V. nimmt diese aktuellen Veränderungen zum Anlass, um nach dem Spannungsverhältnis von Schaffen und Nachahmen im Mittelalter zu fragen – und sich damit zugleich der Frage nach der Kreativität im Mittelalter zuzuwenden. Dabei geraten Analysen der Manuskript- und Objektkulturen, die in dieser Epoche Vorstellungen, Diskurse und Praktiken hervorgebracht haben, ebenso in den Blick, wie die Frage, inwiefern die zeitlich weit entfernten historischen Phänomene gegenwärtigen Entwicklungen nicht sogar näher stehen als jenen der westlichen Moderne mit ihren spezifischen Konzepten von Autorschaft, Urheberrecht, Originalität und Plagiat. Damit ist selbstverständlich keine Rückkehr ins Mittelalter behauptet – sehr wohl aber die Frage aufgeworfen, ob sich das Verhältnis der eigenen, heutigen Kultur zu den Kulturen des Mittelalters noch ohne weiteres über dieselben dichotomischen Modelle der Alterität von Mittelalter und Moderne beschreiben lässt, wie es spätestens seit den 1980er Jahren vielfach üblich gewesen ist.
Das 18. Symposium des Mediävistenverbandes steht deshalb unter dem Titel „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“. Es wird organisiert im Auftrag des Mediävistenverbandes von dem evangelischen Kirchenhistoriker Prof. Dr. Volker Leppin und wird veranstaltet von der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Weit über 100 Beiträge von Forschenden aus aller Welt bieten Zugänge aus einer Vielzahl fachlicher Perspektiven, beispielsweise der Germanistik, Theologie, Architektur- und Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft, Anglistik, Musikwissenschaft, Judaistik, oder Medizingeschichte. Sie werden in den drei Themenfeldern „Original – Kopie“, „Urbild – Abbild“ und „Entkontextualisierung – Neukontextualisierung“ vorgestellt.
Das Programm enthält zudem drei Plenarvorträge: Der Literaturwissenschaftler Christian Kiening (Zürich) eröffnet das Symposium mit dem Thema „Die Erschaffung literarischer Welten im Mittelalter“. Der evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies (Berlin) referiert über „Manichäismus an der Seidenstraße oder: Kreative Prozesse der mittelalterlichen Neukonfigurierungen einer spätantiken Religion“. Die Historikerin Ingrid Baumgärtner (Kassel) untersucht abschließend das Thema „Von der Reise zur Karte. Schöpfungsprozesse und kulturelle Praktiken“.
Im Vorprogramm findet bereits am Sonntagabend unter dem Titel „Liebe kennt kein Warum (Meister Eckhart)“ ein Konzert des Ensemble Cosmedin statt, mit Musik und Texten der Mystik. Zudem werden im kulturellen Begleitprogramm mediävistische Zugänge zur Stadt Tübingen und ihrer Umgebung geboten – unter anderem zwei Stadtführungen, eine Führung durch das Kloster Bebenhausen sowie das Evangelische Stift, ein ehemaliges Augustiner-Eremitenkloster.
Der Mediävistenverband e.V. zählt über 1.200 Mitglieder aus allen Fächern, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen. Im Rahmen des Tübinger Symposiums wird zum vierten Mal der Nachwuchspreis für herausragende Dissertationen verliehen, der sich nicht nur an die Mitglieder des Verbandes richtet, sondern auch weiteren Interessierten offensteht.
Weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden sich unter https://www.mv-symposium2019.uni-tuebingen.de/.