Diversität statt Urbanität: Orte jüdischen Lebens zwischen Zentren und Peripherie (15. bis 19. Jahrhundert)

Diversität statt Urbanität: Orte jüdischen Lebens zwischen Zentren und Peripherie (15. bis 19. Jahrhundert)

Organizer
Interdisziplinäres Forum „Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit“ und Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Venue
Katholische Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Location
Stuttgart
Country
Germany
From - Until
07.02.2020 - 09.02.2020
Deadline
04.11.2019
By
Dr. Rotraud Ries

Die klassische Meistererzählung zur Geschichte des aschkenasischen Judentums in Mitteleuropa nach den Vertreibungen aus den Städten besagt, dass einer Zeit relativer Blüte im Mittelalter eine Epoche des Niedergangs folgte. Die mittelalterliche Ära eines urbanen Judentums sei durch die Zeit des Landjudentums abgelöst worden. Nur wenige große städtische Gemeinden wie Frankfurt a.M. und Prag galten als Ausnahmen von dieser „Regel“. Eine jüdische Neuzeit sei erst in der Zeit der Aufklärung und des beginnenden Emanzipationsdiskurses im 18. Jahrhundert angebrochen.

Erst seit den späten 1980er Jahren gewann eine jüdische Frühe Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) in der Forschung eigene Konturen, beginnend mit Studien zum ländlichen Judentum, gefolgt von solchen zu städtischen Gemeinden wie Frankfurt a.M., Worms oder Friedberg. Forscher und Forscherinnen befassten sich mit den Landjuden und den Hofjuden als eigenen, vermeintlich repräsentativen Gruppen der jüdischen Gesellschaft oder machten auf die kontinuierlich wirksame Bedeutung von Kaiser und Reich für die jüdische Bevölkerung aufmerksam. Nur das Paradigma vom städtischen jüdischen Mittelalter und der ländlich geprägten Frühen Neuzeit hielt sich hartnäckig – nicht zuletzt, weil ihm eine höchst einseitige Gleichsetzung von „Stadt“ mit Reichsstadt bzw. mindestens die systematische Ausblendung der Kleinstädte zugrunde liegt.

Auch die weit verbreitete Annahme, dass jüdisches Leben im Alten Reich mit dem im Süden und in der Mitte des deutschsprachigen Raumes gleichzusetzen sei, erwies sich als hemmend. Denn außerhalb dieses „klassischen“, quantitativ zweifellos bedeutsamen Siedlungsraumes zeigt sich, dass das Paradigma vom Landjudentum als zentraler Lebensform relativiert und differenziert werden muss. Und auch im Süden und Südwesten existierte ländliches und städtisches jüdisches Leben nebeneinander und aufeinander bezogen.

Dies war eines der Ergebnisse der Tagung des Forums, die im Jahr 2019 unter dem pointierenden Titel „Die Stadt als Ort jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit“ stattfand. Die Vorträge stellten Beispiele wie die bekannten städtischen Großgemeinden Frankfurt a.M. und Worms vor, die Sonderfälle des Marktes Fürth und der Reichstagsstadt Regensburg, landesherrliche Residenz- und Kleinstädte. Geographisch konzentrierten sie sich – mit Ausnahme der Markgrafschaft Brandenburg – auf den süddeutsch-österreichischen Raum. (Siehe in Kürze den Tagungsbericht unter www.forum-juedische-geschichte.de.)

Schnell wurde deutlich, dass die Tagung nur ein Anfang sein konnte, weshalb die Teilnehmer für eine Fortsetzung des Themas votierten. So soll 2020 nicht nur ein größerer geographischer Raum jüdischer Siedlung in den Fokus genommen werden, sondern auch zentrale Begriffe wie Urbanität und Zentralität bestimmt und in ihrem jeweiligen Verhältnis zu „Stadt“ als (jüdischem) Raum betrachtet werden.

Dem Titel der Tagung 2020 liegt die These zugrunde, dass die Stadt als Ort jüdischen Lebens nicht einfach durch ländliche Siedlungsformen abgelöst wurde, sondern dass einer auf städtische Zentren orientierten jüdischen Lebensform des Mittelalters (inkl. eines Netzwerks ländlicher, auf städtische Zentralorte fokussierter Siedlungen) eine große Diversität folgte: Es gab klein- und kleinststädtische Siedlungsformen ebenso wie groß-, mittel- und v.a. vorstädtische, aber nur selten reichsstädtische, daneben solche in kleinen und kleinsten Dörfern. Die Entfernungen zur nächsten Stadt variierten stark. Bedingt war all dies in der Regel durch Politik und Normen der jeweiligen Herrschaften, Städte und Gemeinden. Urbanität und die Merkmale jüdischer Zentralität von Gemeinden – die Ausstattung mit all dem, was für ein jüdisches Leben erforderlich ist, von Betraum/Synagoge über Mikwe, Bildungseinrichtungen und Friedhof bis hin zu rabbinischen Gerichtsinstanzen – deckten sich nicht mehr. Diese und andere Funktionen wurden dort, wo es keine urbanen jüdischen Zentren mehr gab und mit großen regionalen Unterschieden aufgespalten, dezentralisiert und regional organisiert. Weitgehend unerforscht ist dabei die Frage des Übergangs oder die Modalitäten der Neugründung jüdischer Institutionen zwischen den Vertreibungen und der allmählichen Neukonsolidierung nach der Mitte des 17. Jahrhunderts.

Die Vielfalt jüdischer Lebens- und Organisationsformen an diversen Standorten zwischen Dorf und Metropole und die Ablösungsprozesse religiös-kultischer Zentren von örtlicher Urbanität und Zentralität möchten wir im Rahmen der Tagung beleuchten. Und dabei auch danach fragen, welche Bedeutung die Lebensumstände in diesen Orten für die jüdische Bevölkerung und ihre Kultur hatten, wie sie diese gestalteten und wie weit und wie lang die Erinnerung an eine urban geprägte jüdische Existenz die Identität der Menschen bestimmte. Dabei sind explizit Studien auch zu jüdischen Siedlungsregionen außerhalb des süddeutsch-österreichischen Raumes erwünscht. Hilfreich wird es sein, jeweils die beiden Phasen der Frühen Neuzeit vor und nach etwa 1650 zu differenzieren.

Folgende Themen sind denkbar, auch weitere Ideen selbstverständlich willkommen. Die Vorträge können sich auf einzelne Beispiele beziehen. Aber auch Überblicksdarstellungen und Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen sind sehr erwünscht:

- Städtetypen jenseits der Reichsstädte als Zeichen der Diversität: Landstädte, Kleinstädte, Märkte, Residenzstädte, Hafenstädte, Messestädte
- Die Phase des Übergangs zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert, Übergangsorte und -zentren und die Frage nach deren urbanen Qualitäten (verschiedene Regionen)
- Fortbestand und Neuentstehung städtischer jüdischer Siedlung und Infrastruktur in der FNZ (z.B. Mannheim, Hannover, Hamburg, Halberstadt etc.; Frankfurt und Bamberg wurden bereits 2019 thematisiert)
- „Vor“städte, d.h. Orte vor den Toren von Juden nicht bewohnbarer Städte, als semi-städtische Ersatzzentren und Siedlungsräume, ihre Kriterien und Qualitäten (Raum Augsburg, Raum Nürnberg, Raum Würzburg, Hannover etc.)
- Aufenthalt von Juden in Städten ohne jüdische Bewohner (Straßburg, Köln, Leipzig etc.)
- Religiöse und säkulare Kriterien für Zentralität (jüdische Infrastruktur, wirtschaftliche Bedeutung, Nähe zu Kaiser, Reich oder einflussreichen Herrschaftsträgern)
- Jüdische Zentren an der Peripherie – Zentralität ohne Urbanität? (wie Günzburg, Ichenhausen, Burgpreppach)
- Die Stadt als politisch kontaminiertes Terrain – der negative Einfluss von Konflikten zwischen Stadt und Stadtherren auf die Siedlungschancen der Juden
- Vergleich urbaner Qualitäten jüdischer Zentren nach Regionen (Süddeutschland – andere Regionen)

Für die Vorträge ist ein Zeitrahmen von 20 bis 25 Minuten vorgesehen, gefolgt von einer etwa 20-minütigen Diskussion. Angesichts der Breite des Themas soll diesem Austausch ein besonders großes Gewicht zukommen.

Das „Interdisziplinäre Forum Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit“ wird seit dem Jahr 2000 durch einen Arbeitskreis aus HistorikerInnen, JudaistInnen und VertreterInnen weiterer Fächer veranstaltet. Im Mittelpunkt der jährlichen Tagungen steht die Diskussion aktueller Fragestellungen und Forschungsvorhaben. Das „Forum“ widmet sich Themen vom späten Mittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert und ist offen für alle, die sich wissenschaftlich mit dieser Epoche der jüdischen Geschichte und Kultur befassen.

Die Arbeitstagung findet von Freitag bis Sonntag, 07.-09. Februar 2020 in Kooperation mit dem Referat Geschichte der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungszentrum Hohenheim statt. Wie bei Arbeitskreisen üblich, tragen die Teilnehmenden, auch Referentinnen und Referenten, ihre Kosten selber. Im Einzelfall ist jedoch ein Zuschuss durch die Akademie oder die GEGJ möglich.

Bitte senden Sie Ihren Vorschlag für einen Vortrag mit einer Kurzbeschreibung bis zum 04. November 2019 an Rotraud Ries (ries@forum-juedische-geschichte.de) oder Ursula Reuter (u.reuter@netcologne.de). Wir freuen uns auf Ihre Ideen.

Programm

Contact (announcement)

Dr. Rotraud Ries
Johanna-Stahl-Zentrum, Würzburg
Tel. 0931-18275

oder

Dr. Ursula Reuter
Bibliothek Germania Judaica, Köln
Tel. 0221-232349

http://www.forum-juedische-geschichte.de
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