Um sich als Herrschaft durchzusetzen, muss jedwede Form der Macht zeigen können, dass sie legitim ist. Die beste Legitimation ist jedoch, allen ihre Evidenz klarzumachen. Die verschiedenen Werke, die sich auf die Mechanismen der Macht beziehen, zeigen alle in unterschiedlichem Maße die notwendige Beteiligung der Beherrschten. Sie akzeptieren bis zu einem gewissen Grad die Herrschaft oder tragen sogar zu ihrer Erhaltung und Reproduktion bei.
Welche Mechanismen greifen, damit eine solche Situation eintritt? Tatsächlich sind in der Praxis die Manipulation der Herrschenden und deren Akzeptanz durch die Beherrschten Teil von Prozessen, die nur schwer offengelegt werden können, da sie in nicht unerheblichem Maße psychologisch und symbolisch bedingt sind und somit größtenteils unergründlich bleiben.
Bourdieu schreibt, dass das Hauptmerkmal der symbolischen Herrschaft ihre Doppelzüngigkeit sei, d.h. die Tatsache, dass sie anerkannt wird, weil sie nicht offensichtlich ist. Deshalb basiert ihre Stärke und Anerkennung auf dem hinterlassenen Eindruck von Natürlichkeit und Unveränderlichkeit. Wenn sie effektiv sein will, kann eine soziale und politische Ordnung kein Interesse daran haben, von den Kämpfen um ihre Aushandlung zwischen verschiedenen Kräften im Zuge ihrer Entstehung zu erzählen, sondern im Gegenteil die Leichtigkeit, die Offensichtlichkeit ihrer Auferlegung zu zeigen (und nicht im Einzelnen nachzuweisen), mit anderen Worten, ihre Existenz als natürlich erscheinen zu lassen. Genau wie die symbolische Herrschaft artikuliert die Natürlichkeit (oder die Wirkung) der Natürlichkeit ein bestimmtes, für alle sichtbares Produkt und den Mechanismus, den sie produziert, d.h. die Naturalisierung, deren Prozess an sich jedoch verborgen bleibt.
Wenngleich die Naturalisierung (d.h. die Essenzialisierung) menschlicher und sozialer Beziehungen heute einen anderen Rückgriff auf die Lebenswissenschaften erfordert, ein Trend, der als wissenschaftsgläubig bezeichnet werden kann, können wir beobachten, dass diese Form der Erklärung der Sozialpolitik über verschiedene Zeiträume und an verschiedenen Orten auf der Welt, lange vor dem Aufkommen technisch-wissenschaftlicher Diskurse, verwendet wurde.
Es wäre natürlich unmöglich zu definieren, wann das Konzept der „Natürlichkeit“ genau entstanden ist, ist es doch in einer langen Geschichte menschlichen Denkens verwurzelt, die sich durch Kontinuitäten, Brüche, Verdrängung und Neuerungen kennzeichnet.
Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (1300-1800) war die Verwendung von „Natürlichkeit“ jedoch konstant. Das Konzept weist einige Besonderheiten auf, die insbesondere mit dem Kontext der Entstehung und Bestätigung europäischer dynastischer Staaten, ihrer Institutionen, ihrer sozioökonomischen Organisationsweisen und ihrer Regierungstechniken (Armee-Organisation, regelmäßige Steuern, usw.) zusammenhängen. Darüber hinaus verändern sich die Modalitäten des Umgangs mit der Natürlichkeit: ursprünglich abstrakt und auf die Reflexion von Klerikern beschränkt, führen sie danach zu konkreten Diskursen und Praktiken in Bezug auf die Regierung von Menschen und die Praxis der Politik und tragen dazu bei, dass sich das Politische in dieser bisher von der „einschließenden Institution“ („institution englobante“, Le Goff) bzw. von der mittelalterlichen Kirche geprägten Gesellschaft als ein eigenständiges Feld zu formieren beginnt.
In der Tat begünstigt die scholastische Reflexion und (Neu-)Formulierung des Begriffs der „Natur“ (auf deren Basis die „Natürlichkeit“ gebaut wird) seit dem 13. Jahrhundert einen „naturalisierenden“ Umgang mit der Macht, insbesondere durch die alten theoretischen Schriften (aristotelisch, augustinisch, ciceronianisch) über Natur und Politik und deren Verbreitung – im Lateinischen und noch mehr in Volkssprachen – an europäischen Fürsten- und Königshöfen. Zwar kann der aristotelische Zugang zur "Natürlichkeit" politischer Gemeinschaften durchaus als Ursprung demokratischer Herrschaftsformen verstanden werden, zumeist diente er aber der Rechtfertigung von Zwang und Machtausübung, vor allem wenn er mit ergänzenden Interpretationen des Konzepts verbunden ist (Augustinus: Institutionen kompensieren die durch den Niedergang [des römischen Imperiums] entstandene Unordnung, d.h. den natürlichen Zustand der Menschheit; Cicero: Der Mensch weigert sich von Natur aus, sich politisch zusammenzuschließen, daher muss er durch die Vernunft und die Rhetorik, die in gewisser Weise sein verlängerter Arm sind, dazu gezwungen werden). Ab dem 17. Jahrhundert nahm der Gegensatz zwischen Natur und sozialer Organisation mit der Thematisierung des Naturzustandes der menschlichen Gesellschaft eine neue Dynamik an, was zur Betonung der Notwendigkeit einer sozialen Organisation (Hobbes, Locke) und später zur Verurteilung der Künstlichkeit der Herrschaft mit Rousseau und der Aufklärung führte.
Diese Reflexion über die Natürlichkeit bezieht sich ausdrücklich auf die Beziehung des Menschen zur Natur. Wenngleich sie oft vorschnell als Gegensatz zur Kultur wahrgenommen wird, ist Natur jedoch weder etwas Urwüchsiges noch etwas Überzeitliches. Das Verständnis der Nutzungsmöglichkeiten der Natürlichkeit wird es uns somit ermöglichen, den Natur-Kultur-Dualismus besser zu verstehen, seine Hegemonie in unserem Verständnis des Sozialen besser zu hinterfragen und ein tieferes Verständnis der Ontologien und Kosmologien mittelalterlicher Gesellschaften anzustreben, die sich genau wie nicht-westliche Gesellschaften stark von der unsrigen unterscheiden, auch wenn sie dazu beigetragen haben sie zu gestalten.
In der Absicht, den Graben zwischen einem Mittelalter, das oft zu stark als von Ritualen und Symbolen geprägt betrachtet wird, und einer Neuzeit, die von einem plötzlichen Aufkommen der Realpolitik nach 1648 gekennzeichnet gewesen sein soll, zu überwinden, wird es unser Bestreben sein, den Fokus auf Kontinuitäten zu legen, zumal diese aufgrund eines immer noch stark teleologischen Ansatzes der politischen Geschichte oftmals verkannt werden, ohne dabei jedoch Brüche und Diskontinuitäten außenvorzulassen.
Trotz des begrenzten Untersuchungszeitraums könnten durch einen solchen epochenübergreifenden Ansatz verschiedene Erscheinungs- und Nutzungsformen des Konzeptes der „Natürlichkeit“ und die jeweiligen zugrundeliegenden Mechanismen offengelegt und analysiert werden. Sie im Einzelnen zu identifizieren, ist aber allenfalls im Rahmen einer vergleichenden und interdisziplinär angelegten Auseinandersetzung möglich, die in Bezug auf derartige Fragen bis zum jetzigen Zeitpunkt indes noch nicht versucht wurde.
Ziel dieser beiden Studientage (Universität Luxemburg, 28.-29. November 2019; Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, 2.-3. April 2020) ist es daher, sich dem Konzept der „Natürlichkeit“ aus einer diachronen (1300-1800), interdisziplinären und vergleichenden Perspektive auf der Ebene der europäischen dynastischen Staaten zu nähern, um so ein differenziertes und zugleich möglichst flächendeckendes Bild zeichnen zu können. Im Mittelpunkt der Analyse stehen sowohl das Funktionieren der Macht auf den verschiedenen Ebenen (Gerichte, Kanzleien, Städte, repräsentative Versammlungen usw.), alternative Experimente, insbesondere im religiösen Bereich (Papsttum, Religionsgemeinschaften, Räte), als auch Diskurse, die eine Weltsicht und ein Machtkonzept vermitteln (Religionsverträge, Politik, höfliche Literatur), um einen differenzierten Überblick über die Nutzung von „Naturalichkeit“ zu geben.
Beide Studientage sind gleichermaßen als eine Fortsetzung des Projekts FNR/CORE (Luxembourg) LUXDYNAST, Europe and the House of Luxembourg. Governance, Delegation and Participation between Region and Empire (1308-1437) (2015-2018) über die Herrschaftsbildung der Luxemburger zwischen 1308 und 1437 in einer Vielzahl von unterschiedlich strukturierten Territorien sein, welche aufseiten der Herrschenden ein geschicktes Gleichgewicht zwischen globalem Denken und lokalem Handeln und der Umsetzung angepasster Strategien erfordern, sowie des Projekts GREMIA. Grey Eminences in Action: Personal Structures of Informal Decision-Making at Late Medieval Courts (2019-2022), in dessen Rahmen Funktionsweisen informeller Machtausübung im spätmittelalterlichen Europa und deren Verhältnis zu Ideologien untersucht werden.