English version below
Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen lieben es, das Leben von anderen zu analysieren. Dabei wollen sie gezielt nicht nur die Fassaden betrachten, sondern sehen die hohe Kunst darin, die Hinterbühne der sozialen Darstellung zu betreten und auszuleuchten. Was ihre Themen betrifft, galt dabei aber lange Zeit: "Von uns selbst schweigen wir." Dieses viel bemühte Diktum von Francis BACON greifen wir in dieser neuen FQS-Debatte auf, die an die Stelle der bisherigen Debatte Ethnografie der Karrierepolitiken einer Berufsgruppe tritt. Und wir kehren das Diktum bewusst um: "Von uns selbst sprechen wir!" ist unser Motto.
Nicht nur die fremden Hinterbühnen, sondern auch die eigenen wollen wir in dieser Debatte unter die Lupe nehmen. Denn beide sind in den Prozessen der Wissensproduktion untrennbar miteinander verbunden. In jüngerer Zeit hat mit dem Erstarken der Social Studies of the Social Sciences auch im Feld der qualitativen Sozialforschung eine gezielte Befremdung der eigenen Wissenschaftskultur eingesetzt; siehe hierzu auch FQS 3(3) und FQS 4(2). Damit wurde eine Forschungslinie eröffnet, die sich der Herstellung einer empirisch gestützten Reflexivität qualitativen Forschungshandelns verschrieben hat. Auf diesem Weg konnten im Bereich qualitativer Sozialforschung, aber auch darüber hinaus, bereits einige Dynamiken sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens sichtbar gemacht werden. Vieles liegt aber noch im Dunkeln.
Mit dieser FQS-Debatte laden wir Autor:innen dazu ein, empirische Erkundungen kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeitens zu betreiben, ihr eigenes Arbeiten eingeschlossen. Wir erhoffen uns neben klassischen wissenschaftlich-analytischen Artikeln auch autoethnografische Arbeiten, fiktionalisierte Berichte, Videos, kluge Polemiken, Grafiken, Zeichnungen, und wir sind offen für alternative Darstellungsformen.
Autor:innen können zwischen zwei unterschiedlichen Publikationsformen wählen:
Beiträge im FQS-Format, die einen Peer-Review-Prozess durchlaufen und Beiträge im moderierten Blogformat. Hier besteht auch die Option der anonymen Autor:innenschaft, die beispielsweise die Thematisierung von Machtfragen im Wissenschaftsbetrieb ermöglichen soll. Dieses Format befindet sich technisch noch in Vorbereitung. Wir arbeiten daran, es ab August 2021 bereitstellen zu können.
In beiden Formaten wünschen wir uns eine offene, lebendig-kritische und respektvolle Debattenkultur, in der die Autor:innen aufeinander Bezug nehmen. Uns interessieren (im weitesten Sinne) qualitative Arbeiten zu allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungstraditionen, unabhängig von ihrer konkreten disziplinären oder methodischen Verortung. Erkundungen inter- und transdisziplinärer Arbeitszusammenhänge sind dabei explizit willkommen.
Wir laden insbesondere zu Beiträgen in drei ineinandergreifenden Schwerpunkten ein. Sie sind als Anregungen zu verstehen, auch darüber hinaus gehende Beiträge zum Debattenthema sind herzlich willkommen.
1. Erkundungen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschens
Die Produktion kultur- und sozialwissenschaftlichen Wissens umfasst zahlreiche Stationen, von der Auswahl von Themen, Methoden und Teams bis zur Veröffentlichung und Rezeption der Ergebnisse. Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen bahnen Forschungsbeziehungen an, pflegen und beenden sie. Sie produzieren, verarbeiten, deuten, teilen, archivieren, verlieren und verwerfen Daten. Sie interpretieren und diskutieren in Forschungsteams, denken nach, schreiben Notizen, Memos, Kommentare und Aufsätze, lesen und bearbeiten sie. Die Liste lässt sich fortsetzen. Die vielen Facetten von Wissensproduktion im Detail zu erforschen, hat großes Potenzial für die Wissenschaftsforschung (in der der Schwerpunkt bis vor wenigen Jahren auf den Naturwissenschaften lag), aber auch für die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung selbst. Zunächst kann die angestrebte Debatte dabei helfen, den Reflexionsgrad zu erhöhen. Sie schafft eine empirische Grundlage, die zur Sensibilisierung in konkreten Forschungsprojekten beitragen kann. Sie kann darüber hinaus sichtbar machen, welche bisher methodisch und methodologisch nicht (oder zu wenig) reflektierten Aspekte kultur- und sozialwissenschaftlicher Arbeit epistemologisch wirkmächtig sind und daher einer methodischen Reflexion zugeführt werden sollten. Nicht zuletzt hat eine qualitative Erforschung kultur- und sozialwissenschaftlicher Arbeit auch großes Potenzial für die Methodenlehre, weil aufgezeigt wird, welche Elemente des Forschungsprozesses didaktisch besonders betont werden sollten, gerade wenn sie bisher in den Lehrbüchern nicht oder nur am Rande thematisiert wurden. Mögliche Fragen in diesem Schwerpunkt sind beispielsweise:
Wer produziert kultur- und sozialwissenschaftliches Wissen und wie kommt es zustande?
Welche Akteur:innen, Praktiken, Materialitäten und institutionellen Zusammenhänge sind dabei relevant?
An welchen Orten entsteht kultur- und sozialwissenschaftliches Wissen, und wie schreiben sich diese Geografien bzw. Architekturen in das Wissen ein?
Wie mobilisieren Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen ihre außer- bzw. vorakademischen Ressourcen (Kontakte, Habitus, Erfahrungen aus Erwerbsarbeit, Ehrenamt, Reisen etc.) in konkreten Forschungsprojekten?
Wie reflektieren, begründen und nutzen sie methodisch heikle, aber epistemologisch produktive Dynamiken und Ereignisse im Forschungsprozess?
Wie können wir diese Einsichten für die Methodologie und Didaktik kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschens verwenden?
2. Erkundungen kultur- und sozialwissenschaftlicher Karrierepolitiken
Hier möchten wir Selbst-/Reflexion über die wissenschaftliche Arbeit, wissenschaftliche Karrieren, das wissenschaftliche Feld und deren Dynamik anregen. Unter welchen Bedingungen, mit welchen Schwierigkeiten und mit welchen Praktiken etablieren und behaupten sich Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen im Wissenschaftsbetrieb – das heißt auch: Wie gestaltet sich das (noch viel mehr verschwiegene und beschwiegene) Scheitern?
Wie bringen sie Biografie und Betrieb in Passung, d.h., wie passen sie Alltag, Lebensplanung, Partner*innenschaften und wissenschaftliche Ambitionen in die Erfordernisse des Wissenschaftsbetriebes ein?
Welche Strategien des Vorankommens, der Aufmerksamkeitserzeugung und des Selbstschutzes wählen sie? Wie treten sie auf, um sich einzupassen und/oder die eigene Position zu markieren? Wie prägen oder deformieren diese Dynamiken die eigene wissenschaftliche Arbeit/Interessen/Themenwahl?
Wie prägen neue Lebensformen (z.B. Pendler:innenexistenzen oder globalisierte Karrieren) die intellektuelle Arbeit? Wie wird intellektueller Austausch organisiert, wie leidet er eventuell, wenn Forschende ständig oder oft unterwegs sind? Ersetzen (Video-) Konferenzen die ehemalige Kontinuität von Lesekreisen und Kolloquien vor Ort?
Wie gehen Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen mit Machtsituationen um? Welche Rolle spielen Konflikte für die Wissensproduktion?
Wie präsentieren Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen sich? Welche Rolle spielt ihr Auftritt für die eigene Reputation? Gab es in der eigenen oder einer beobachteten Karriere Situationen, in denen Performanz entscheidend war?
Welche Rolle spielen Geschlecht, soziale Herkunft oder Migrationshintergrund? Können Sprachfertigkeiten die Rezeption behindern (Dialekt) oder befördern (aktives Englisch)?
Wie sehen Formen der Vergemeinschaftung an Instituten aus? Haben die Kaffeeküche oder die abendliche Kneipe noch Bedeutung? Wie werden Positionen in (informellen) sozialen Prozessen austariert? Wie werden Konflikte entschärft, kanalisiert, zivilisiert? Und befeuert die zunehmende Mobilität eventuell Konflikte wg. Nichtanwesenheit? Was bedeutet es für die Wissensproduktion, der oder dem Anderen gegenüberzutreten?
3. Erkundungen kultur- und sozialwissenschaftlicher Wissenschaftskommunikation
Als Autor:innen wissenschaftlicher Publikationen stehen Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen vor spezifischen Schreibherausforderungen für verschiedene akademische und nichtakademische Öffentlichkeiten. Es gilt, kommunikative Übersetzungsleistungen zu realisieren, mit denen feldimmanente Phänomene gegenstandsangemessen abgebildet und in (wissenschaftlich) legitimen Darstellungs- und Argumentationsmodi repräsentiert werden. Für erfolgreiche wissenschaftliche Karriereverläufe gewinnt die Fähigkeit, resonante Wissenschaftskommunikation in und mit verschiedenen Öffentlichkeiten betreiben zu können, zunehmend an Relevanz. Die dabei geleisteten Schreibprozesse bilden komplexe Arrangements von Praktiken ab, die wir im Rahmen dieser Debatte untersuchen und diskutieren wollen.
Zwar wird textuelle Performanz inzwischen oftmals als Gütekriterium für qualitative Ergebnisdarstellungen angeführt, allerdings nicht an konkreten Wissensprodukten wie Zeitschriftenbeiträgen, ethnografischen Monografien oder Qualifikationsarbeiten diskutiert. Im Anfertigen verschiedener Schriftlichkeitsformate ist es wiederum an den Autor*innen, überlegte Entscheidungen zu treffen: in der Auswahl und Passung des anvisierten Peer-Review-Journals oder anderer, auch außerakademischer Publikationsorte, bezüglich der textlich-ästhetischen Grundkomposition (Nicht-/Passung mit etablierten Darstellungsstandards), der Wahl des stilistischen wie theoretisierenden Rahmens, der Entscheidung zu Fragen der Repräsentation von Feldakteur:innen in Relation zur Abbildung sozialstruktureller Erklärungen, zu Art und Umfang der Thematisierung des (beispielsweise ethnografischen) Selbsts für die Herstellung von forscherischer Kredibilität, zu Arten der argumentativen Überzeugungsarbeit, zu dem gewählten Generalisierungsgrad u.v.m. Mögliche Fragen in diesem Schwerpunkt sind beispielsweise:
Wie produzieren Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen Texte für unterschiedliche Öffentlichkeiten? Und welche Rolle spielen die dabei gewählten Genres/Repräsentationsmodi (Feuilleton, Interviews, Story Telling, Science Slam)? Welche Resonanzen, Relationen zueinander und Fallstricke sind dabei zu beobachten?
Welche (il-)legitimen Thematisierungs- und Tabuisierungsweisen von Feldinvolviertheit lassen sich rekonstruieren?
Welche Themen und Akteur:innen sind in kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten beispielsweise im Feld sozialer Ungleichheit wie warum (nicht) repräsentiert? Welche gesellschaftlichen Narrative werden damit potenziell reproduziert?
Was erleben Autor:innen im Formulieren und Erhalten von Rückmeldungen bzgl. textueller Performanz beispielsweise für journalistische Formate, aber auch für Peer-Review-Kontexte?
Wie gestaltet sich die Anschlusskommunikation unterschiedlicher Akteur:innen in Reaktion auf die betriebene Wissenschaftskommunikation?
Beitragsformen und Partizipationsmodi
Die qualitativ angelegte Untersuchung von kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen und ihren akademischen Akteur:innen erfordert methodologische Selbst-/Reflexivität und Distanz der Untersuchenden gegenüber ihren feldimmanenten Eingebundenheiten. Vor diesem Hintergrund ermöglichen wir hier die Debattenbeteiligung in unterschiedlichen Genres und Partizipationsmodi.