Die breite mediale Debatte der jüngsten Zeit über den sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche hat erkennbar werden lassen, über welch langen Zeitraum hinweg zerstörerische Formen der Macht- und Gewaltausübung auch in sich selbst als ‚aufgeklärt‘ verstehenden Gesellschaften ungehindert praktiziert werden konnten. Die Debatte hat aber auch gezeigt, welche Dynamik die Diskussion darüber zugunsten der Opfer erhalten kann, wenn es gelingt, mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen und eine Skandalisierung ihrer Erfahrungen in einer nahezu unbegrenzten, prinzipiell globalen Öffentlichkeit zu erreichen – auch wenn es noch zu früh ist, die konkreten Effekte der Debatte im Sinne der Opfer zu bilanzieren. Ziel der Tagung ist es, solchen und ähnlichen Entwicklungen und Verlaufsmustern nachzugehen, die sich auf bislang tabuisierte oder marginalisierte Formen der Ausübung von Gewalt beziehen. Gleichzeitig soll auch die Frage in Blick genommen werden, warum in vergleichbaren Fällen Skandalisierungen ausblieben oder keinen Erfolg hatten.
Bei der zu untersuchenden Gewalt soll es um die Anwendung oder Androhung physischer Gewalt gehen. Sofern andere Formen von Gewalt damit in einem unmittelbar fassbaren Zusammenhang stehen, etwa psychische Gewalt in geschlossenen Institutionen, sollen sie mitberücksichtigt werden, ohne damit den Fokus auf die physische Gewalt zu verändern. Es stellen sich mehrere Fragen: Welche Ereignisse und Akteure erzeugen mediale Aufmerksamkeit für solche Formen von Gewalt? Welche medialen und intermedialen Dynamiken sorgen anschließend dafür, dass eine intensive öffentliche Diskussion darüber entsteht? Welche Faktoren begrenzen ggf. deren Reichweite? Welche Rolle spielt dabei der spezifische epochale und situative Kontext? In welchem Maß gelingt es Opfern und Tätern, aber auch anderen Akteuren – darunter Vertretern aus Politik und Medien sowie ‚Experten‘ unterschiedlicher Wissensgebiete – die Diskussion für ihre jeweiligen Zwecke zu nutzen? Welche Bezüge zu anderen Debatten und Themenfeldern werden in der medialen Diskussion hergestellt? Welche Rezeption findet diese Diskussion über die nationalen Grenzen bzw. die eines Sprachraums hinaus? Welche konkreten Wirkungen, etwa in Form von Strafverfahren und Gesetzesänderungen hinterlässt sie? Wie wirkt sie sich darüber hinaus auf gesellschaftliche Sensibilitätsregime im Sinn von Sag- und Zeigbarkeitsregeln und damit verbundene Praktiken aus?
Für die Beantwortung dieser Fragen können die Konzepte der ‚moral panic‘ oder auch solche der Emotionsgeschichte, etwa des ‚emotional regime‘ hilfreich sein, ohne dass die Tagung auf einen bestimmten Ansatz festgelegt ist. Die historische Forschung hat sich mit ‚unsichtbarer‘ bzw. marginalisierter Gewalt bislang erst ansatzweise beschäftigt und deren Medialisierung noch nicht systematisch untersucht.
Als zu behandelnder Zeitraum ist das ‚lange‘ 20. Jahrhundert anvisiert, also der Zeitraum seit den Umbrüchen zur Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein spezifischer geographischer Fokus ist nicht beabsichtigt: Vorträge zu europäischen wie nicht-europäischen, kolonialen und post-kolonialen Themen sind ebenso erwünscht wie solche mit transnationaler Perspektive.
Mögliche Themen sind:
– Gewalt in geschlossenen Institutionen (z.B. Erziehungsheimen, psychiatrischen Anstalten, Altersheimen)
– Gewalt in der Schule
– Häusliche Gewalt/Gewalt in der Familie
– sexuelle Gewalt
– Gewalt gegen Minderheiten
– Gewalt gegen Obdachlose
– Gewalt gegen (Haus- und Nutz-)Tiere
Wir freuen uns über Abstracts in Deutsch oder Englisch für Vorträge (max. 20 min), die sich mit den aufgeführten oder verwandten Themenfeldern beschäftigen. Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 2.500 Zeichen) zusammen mit einem kurzen CV (max. 500 Zeichen) bis zum 30. Mai 2019 an: eva.klay@phil.uni-goettingen.de.
Die Benachrichtigung über die Annahme der Beiträge erfolgt bis spätestens 1. Juli 2019. Reise- und Aufenthaltskosten können für die Referentinnen und Referenten der Tagung übernommen werden. Eine Publikation der Ergebnisse in der Schriftenreihe des ZAKN im Wallstein-Verlag ist für 2020 geplant.