Die NS-Prozesse der 1950er und 2000er-2010er Jahre: Gerichtsberichterstattung und Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland, Österreich und Frankreich

Die NS-Prozesse der 1950er und 2000er-2010er Jahre: Gerichtsberichterstattung und Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland, Österreich und Frankreich

Veranstalter
Prof. Dr. Marie-Bénédicte Vincent, Professorin für Neuere Geschichte, Université de Franche-Comté / Dr. habil. Nathalie Le Bouëdec, Maître de conférences für civilisation allemande, Université de Bourgogne
Veranstaltungsort
Université de Franche-Comté (Besançon) / Université de Bourgogne (Dijon)
Gefördert durch
Centre Lucien Febvre (EA 2273), Université de Franche-Comté / Centre Interlangues (EA 4182), Université de Bourgogne / Fédération des MSH de Bourgogne et de Franche-Comté
PLZ
25000 / 21000
Ort
Besançon / Dijon
Land
France
Vom - Bis
24.09.2021 - 24.09.2021
Deadline
25.06.2021
Von
Le Bouëdec Nathalie, Département d'allemand, Université de Bourgogne

Wie wirkten sich NS-Prozesse auf die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die NS-Verbrechen in Deutschland, Österreich und Frankreich aus und welche Rolle spielte dabei die Gerichtsberichterstattung, die als Vermittlerin zwischen der Arena des Gerichts und der Öffentlichkeit betrachtet werden kann? Dieser Fragenkomplex wird Gegenstand der zwei interdisziplinär angelegten Tagungen sein, die sich sowohl an Historiker/innen als auch an Rechts-, Politik- und Medienwissenschaftler/innen wenden.

Die NS-Prozesse der 1950er und 2000er-2010er Jahre: Gerichtsberichterstattung und Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland, Österreich und Frankreich

Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus hat mehrere Phasen durchlaufen, die jeweils im Zusammenhang mit in den Medien stark beachteten Prozessen einhergingen:
- Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (1945/46) ermöglichte eine erste Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen im besetzten Deutschland. Dem folgten in der Besatzungszeit viele andere NS-Prozesse. Wie Edith Raim (Justiz zwischen Diktatur und Demokratie, 2013) gezeigt hat, erfolgten 70% aller Verurteilungen wegen NS-Gewaltverbrechen in Deutschland zwischen 1945 und 1949. Im Kontext des Kalten Kriegs und der „Schlussstrichmentalität“ ging dann aber die Anzahl der Verfahren schnell zurück.

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) entsprach mit seiner großen internationalen Resonanz einer neuen Phase: Judenverfolgung und Judenvernichtung rückten nun in den Mittelpunkt. In der BRD trug vor allem der sog. „Auschwitz-Prozess“ in Frankfurt am Main (1963-65) entscheidend dazu bei, die Judenvernichtung und die Verstrickung der deutschen Gesellschaft in die NS-Todesmaschinerie stärker zu thematisieren. Diese Entwicklung wurde in den 1970er und 1980er Jahren durch andere Prozesse verstärkt. Für die französische Öffentlichkeit etwa stellte die Verhaftung Klaus Barbies im Jahr 1983 insofern einen Wendepunkt dar, als der Prozess die Erinnerung an die Verfolgung des Widerstands und an die Judenvernichtung miteinander verband.

Nach der deutschen Einheit hat der Zugang zu den Archiven des Ostblocks es ermöglicht, die Verfolgung von NS-Verbrechen neu aufzurollen. In den 2000er und 2010er Jahren haben in Deutschland Prozesse gegen die letzten noch lebenden Verbrecher stattgefunden: den Ukrainer John Demjanjuk, der 2011 (nach einem ersten Prozess 1988 in Israel) in Deutschland erneut vor Gericht stand, Oskar Gröning, den „Buchhalter von Auschwitz“ (2015), oder den ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Stutthof Bruno Dey (2020).

Der Zusammenhang zwischen NS-Prozessen und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bzw. Erinnerungsarbeit ist mittlerweile (besonders für Deutschland) bekannt. Allerdings wurden die verschiedenen Phasen nicht gleich intensiv erforscht. Im Vergleich zu dem „Nürnberger Moment“ (Guillaume Mouralis) und dem „Eichmann Moment“ (Sylvie Lindeperg/Annette Wieviorka) wurden die 1950er Jahre beispielsweise (trotz der wichtigen, 2012 veröffentlichten Arbeit Andreas Eichmüllers) eher vernachlässigt. Das gleiche gilt für die 2000er und 2010er Jahre, was auf die zeitliche Nähe erklären lässt. Ein gemeinsames Merkmal dieser zwei Perioden ist, dass insgesamt eher wenig bekannte NS-Verbrecher oder Verbrechen vor Gericht standen – sei es, weil es sich um Verbrecher „zweiten Ranges“ handelte, und/oder weil das Thema „NS-Vergangenheit“ in der Öffentlichkeit nicht die gleiche Brisanz hatte wie etwa um 1960 in der Bundesrepublik.

Indem die Medien die Bürger über die zwangsläufig begrenzte Anzahl der im Gerichtssaal anwesenden Zuschauer hinaus über den Prozess informieren, sind sie faktisch der wichtigste Garant der Öffentlichkeit der Rechtsprechung und die Hauptvermittlungsinstanz zwischen dem juristischen Verfahren und der öffentlichen Meinung geworden. So stellt sich die Frage, inwiefern und wie die Gerichtsberichterstattung in ihren verschiedenen Formen (Berichte in der Presse, im Rundfunk und für die Zeit nach 2000 im Internet) zum kollektiven Erinnerungsprozess beigetragen hat. Im Rahmen der Tagungen soll dieser Frage auf verschiedenen Ebenen (auf lokaler, regionaler, nationaler oder transnationaler Ebene) nachgegangen werden. In der Geschichtsschreibung werden diese unterschiedlichen Ebenen oft nicht erfasst bzw. das öffentliche Echo der großen Prozesse wird hauptsächlich in einer nationalen oder internationalen Perspektive analysiert. Je nach der betrachteten Ebene nimmt aber die Gerichtsberichterstattung unterschiedliche Formen an auf bzw. erfolgt unter anderen Bedingungen (es sind nicht die gleichen Medien, Journalisten usw.); ebenso können sich Erinnerungsprozesse unterschiedlich gestalten. Perspektivenwechsel können also hierbei eine differenziertere Analyse des Zusammenhangs zwischen Prozessen, Medienberichterstattung und kollektiven Erinnerungsprozessen ermöglichen.

Erste Tagung (Besançon, 3. Juni 2021)
Die erste Tagung wird die 1950er Jahre in den Blick nehmen. Wie Andreas Eichmüller im Fall Deutschlands gezeigt hat, erfolgte damals keine „Generalamnestie“. Es haben durchaus Prozesse stattgefunden. Welches Bild des NS-Regimes und der NS-Verbrecher wurden durch die Medienberichte vermittelt? Inwiefern haben sich Journalist/innen Gedanken über die Funktion dieser Prozesse und ihrer eigenen Berichterstattung gemacht? Welche Rolle hat die Medienberichterstattung für die lokale Bevölkerung gespielt? Lokale bzw. regionale Mikrostudien wären hier besonders erwünscht. Transnationale Untersuchungen (etwa die Analyse der Berichterstattung über deutsche Prozesse in Frankreich oder umg.) wären auch von besonderem Interesse.

Zweite Tagung (Dijon, 24. September 2001)
Im Mittelpunkt der zweiten Tagung werden die 2000er und 2010er Jahre stehen. Die letzten NS-Prozesse in Deutschland haben das Augenmerk auf Individuen gelenkt, die damals sehr jung waren und einen niedrigeren Rang im Lagersystem hatten. Angesichts des hohen Alters der Angeklagten und der verhängten milden Strafen haben diese Prozesse wohl weniger eine strafende als eine pädagogische bzw. erinnerungspolitische Funktion für die aktuellen Generationen. Welche Rolle spielt dabei die Gerichtsberichterstattung in den verschiedenen Ländern? Inwiefern wirkt sich sowohl der im Vergleich zu den 1950er Jahren ganz unterschiedliche Kontext als auch die neuen Formen der Gerichtsberichterstattung im digitalen Zeitalter auf die Berichterstattung und das vermittelte Bild des NS-Regimes aus? Hier geht es wieder darum, auf unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven durchgeführte Analysen miteinander zu vergleichen.

Eine Veröffentlichung der Beiträge in Form eines Dossiers in einem Zeitschriftenheft (wie etwa in der Revue d’histoire de la Shoah oder in Guerres mondiales et conflits contemporains) ist vorgesehen.

Bewerbung
Bitte schicken Sie Ihre Beitragsvorschläge für die 2. Tagung (ca. eine Seite auf Deutsch, Französisch oder Englisch) mit einem kurzen Lebenslauf bis zum 25. Juni 2021 an Nathalie Le Bouëdec (nathalie.le-bouedec@u-bourgogne.fr) und Marie-Bénédicte Vincent (marie_benedicte.vincent_daviet@univ-fcomte.fr)
Beitragsvorschläge von DoktorandInnen und Nachwuchswissenschaftler/nnen sind ausdrücklich erwünscht.
Unterkunfts- und Reisekosten werden für die TeilnehmerInnen, die nach Dijon reisen möchten und können, zurückerstattet.

Kontakt

nathalie.le-bouedec@u-bourgogne.fr
marie_benedicte.vincent_daviet@univ-fcomte.fr

https://mshe.univ-fcomte.fr/la-mshe/agenda-de-la-mshe/263-chronique-judiciaire-et-memoire-du-nazisme-en-france-allemagne-et-autriche-2?date=2021-06-03-00-00