"Das Mittelalter" – Themenheft: "Materielle Kulturen mittelalterlicher Kreditbeziehungen"

"Das Mittelalter": Themenheft "Materielle Kulturen mittelalterlicher Kreditbeziehungen"

Veranstalter
Mediävistenverband und die Hg. des Themenheftes: Stephan Nicolussi-Köhler, Tanja Skambraks, Sebastian Steinbach
PLZ
68161
Ort
Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2021 -
Deadline
15.05.2021
Von
Tanja Skambraks, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, Universität Manneim

Das geplante Themenheft der Zeitschrift "Das Mittelalter" verbindet die Themen materielle Kultur und mittelalterliche Kreditgeschichte. Die HerausgeberInnen begrüßen Vorschläge für Aufsatzbeiträge aus den Bereichen Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Archäologie, Judaistik, Numismatik, Rechtsgeschichte, etc. bis zum 15. Mai 2021.

"Das Mittelalter": Themenheft "Materielle Kulturen mittelalterlicher Kreditbeziehungen"

Die Bedeutung von Krediten als Indikator für den wirtschaftlichen Zustand von mittelalterlichen Gesellschaften wurde in jüngerer Zeit immer wieder betont. Während der Zugang zu Kapital als Überbrückungskredit in Krisenzeiten oder Investition in Zeiten ökonomischer Prosperität die soziale und wirtschaftliche Situation einzelner Personen verbessern konnte, führte umgekehrt fehlende Kreditwürdigkeit oftmals zu Reputationsverlust oder im schlimmsten Fall sogar zum Entzug der ökonomischen Lebensgrundlage. Über diese Entwicklungen gibt es eine Vielzahl von Studien, die sich mit den unterschiedlichen Formen von Kreditpraktiken (Pfandleihe, Handelskredite, Renten etc.) beschäftigen.

Weniger klar sind wir dagegen über den Umgang mit und die Sachüberlieferung von mittelalterlichen Schuldbeziehungen informiert – sowohl im Sinne dinglicher Quellen wie Schuldverträge oder der materiellen Objekte, die versetzt, verkauft, verpfändet oder hinterlegt wurden. Beide Bereiche – die materielle Überlieferung als auch die Frage nach den sozialen Wirklichkeiten – liefern aber wertvolle Erkenntnisse für die Untersuchung von Kreditgeschäften. Hilfswissenschaftliche, rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze haben die Erforschung mittelalterlicher Kreditpraktiken lange Zeit dominiert. Sozial- und kulturgeschichtliche Zugänge ermöglichen hierbei neue Ansätze der Auswertung bereits etablierter Quellengruppen wie Urkunden, aber auch vernachlässigter Quellengattungen wie literarischer Texte, künstlerischer Abbildungen oder symbolischer Handlungen.
Anschlussfähige Ansätze für die Kreditgeschichte als Objektgeschichte versprechen anthropologische Arbeiten, wie Appadurais Annahme vom „sozialen Leben der Dinge“ oder Kopytoffs Theorie der Objektbiografien. Ausgehend von der Annahme, dass Objekte für den Tausch gegen andere Objekte eingesetzt werden, resultiert deren Wert aus der Zuschreibung der Akteure, deren Begehren nach bestimmten Objekten geweckt wurde. Der simple Rohstoffwert spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle, so dass Wertasymmetrien entstehen, die den ursprünglichen durch Material und investierte Arbeit erzielten Wert eines Objektes, z.B. eines Kleidungsstückes um ein Vielfaches steigern können. Der Wert der Objekte steht überdies nicht von vornherein fest, sondern wird im Akt des Austausches in einem stets neuen Aushandlungsprozess konstituiert. Das Element zwischen Tauschakt und Wertzuschreibung erhält damit eine politische Dimension. Die Objekte selbst verweisen somit weit über ihren reinen Materialwert hinaus auf die Implikationen des Tauschaktes (hier: Objekt gegen Geld) und somit auf das Kreditgeschäft als sozialen Interaktionsprozess.

Durch diese Perspektivierungen lassen sich weniger konkrete Kreditgeschäfte sondern vielmehr Mentalitäten und Vorstellungen von Kreditpraktiken bearbeiten. Um diese unterschiedlichen Zugänge zu diskutieren werden anhand folgender zwei Themenbereiche Zugänge zu materiellen Formen, ihrer Nutzung im Alltag sowie den Mentalitäten der involvierten Akteure im Mittelalter untersucht:

1. Schriftquellen
1.a Pragmatische Schriftlichkeit
Die Untersuchung von pragmatischer Schriftlichkeit (Kerbhölzer, Chirographen, Urkunden, Notariatsinstrumente, Gerichtsprotokolle, Rechnungsbücher, Inventare, Testamente etc.) erlaubt eine Vielzahl praktischer Aspekte von Schuld- und Kreditbeziehungen zu rekonstruieren, die üblicherweise nicht im primären Interesse wirtschaftshistorischer Untersuchungen stehen. Hierzu gehören die Erforschung von Verrechnungspraktiken, die Registrierung von Schulden in schriftlicher und para-schriftlicher Form oder zusätzlichen Transaktionskosten (Kosten für Gericht, Schreiber, Notare etc.), die bei einer bloßen Erhebung der wirtschaftlichen Informationen (Schuldsumme, Zahlungsfrist etc.) verloren gehen. Zudem liefern sie einen wertvollen Einblick in mittelalterliches Wirtschaften aus einer kulturhistorischen Perspektive.

1.b Traktate und literarische Quellen
Kredit betrifft niemals allein den Transfer von Geld, sondern berührt immer auch „soziale Strukturen und Normengefüge, mentale Dispositionen und religiöse Wertungen“. Ein wichtiger Aspekt ist daher die Frage, wie Quellen soziale Wirklichkeiten – unabhängig von der Intention des oder der VerfasserIn – beeinflusst haben. Gerade Kreditpraktiken waren von einer Vielzahl von gesellschaftlichen Diskursen (religiöse Lehre, Moralvorstellungen, Gemeinwohl etc.) begleitet, die erst durch literaturwissenschaftliche Zugänge (und deren Instrumentarium) greifbar werden. Im Fokus dieses Themenbereichs stehen deshalb literarische Quellen, die konkrete Kreditbeziehungen und deren soziale Bewertung behandeln. So soll z.B. die Attribuierung von bestimmten Objekten, wie Gold, Münzen oder Schätzen näher beleuchtet werden. Wer schreibt welchen Objekten besondere Eigenschaften oder Kräfte zu? Wie wird der Wert eines oder mehrerer Objekte durch sprachliche Aufladung konstituiert? Gibt es in der mittelalterlichen Literatur bestimmte Begriffsfelder, die wertvolle Objekte als solche eher beschreiben?

2. Sachquellen
2.a Pfandobjekte
Materielle Objekte bilden die zweite Gruppe der Überlieferung. Diese Objekte bildeten den Kern der Kreditwirtschaft, zirkulierten sie doch ständig in der Gesellschaft . Alltagsgegenstände, wie Kleider, Schmuck oder Haushaltsgegenstände dienten häufig als Wertspeicher. Die Untersuchung dieser Objekte – auch aus kunsthistorischer Sicht – erweitert unser Verständnis mittelalterlicher Wirtschaftspraktiken dahingehend, dass diese Objekte neben ihrer eigentlichen Funktionalität eben auch als monetäre Reserve gedient haben. Die Veräußerbarkeit dieser Besitztümer stellte einen wichtigen Teil der mittelalterlichen Wirtschaft, nicht nur armer Bevölkerungsteile dar.

2.b Zahlungsmittel (Münzen und Barren)
Münzen und Barren muss schon aus ökonomischen Gründen (Feingehalt und Nominalwert) besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Geldfunktionen von Münzen wurden sowohl von nicht-ausgemünzten Rechnungswährungen als auch von tatsächlich geprägtem Münzgeld sowie Barren als Zahlungsmitteln außerhalb bestimmter Währungssysteme wahrgenommen. Dieser Transfer von „virtuellem Buchgeld“ in „materielles Münzgeld“ wird dabei zumeist aus Sichtweise einer Geschichte der Buchhaltung oder des Bankenwesens (Wirtschaftsgeschichte) und nur selten unter Berücksichtigung ihrer materiellen Grundlagen (Münzgeschichte) erforscht. Erst in jüngeren Gesamtdarstellungen ist der Versuch unternommen worden, wieder eine stärkere empirische Verknüpfung von verschiedenen Formen des Geldes und der Münze im Mittelalter herzustellen.

Zur Untersuchung des Kredites im Mittelalter sind daher interdisziplinär-komparative Zugänge aus der Archäologie, Geschichtswissenschaft, Diplomatik, Kunstgeschichtsforschung, Literaturwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte eine wichtige Voraussetzung. Die jüngeren Forschungsansätze der Mediävistik haben gezeigt, dass die Geschichtswissenschaft immer beides braucht: die große Perspektive und den Detailblick auf die Quellen – und zwar mit unterschiedlichen Zugängen. Der Fokus dieses Themenheftes soll auf dem Detailblick liegen und daher – „im Sinne materialgesättigter Mikrostudien“ – bewusst im Zentrum der Untersuchungen stehen. In diesem Sinne sollen hier Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen (Mittelalterliche Geschichte, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Archäologie, Judaistik, Numismatik, Rechtsgeschichte, etc.) zu Schrift- und Sachüberlieferungen mittelalterlicher Schuld- und Kreditbeziehungen gemeinsam den Wert derartiger Studien aufzeigen und kritisch diskutieren.

Bitte schicken Sie Ihre Vorschläge (max. 3.000 Zeichen) bis zum 15. Mai 2021 an Tanja Skambraks (tanja.skambraks@uni-mannheim.de). Die Autor:innenkonferenz zum Heft wird am 10. und 11. März 2022 stattfinden. Der Ort wird noch bekannt gegeben.

Zeitplan
15. Mai 2021
Deadline für das Einreichen der Abstracts
Juni 2021
Zusage an die Autor:innen
15. Dezember 2021
Einsendung der formatierten Beiträge zum Peer Review
10./11. März 2022
Autor:innenkonferenz
30. April 2022
Abgabe der überarbeitete Beiträge (auf der Grundlage des Peer Review und der Autor:innenkonferenz)
Dezember 2022
Erscheinungstermin

Zitierte Literatur:

Appadurai 1986 = A. Appadurai (Hg.), The social Life of things. Commodities in cultural perspective, Cambridge 1986 (ND 2006).
Boone 1999 = M. Boone, 'Buchgeld', in: Lexikon des Mittelalters, 10 vols (Stuttgart: Metzler, [1977]-1999), vol. 2, cols 827-829, in Brepolis Medieval Encyclopaedias - Lexikon des Mittelalters Online.
Brauer 2013 = Michael Brauer, Quellen des Mittelalters, Paderborn 2013.
Clemens 2008 = G. Clemens (Hg.), Schuldenlast und Schuldenwert: Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300 – 1900, Trier 2008.
Ertl/Karl 2017 = T. Ertl, B. Karl (Hgg.), Inventories of Textiles – Textiles in Inventories. Studies on Late Medieval and Early Modern Material Culture, Wien 2017.
Fouquet/Rabeler 2018 = Gerhard Fouquet, Sven Rabeler (Hgg.) Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 242). Steiner, Stuttgart, 2018
Gruber/Lutter/Schmitt 2017 = E. Gruber, C. Lutter, O. J. Schmitt (Hgg.), Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter: Quellen und Methoden zur Geschichte Mittel- und Südosteuropas, Köln [u.a.] 2017.
Howell 2010 = M. Howell, Commerce before capitalism in Europe, 1300-1600, New York 2010.
Keupp 2017 = J. Keupp, Die Gegenstandslosigkeit des Materiellen: Was den material turn zum Abtörner macht, in Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 26. Juni 2017 [http://mittelalter.hypotheses.org/10617].
Keupp/Schmitz-Esser 2015 = J. Keupp, R. Schmitz-Esser (Hgg.), Neue alte Sachlichkeit: Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015.
Kopytoff 1986 = Igor Kopytoff, The cultural biography of things: commoditization as process, in: Appadurai (Hg.), The social life of things, S. 64–91.
Kuchenbuch 2002 = L. Kuchenbuch, Pragmatische Rechenhaftigkeit? Kerbhölzer in Bild, Gestalt und Schrift, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 469–490.
Kümper 2014 = H. Kümper, Materialwissenschaft Mediävistik: eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014.
Naismith 2019 = R. Naismith (Hg.), Money and Coinage in the Middle Ages Reading Medieval Sources, Volume 1), Leiden 2018.
Schmitt 1990 = Jean-Claude Schmitt, Der Mediävist und die Volkskultur, in: Dieter R. Bauer, Peter Dinzelbacher (Hgg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn 1990, 29-40.
Smail 2016 = D. L. Smail, Legal Plunder: Households and Debt Collection in Late Medieval Europe, Cambridge 2016.
Groebner 2004 = Valentin Groebner, Mobile Werte, informelle Ökonomie. Zur Kultur der Armut in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Armut im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 58), Ostfildern 2004, S. 165–187.

Kontakt

Stephan Nicolussi-Köhler, Universität Mannheim
stephan.koehler@uni-mannheim.de

Sebastian Steinbach, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover und Universität Osnabrück
sebastian.steinbach@uni-osnabrueck.de

Tanja Skambraks, Universität Mannheim
tanja.skambraks@uni-mannheim.de

Redaktion
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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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