Die Europäische Union sei zu liberal, sagen viele ihrer Gegner, und daran ließe sich nichts ändern. Der euroskeptische bzw. -feindliche Diskurs, der zurzeit insbesondere im populistischen, sowohl im rechten als auch im linken Spektrum europaweit Aufwind bekommt, vermittelt den Eindruck, dass die europäischen Verträge an sich der Ausdruck einer wirtschaftlich und politisch liberalen Ausrichtung seien. Daraus folgern viele ihrer Gegner, dass die Länder und Bevölkerungen, die mit dieser vermeintlichen ideologischen Ausrichtung nicht einverstanden seien, keine andere Wahl hätten, als die EU zu verlassen.
Dabei ist der gegenwärtige Zustand der EU keine Selbstverständlichkeit, die europäische Einigung hätte anders verlaufen können. So zum Beispiel forderte Kurt Schumacher 1946 ein „sozialistisches Deutschland in einem sozialistischen Europa“ (1). In der Nachkriegszeit kämpfte die SPD zuerst gegen die Form, die der konservative Bundeskanzler Konrad Adenauer der europäischen Einigung gab. Seitdem haben manche der bekanntesten Intellektuellen in Deutschland und Frankreich (Habermas, Grass, Bourdieu, usw.) über grundlegende Reformen geschrieben, die für die EU unerlässlich seien.
Die geplante Tagung wird gegenwärtige und vergangene Konzepte für ein ‚anderes Europa‘ untersuchen; Vorschläge für eine europäische Gemeinschaft, die zum Beispiel demokratischer wäre oder eine andere politisch-ideologische Ausrichtung hätte: sozialistisch, eurokommunistisch, faschistisch, usw. Die Originalität der Tagung besteht also darin, dass sie nicht nur Gegnerschaft und Skepsis gegenüber der EU, sondern hauptsächlich Konzepte für eine alternative europäische Gemeinschaft behandeln wird.
Und das soll mit Hinblick auf die Langzeitperspektive geschehen. Europaskepsis, so erklärt Claudia Hiepel (2), habe es seit Anfang des europäischen Einigungswerkes gegeben. Die verschiedenen Akteure und Autoren der europäischen Einigung hatten von Anfang an verschiedene Ansichten darüber, wie dieser Prozess vor sich gehen und wie im Endeffekt die europäische Gemeinschaft aussehen und funktionieren sollte. Und sogar vor der europäischen Einigung gab es schon spezifische Europakonzepte, so zum Beispiel bei den Paneuropäern der Zwanziger Jahre. Der Österreicher Karl Anton Rohan etwa bewunderte den italienischen Faschismus, er „imaginierte Vereinigte Staaten von Europa, in denen die parlamentarische Demokratie, der Kapitalismus und der Bolschewismus durch eine ständestaatliche, führerorientierte Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des für ihn exemplarischen italienischen Faschismus ersetzt sein würden“ (3).
Arbeitssprachen werden Französisch, Englisch und Deutsch sein.
1) SCHUMACHER Kurt, Neue Zeitung, 1946: „Die deutsche Sozialdemokratie [...] will ein sozialistisches Deutschland in einem sozialistischen Europa.“ Zit. n.: LOTH Wilfried, „Von Heidelberg nach Godesberg: Europa-Konzepte der deutschen Sozialdemokratie zwischen Utopie und Politik“, in: CLEMENS Gabriele, KRÜGER Peter (Hrsg.), Nation und Europa: Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert, Festschrift für Peter Krüger zum 65. Geburtstag, Stuttgart, Steiner, 2001, S. 203-219, hier S. 209.
2) HIEPEL Claudia, Rezension zu: Wassenberg, Birte; Clavert, Frédéric; Hamman, Philippe (Hrsg.): Contre l’Europe?. Anti-européisme, euroscepticisme et alter-européisme dans la construction européenne de 1945 à nos jours (Volume 1): les concepts. Stuttgart 2010 , in: H-Soz-Kult, 15.06.2012,
<www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-17435>.
3) PAUL Ina Ulrike, «Die alte Generation hat Europa verwüstet und zerstückelt: die neue soll es einigen und schaffen!» – Die Mission der «jungen Generation» nach 1918 bei R. N. Coudenhove-Kalergi und Karl Anton Rohan, [i.E.]
4) Guido Thiemeyer erklärt z.B., dass die Gesellschaften Europas das Demokratiedefizit der europäischen Gemeinschaften bis zum Ende der 80er Jahre hingenommen haben; umgekehrt schwinde dieser Konsens über die Bedeutung der europäischen Gemeinschaft seitdem immer mehr. THIEMEYER Guido, «Das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven», in : Themenportal Europäische Geschichte, 2008, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=292>.