Die Tagung geht aus von dem Befund, dass es zwar eine Reihe von erprobten Ansätzen, Konzepten sowie didaktischen Vorschlägen gibt, das Literarisch-Ästhetische in den Kontexten von DaZ fruchtbar zu machen (siehe z.B. Belke/Belke 2006; Belke 2011; Schweiger 2014; Zierau/Kofer 2015; Gaul/Nagel 2016; Eder/Dirim 2017; Rösch 2017; DaZ-Sekundarstufe 3/2017; Steinbrenner 2018; Wieler 2018; Wildemann 2018; Moraitis 2018), diese aufs Ganze gesehen in der Praxis aber einen nur verhältnismäßig geringen Einfluss gewonnen haben. Dies liegt – so die These – ganz wesentlich an den sprach-, gesellschafts- und integrationspolitischen Rahmenbedingungen des Deutsch-als-Zweitsprache-Unterrichts, die sich an einem instrumentellen, auf Eindeutigkeit und Testbarkeit ausgerichteten Sprach- und Kulturverständnis orientieren (siehe z.B. das Rahmencurriculum für einen bundesweiten Integrationskurs, Goethe-Institut 2016). Literarischer Textualität und ästhetischer Medialität, die, anstatt Bedeutungen zu fixieren, Reflexionsräume zu öffnen suchen (Hofmann 2006), und nur „schwer messbare Kompetenzen“ (Frederking 2008) vermitteln, kann im Kontext eines solchen Sprach- und Kulturverständnisses kein systematischer Stellenwert im Prozess des Erwerbs sprachlich-kultureller Handlungsfähigkeit zukommen.
Wenn allerdings zutrifft, dass gelingende Integration Fähigkeiten zum „Umgang mit Pluralität, mit Ambiguität, mit Vielfältigkeit und Vieldeutigkeiten“ (Foroutan 2018) erfordert, stellt sich die Frage nach der Funktionalität literarischer Textualität und ästhetischer Medialität im Kontext DaZ neu. Denn literarische Texte und ästhetische Medien vermögen, entsprechende methodisch-didaktische Konzepte vorausgesetzt, sprachliche und kulturelle Komplexität und Mehrdeutigkeit zugänglich zu machen (Kramsch 2006), und zwar schon auf Grundstufenniveau. Außerdem können Lernende mit ihrer Hilfe das „full meaning making potential of language“ (ebd.) entdecken und sich auf diese Weise eine wichtige Ressource für den Prozess ihrer sprachlichen Ermächtigung erschließen.
Zu diskutieren ist allerdings, inwieweit eine solche Funktionalisierung literarischer Textualität und ästhetischer Medialität mit dem den DaZ-Unterricht weithin bestimmenden Sprach- und Kulturverständnis vereinbar ist beziehungsweise – weitergehend – ob sie nicht sogar ein anderes Verständnis von Integration impliziert als das derzeit stillschweigend zugrundegelegte einer Assimilation an eine als normativ gedachte (National-)Sprache und (Leit-)Kultur (vgl. Dirim 2010; Czollek 2018): Eines, das diese vielmehr als kreativ-poetische Mitgestaltung einer „vielheitlichen Gesellschaft“ (Terkessidis 2017) interpretiert.
Der Ansatz der Tagung besteht mithin darin, die Funktionen, die Potenziale und den Stellenwert literarischer Textualität und ästhetischer Medialität in DaZ-Kontexten vor dem Hintergrund der und mit Blick auf die sprach-, gesellschafts- und integrationspolitischen Rahmenbedingungen, Vorgaben und Zielsetzungen der (Zweit-)Sprach(en)vermittlung zu diskutieren; und damit den Umgang mit Literatur und ästhetischen Medien in DaZ in einem Spannungsfeld zu verorten, in dem es um die Grundfragen der Orientierung und Gestaltung der (Zweit-)Sprach(en)vermittlung in den deutschsprachigen Einwanderungsgesellschaften geht.
Literatur:
Belke, Eva; Belke, Gerlind (2006): Das Sprachspiel als Grundlage institutioneller Sprachvermitt-lung: Ein psycholinguistisch fundiertes Konzept für den Zweitspracherwerb. In: Peschel C.; Becker, T. (Hrsg.): Gesteuerter und ungesteuerter Grammatikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 174-200.
Belke, Gerlind (2011): Literarische Sprachspiele als Mittel des Spracherwerbs. In: Fremdsprache Deutsch 44, 15-21.
Czollek, Max (2018): Desintegriert Euch! München: Hanser.
DaZ-Sekundarstufe 3/2017: Literatur und Sprache.
Dirim, İnci (2010): „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul u.a. (Hrsg.): Spannungsverhältnisse. Assimiliations-diskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster: Waxmann, 91- 114
Eder, Ulrike; Dirim, İnci (Hrsg.) (2017): Lesen und Deutsch lernen. Wege der Förderung früher Literalität durch Kinderliteratur. Wien: Praesens.
Foroutan, Naika (2018): Neue Achse der politischen Unterschiede. Marcus Pindur im Gespräch mit Naika Foroutan. In: Tacheles, 19. 05. 2018. https://www.deutschlandfunkkultur.de/integrationsdebatte-neue-achse-der-politischen-unterschiede.990.de.html?dram:article_id=418329.
Frederking, Volker (2008): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Gaul, Magnus; Nagel, Eva (2016): Sprache lernen durch Singen, Bewegung und Tanz. Kassel: Bosse.
Goethe-Institut (2016): Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. München.
Hofmann, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. München: Fink.
Kramsch, Claire (2006): From Communicative Competence Competence to Symbolic Competence. In: The Modern Language Journal 90/2, 249-252.
Moraitis, Anastasia u.a. (Hrsg.) (2018): Sprachförderung durch kulturelles und ästhetisches Lernen. Sprachbildende Konzepte für die Lehrerausbildung. Münster: Waxmann (= Sprach-Vermittlungen Band 20).
Rösch, Heidi (2017): Literaturunterricht und sprachliche Bildung. In: Beate Lütke u.a. (Hrsg.): Fachintegrierte Sprachbildung: Forschung, Theoriebildung und Konzepte für die Unterrichtspraxis. Boston, 151-168.
Schweiger, Hannes (2014): Begegnung mit Vielfalt. Sprachliches und kulturelles Lernen mit Literatur im Fremd- und Zweitsprachenunterricht. In: Deutsch als Fremdsprache 51/2, 76-85.
Steinbrenner, Marcus (2018): Sprachliche Bildung, Bildungssprache und die Sprachlichkeit der Literatur. In: Leseräume 4, 7–21.
Terkessidis, Mark (2017): Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. Stuttgart: Reclam.
Wieler, Petra (2018): Sprachlich-ästhetische Literaturerfahrung als Beitrag zur Identitäts- und Sprachentwicklung jüngerer Kinder. In: Leseräume 4, 35-48.
Wildemann, Anja (2018): Alltagssprache – Lyrische Sprache – Bildungssprache: Zur Bedeutung des Lyrischen für die Entwicklung von (Bildungs-)Sprachlichkeit. Leseräume 4, 22–34.
Zierau, Cornelia; Kofer, Martina (2015): Literatur in der Sprachförderung – Überlegungen zu einer Neuorientierung im Sprach- und Literaturunterricht am Beispiel von Wolfgang Herrendorfs Adoleszenzromen „Tschick“. In: Deutsch als Fremdsprache 52/1, 3-13.