"... ja, zu welchem Ziel eigentlich?" – Herwig Blankertz' "Geschichte der Pädagogik" wiedergelesen

"... ja, zu welchem Ziel eigentlich?" – Herwig Blankertz' "Geschichte der Pädagogik" wiedergelesen

Veranstalter
Dr. Tim Zumhof, Dr. Andreas Oberdorf (Arbeitsgruppe Historische Bildungsforschung, Institut für Erziehungswissenschaft, WWU Münster); in Kooperation mit der BBF - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF, Berlin
Veranstaltungsort
Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Warschauer Straße 34-38, 10243 Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.03.2021 - 26.03.2021
Deadline
30.09.2020
Von
Oberdorf, Andreas

"Die alte und etwas betuliche, zugleich stark national, praxis- und professionsfixierte Geschichte der Pädagogik hat sich erheblich verändert, sie ist zur historischen Bildungsforschung geworden (Tenorth 2018, S. 156). Eine Konsequenz dieser Weiterentwicklung im Verlauf des 20. Jahrhunderts bestand darin, dass die bis dahin in der Lehrerbildung verankerten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Pädagogik ihren Rang als Standardliteratur verloren (Oelkers 1999) und – nach einem kurzzeitig rückläufigen Interesse an historisch-pädagogischer Forschung (Tenorth 1975, S. 135) – durch sozialgeschichtliche Lehrbücher abgelöst wurden (Müller 1981, Herrlitz/Hopf/Titze 1981, Lundgreen 1980). In dieser Zeit begann sich, so jedenfalls schätzt es Manfred Heinemann (1985, S. 251) ein, die "Erziehungsgeschichte als eigenständige Disziplin" zu etablieren. Zur gleichen Zeit legte Herwig Blankertz (1927-1983) eine Reihe von Studienbriefen für die Fernuniversität Hagen vor, die parallel hierzu gebündelt unter dem Titel "Geschichte der Pädagogik" (1982) im Verlag seines Sohnes erschienen. Anders als ihre Vorgängerinnen, bietet Blankertz' Geschichte der Pädagogik einen Ansatz, der sich als "ideen- und sozialgeschichtlich integrierend" (Erben 2013, S. 76) bezeichnen lässt. Blankertz verbindet hierbei, wie Dieter Lenzen (1989, S. 215) bemerkte, theoriegeleitete Geschichtsschreibung mit narrativer Historiographie. In seinem Aufsatz "Geschichte der Pädagogik und Narrativität" lobte Blankertz die neue sozialgeschichtliche Forschung in der Erziehungswissenschaft, bezeichnete Müllers wegweisende Arbeit Sozialstruktur und Schulsystem (1977) jedoch als "unkommunikatives Buch" (1983, S. 3) und sah im Lehrbuch von Herrlitz, Hopf und Titze eher eine Einführung in die Schulgeschichtsforschung, nicht aber in die Schulgeschichte. Nach der Lektüre wisse ein heutiger Leser, so Blankertz, "daß er historisch nichts weiß, daß er viele dickleibige Werke studieren sollte, müßte, wenn... ja, zu welchem Ziel eigentlich?" (1983, S. 3).

Für den Schüler Erich Wenigers diente "Erziehungsgeschichte" und "historische Forschung" stets der "gegenwartsorientierte[n] Aufklärung und reflexive[n] Anleitung erzieherischen Handelns" (Tenorth 1976, S. 499). Wie Klaus Mollenhauer und Wolfgang Klafki stand Blankertz für eine Kritische Erziehungswissenschaft, die eine Orientierung an der "unbedingten Zwecksetzung" von Erziehung, nämlich der "Mündigkeit des Menschen" (1983, S. 9), einforderte. Als gegenwärtiger Leser kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass Blankertz’ "Geschichte der Pädagogik" nicht nur der Freilegung der "Eigenstruktur der Erziehung" (1982, S. 306) diente, sondern zugleich den Weg weisen sollte auf die von ihm Anfang der 1970er Jahre mitbegründeten Kollegstufe Nordrhein-Westfalens und die hierin umzusetzende Vermittlung von allgemeiner und beruflicher Bildung (Musolff/Hellekamps 2006, S. 297). Blankertz' Lehrbuch zur "Geschichte der Pädagogik" lässt sich daher nicht nur disziplingeschichtlich in einem besonderen Übergang – in der Verabschiedung der alten Universitätspädagogen mit ihrer geisteswissenschaftlichen Pädagogik und einer Etablierung empirischer, sozialwissenschaftlicher und kritischer Ansätze –, sondern ebenso in einer bestimmten bildungspolitischen Reformära der langen sechziger Jahre verorten.

Im Workshop möchten wir uns daher mit der Rekonstruktion und Analyse historischer Entstehungs- und Wirkungskontexte dieses 'klassischen' Lehrbuchs zur "Geschichte der Pädagogik" befassen, Blankertz' historiographisches Arbeiten untersuchen, einzelne Kapitel vor dem Hintergrund gegenwärtiger historischer Bildungsforschung kritisch beleuchten und exemplarisch an Blankertz' Lehrbuch über die Grenzen und Möglichkeiten historischen Lernens in erziehungswissenschaftlichen Studienkontexten nachdenken. Wir wünschen uns demnach Beiträge, die sich im weitesten Sinne mit folgenden Fragen befassen:

- Unter welchen historischen Bedingungen verfasste Blankertz seine "Geschichte der Pädagogik" (Disziplingeschichte, Werkkontext, Bildungspolitik)?

- Wie 'erzählt' Blankertz die Geschichte der Pädagogik? Wie vermittelt er sozial- und ideengeschichtliche Aspekte und welche Rolle spielt hierbei Narrativität?

- Ist Blankertz' Darstellung im Lichte der gegenwärtigen Befunde und Debatten historischer Bildungsforschung noch angemessen? Nimmt er Verengungen in der Auswahl von Themen, Aspekten oder Quellen vor, bieten sich neue Lesarten an, die Blankertz ausblendet oder übersieht?

- Welche Möglichkeiten und Grenzen historischen Lernens in erziehungswissenschaftlichen Kontexten (Unterricht, Ausbildung, Studium) zeigen sich im Umgang mit Blankertz' Geschichte der Pädagogik?

Abstracts (max. 600 Wörter) für einen 30minütigen Vortrag sowie eine kurze biographische Notiz werden erbeten via E-Mail an tim.zumhof@uni-muenster.de bis zum 30. September 2020, eine Rückmeldung erfolgt anschließend binnen zwei Wochen.

Auch Beiträge aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs sind ausdrücklich willkommen! Nachwuchswissenschaftler*innen können zudem Reisestipendien bei der Sektion Historische Bildungsforschung der DGfE beantragen. Eine Publikation der Beiträge wird angestrebt.

Literatur

- Blankertz, H. (1983). Geschichte der Pädagogik und Narrativität. In: Zeitschrift für Pädagogik 29, S. 1–9.
- Blankertz, H. (1982). Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora.
- Erben, M. (2013). Begriffswandel als Sprachhandlung, Der Beitrag Quentin Skinners zur Methodologie und Funktionsbestimmung der pädagogischen Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
- Heinemann, M. (1985). Historische Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945. In: Die Historische Pädagogik in Europa und den USA. Berichte über die historische Bildungsforschung, Teil 2. Hrsg. von M. Heinemann. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 243–263.
- Herrlitz, H.-G. / Hopf, W. /Titze, H. (1981). Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Königstein i.T.: Athenäum.
- Lenzen, D. (1989). Narrative Historiographie der Pädagogik bei Herwig Blankertz. In: Bildung unter dem Anspruch von Aufklärung. Zur Pädagogik von Herwig Blankertz. Hrsg. von Günter Kutscha. Weinheim und Basel: Beltz. S. 215–236.
- Lundgreen, P. (1980). Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil 1: 1770–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Müller, D. K. (1981). Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert. Gekürzte Studienausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Müller, D. K. (1977). Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Musolff, H.-U./ Hellekamps, S. (2006). Geschichte des pädagogischen Denkens. München: Oldenbourg.
- Oelkers, J. (1999). Geschichte der Pädagogik und ihre Probleme. In: Zeitschrift für Pädagogik 45, Heft 4. S. 461–483.
- Tenorth, H.-E. (2018). Historische Bildungsforschung. In: Handbuch Bildungsforschung. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Hrsg. von R. Tippelt und B. Schmidt-Hertha. Berlin: Springer VS. S. 155–185.
- Tenorth, H.-E. (1976). Geschichte und Traditionalisierung. Zur Wissenschaftsgeschichte der Historiographie in der Geiseswissenschaftlichen Pädagogik. In: Bildung und Erziehung 29. S. 494–508.
- Tenorth, H.-E. (1975). Historische Forschung in der Erziehungswissenschaft und historisch-systematische Pädagogik. In: Geschichte der Pädagogik und systematische Erziehungswissenschaft. Hrsg. von W. Böhm und J. Schriewer. Stuttgart: Klett. S. 135–156.

Programm

Kontakt

Tim Zumhof

Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Erziehungswissenschaft
Georgskommende 26, 48143 Münster
0251/83-24188

tim.zumhof@uni-muenster.de

https://www.uni-muenster.de/EW/ife/arbeitsbereiche/hist_bildf/hist_bildungsf.html