"Versöhnung" zwischen Vergessen und Erinnerung: Geschichte eines bewegten Konzepts (Europa, 19. Jh. und erste Hälfte des 20. Jh.)

"Versöhnung" zwischen Vergessen und Erinnerung: Geschichte eines bewegten Konzepts (Europa, 19. Jh. und erste Hälfte des 20. Jh.)

Veranstalter
Jürgen Finger (DHI Paris), Corine Defrance (LabEx EHNE/UMR Sirice), Ulrich Pfeil (Univ. de Lorraine/CEGIL), in Verbindung mit dem DHI Warschau und dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Veranstaltungsort
Institut historique allemand, 8 rue du Parc royal, 75003 Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
20.11.2019 - 22.11.2019
Deadline
30.04.2019
Von
Jürgen Finger (DHIP)

(English version below)

Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist „Versöhnung“ eine Art verallgemeinerter „Erwartungshorizont“ nach zwischenstaatlichen Konflikten: Frieden scheint nicht auszureichen. Gesellschaften und Staaten in Nachkriegssituationen werden unter dem Druck von staatlichen und zivilgesellschaftlichen, nationalen und internationalen Akteuren auf den Pfad der „Versöhnung“ verpflichtet. Experten erstellen Kataloge guter Praktiken, die zur Standardisierung von Prozessen führen. Die Verwendung des Begriffs „Versöhnung“ ist inflationär in der zeitgenössischen Debatte, manche Beobachter sprechen missbilligend von „Versöhnungskitsch“ (Klaus Bachmann). Die Erwartung von oder sogar Forderung nach „Versöhnung“ basiert auf der Aufforderung zum Erinnern bei gleichzeitiger Ablehnung des Vergessens, auf dem Eingestehen von Verbrechen und der Anerkennung von Opfern, manchmal auch auf Vergebung. Diese Erwartungshaltung spiegelt die Besonderheiten unserer Gegenwart und scheint im Gegensatz zu älteren Idealen von damnatio memoriae zu stehen, die auf heilsames Vergessen setzen.

Wir schlagen vor, solche Vorstellungen von „Versöhnung“ zu historisieren und aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren – mit einem Schwerpunkt im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Praktiken der Annäherung und des politischen Ausgleichs nach konkreten Konflikten bleiben dabei im Hintergrund. Wir wollen die Semantik und Symbolik einer Sprache der „Versöhnung“ untersuchen, mit anderen Worten: Was sind die Worte, Gesten, Referenzen, Bilder, die sowohl in der diplomatischen und juristischen „Sprache“ als auch im politischen, gesellschaftlichen oder künstlerischen Bereich verwendet werden? Ziel ist es, aus verschiedenartigen Quellen die Vielfalt der Vorstellungen und Darstellungen von „Versöhnung“, deren Akteure und Bedingungen im jeweiligen historischen Kontext zu rekonstruieren. Wir verorten uns also an der Schnittstelle einer Kulturgeschichte der Politik und der internationalen Beziehungen einerseits und der historischen Semantik beziehungsweise der histoire sociale des concepts andererseits.

Dieser Zugriff profitiert von reichhaltiger Forschung zu anderen Epochen und reagiert zugleich auf ein Desiderat: Umfassend untersucht sind Diplomatie, Friedensschlüsse und ihre Repräsentationen in der Frühen Neuzeit, insbesondere mit Blick auf den Westfälischen Frieden. Dasselbe gilt für die zahlreichen Studien zur „Versöhnung“ in Europa nach 1945, die einer größeren historischen Tiefe bedürfen, indem frühere Verwendungen und Transformationen des Konzepts untersucht werden. Die Beiträge werden sich deshalb auf das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrieren und die semantische und konzeptionelle Ausgestaltung von „Frieden“, „Freundschaft“, „Versöhnung“ und anderen verwandten Begriffen hinterfragen.

Wir werden hauptsächlich zwischenstaatliche Konflikte berücksichtigen. Beiträge können aber innerimperiale Konflikte (sowohl in Europa als auch in/mit den Kolonien) oder Konflikte im Kontext des Zerfalls von Imperien genauso berücksichtigen wie Bürgerkriege, die die Beziehungen zwischen Staaten und Nationen in Frage stellten.

Inwieweit wirkt sich die Vorstellung, dass Frieden „Vergessen“ oder „Schweigen“ erfordert, um Vergeltung und Rache zu ersticken, noch auf die politischen und diplomatischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts aus? Wann und wie erfolgte der Übergang zwischen „Friedens- und Versöhnungsverträgen“ oder „Friedens- und Freundschaftsverträgen“ zu Friedensverträgen ohne Versöhnung oder gar Verträgen, in denen Verantwortliche oder Schuldige benannt wurden? Haben Gesellschaften diese Ziele und Bewertungen geteilt? Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche, nationale oder internationale Organisationen bei der Förderung alternativer Vorstellungen, wie Frieden geschaffen und gesichert werden soll? Wie hängen die Verwendung des Begriffs „Versöhnung“ durch pazifistische, feministische und religiöse Kreise und die gleichzeitige Entwicklung einer ersten „humanitären Diplomatie“ zusammen? Inwieweit wurden die Forderung nach Versöhnung und das Konzept „Versöhnung“ durch den Krieg verändert? Das zielt insbesondere auf die Zwischenkriegszeit, da – nur vorläufig durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen – in den 1920er Jahren auf verschiedenen Ebenen Initiativen für Frieden, Versöhnung und rhetorische Abrüstung gestartet wurden.

Im Übergang von den 1920er in die 1930er Jahre kam es zur Wende. Der Begriff der „Versöhnung“ wurde von faschistischen und nationalistischen Kreisen in ihrem Kampf gegen den „Bolschewismus“ und dann von den Akteuren der Kollaboration mit dem NS-Regime im gesamten besetzten Europa übernommen. Wie wurden in diesem Kontext die Begriffe „Versöhnung“ und „Zusammenarbeit“ artikuliert?

Schließlich gilt es, die vorübergehende Ablehnung des Konzepts „Versöhnung“ nach 1945 zu analysieren, das wenig erfolgreich schien und diskreditiert war. In welchen Milieus wurde aktiv daran gearbeitet, den Begriff wieder aufleben zu lassen? Welche Vorstellungen über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden mit dem Versöhnungsbegriff assoziiert? Ist das Ziel von Versöhnung, die Zukunft vorzubereiten, indem man sich von der Vergangenheit abwendet, oder geht es darum, sich der Vergangenheit gemeinsam zu stellen, um die Zukunft aufzubauen? Mit Blick auf diese Fragen zur (vorerst) letzten Transformation des Versöhnungskonzepts, wird das Ende des Studienzeitraums an der Schwelle zu den 1960er Jahren gewählt.

Ziel dieser Veranstaltung ist es, Historiker und Historikerinnen sowie Forschende aus den Bereichen Recht, Politikwissenschaft, Literatur, Kunstgeschichte, Theologie und digitale Geisteswissenschaften zusammenzubringen, um in der interdisziplinären Debatte die Frage nach den Chronologien der „Versöhnung“ im 19. und 20. Jahrhundert aufzuwerfen. Diese Ausschreibung richtet sich auch und besonders an den wissenschaftlichen Nachwuchs.

Vorschläge sind bis zum 30. April 2019 an Jürgen Finger (JFinger@dhi-paris.fr) zu richten. Bitte reichen Sie einen Titelvorschlag, eine Zusammenfassung von 2.500 Zeichen (in Deutsch, Französisch oder Englisch) sowie eine kurze bio-bibliographische Notiz ein. Die Arbeitssprachen der Tagung sind Deutsch, Französisch und Englisch.

Wissenschaftlicher Beirat: Joachim Berger, Anne Couderc, Corine Defrance, Jürgen Finger, Ulrich Pfeil

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Reconciliation between Oblivion and Memory: History of a Moving Concept
(Europe, 19th c. and first half of 20th c.)

Since the end of the 20th century, “reconciliation” has been a kind of generalized “horizon of expectation” in interstate conflicts: Peace does not seem to be enough. Societies and states in post-war situations are committed to the path of “reconciliation”, often exposed to pressure from state and civil society actors on a national and international level. Experts draw up catalogues of good practices that lead to the standardization of processes. The inflationary use of the term “reconciliation” in contemporary debate makes some observers speak disapprovingly of “reconciliation kitsch” (Klaus Bachmann). The expectation or even demand for “reconciliation” is based on the demand for remembrance and rejection of oblivion, the confession of crimes and the recognition of victims, sometimes also on forgiveness. These expectations mirror the particularities of our era and seem in contrast to older ideals of damnatio memoriae that rely on healing oblivion.

We propose to historicize such concepts of “reconciliation” and to analyze them from different perspectives – with a focus on the 19th century and the first half of the 20th century. The practices of rapprochement and political reconciliation after specific conflicts may remain in the background. We prefer to examine the semantics and symbolism of a language of “reconciliation”, in other words: What are the words, gestures, references, images that are used in diplomatic and legal language as well as in political, social or artistic fields? The aim is to reconstruct from various sources the diversity of ideas and representations of “reconciliation”, the actors supporting the reconciliation project and its conditions in the specific historical context. We thus locate ourselves at the interface of a cultural history of politics and international relations on the one hand and historical semantics and a histoire sociale des concepts on the other.

This approach profits from extensive research on other epochs and at the same time reacts to a desideratum: Diplomacy, peace treaties and their representations in the early modern period, in particular the Peace of Westphalia, were comprehensively examined in the past decades. Studies on “reconciliation” in Europe after 1945 are equally numerous, yet they are to be given greater historical depth by examining earlier uses and transformations of the concept. The contributions should therefore concentrate on the 19th century and the first half of the 20th century and question the semantic and conceptual design of “peace”, “friendship”, “reconciliation” and other related concepts.

We will mainly consider interstate conflicts. However, contributions may also consider intra-imperial conflicts (both in Europe and in/with the colonies), conflicts in the context of the disintegration of empires, as well as civil wars that question relations between states and nations.

To what extent does the idea that peace requires “forgetting” or “silence” to restrain the desire for retaliation and revenge still affect the political and diplomatic ideas of the 19th century? When and how did the transition take place from “peace and reconciliation treaties” or “peace and friendship treaties” to peace treaties without reconciliation or even treaties in which culprits or perpetrators were named? Did societies share these goals and evaluations? What role do civil society, national or international organizations play in promoting alternative ideas of how peace should be created and secured? How are the use of the term “reconciliation” by pacifist, feminist and religious circles and the simultaneous development of a first “humanitarian diplomacy” connected? To what extent were the demands for reconciliation and the concept of “reconciliation” changed by war? This is particularly true of the interwar period, since – only temporarily interrupted by the First World War – in the 1920s initiatives for peace, reconciliation and a rhetorical disarmament were launched at various levels.

The transition from the 1920s to the 1930s marked another turning point. The concept of “reconciliation” was also adopted by fascist and nationalist circles in their struggle against Bolshevism and then by the actors of collaboration with the Nazi regime throughout occupied Europe. How were the terms “reconciliation” and “cooperation” articulated in this context?

Finally, it is necessary to analyze the temporary rejection of the concept of “reconciliation” after 1945, as it seemed unsuccessful and discredited. In which milieus were active efforts made to revive the concept? What ideas of the connection between past, present and future were associated with the concept of reconciliation? Is the goal of reconciliation to prepare the future by turning away from the past, or is it to face the past together to build the future? In view of these questions on the last transformation of the concept, the end of the period of study is chosen at the threshold of the 1960s.

The aim of this event is to bring together historians as well as researchers from the fields of law, political science, literature, art history, theology and the digital humanities in order to raise the question of the chronologies of “reconciliation” in the 19th and 20th centuries in an interdisciplinary debate. This call is also and especially aimed at young academics.

Proposals must be sent to Jürgen Finger (JFinger@dhi-paris.fr) by 30 April 2019. Please submit a title proposal, an abstract of 2,500 characters (in German, French or English) and a short bio-bibliographical note. The working languages of the conference are German, French and English.

Scientific Advisory Board: Joachim Berger, Anne Couderc, Corine Defrance, Jürgen Finger, Ulrich Pfeil

Programm

Kontakt

Jürgen Finger

8 rue du Parc royal
F-75003 Paris

jfinger@dhi-paris.fr

https://www.dhi-paris.fr/fileadmin/user_upload/DHI_Paris/07_Newsroom/2019/2019_Aac_CfP_Reconciliation.pdf