Seit sich Mitte des 12. Jahrhunderts in Bologna erstmals dauerhaft “universitates scholarum” in Europa etablieren konnten, stand immer auch die Frage im Raum, wer diesem Personenkreis angehören konnte, welche Voraussetzungen daran geknüpft waren und welche Bedingungen das mit sich brachte. Spätestens mit der Institutionalisierung eines meritokratischen Anspruchs wurde eine wettbewerbliche Selektion derjenigen, die diese Zugehörigkeit anstrebten, möglich; sie war und blieb aber keinesfalls die einzige Möglichkeit, Ab- und Ausgrenzungen vorzunehmen. Andere Selektionsfaktoren traten stets dazu. Sobald und solange die Zugehörigkeit zum universitären System attraktiv war, bildeten sich so drei Gruppen - die der sicher darin Inbegriffenen, die der sicher davon Ausgeschlossenen und die derjenigen, die unsicher ein- oder ausgeschlossen waren. Deren Status war meist nicht nur in Bezug auf die Zugehörigkeit zur Universitas, sondern auch in anderer Hinsicht sozial oder ökonomisch prekär - wobei sich beides gegenseitig verursachen wie auch wechselseitig bedingen oder verstärken konnte. Wer waren aber diejenigen, die so auf der Schattenseite des universitären Betriebs landeten? Wie groß war ihre Zahl, wie wichtig waren sie für die Abläufe, das Funktionieren und Weiterbestehen des Systems? Welche Wege führten in die Prekarität hinein und welche wieder hinaus?
Die Konkurrenz um die – zwar stetig ausgeweiteten, aber immer begrenzten – Ressourcen, die gesamtgesellschaftlich für Tätigkeiten einer ‚gelehrten‘ Natur bereitgestellt wurden, führte dementsprechend zu Konflikten. Diese dienten der Demarkation einer universitären Sphäre derer, die von ihrer Bildung leben konnten. Dabei wurde einerseits immer darüber verhandelt, wer qualifiziert sei, eine dazu zugehörige Tätigkeit auszuüben. Andererseits wurde ausgehandelt, wie eine solche Qualifizierung erlangt werden konnte, welche Tätigkeiten in dieses beruflich-soziale Feld fielen, und wie sich unter diesen Bedingungen sozialer Status, wenn nicht gar Aufstieg, erreichen und behaupten ließ. Nicht zuletzt war auch die Beanspruchung der Deutungsmacht für all diese Streitfragen stets umstritten. Eine Kategorie, die dabei nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die des Geschlechts. Waren Frauen oft bereits von einer formalisierten Bildung ausgeschlossen, wurden sie in der Gelehrtenwelt vor allem als Randerscheinungen und Ausnahmephänomene wahrgenommen.
Während sich die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte mit wenigen Ausnahmen vor allem der Sonnenseite der Universität gewidmet hat, sollen hier explizit die Verlierer:innen, die Ausgeschlossenen und Marginalisierten des akademischen wissenschaftlichen Betriebs in Europa zwischen Hochmittelalter und Hochmoderne in den Blick genommen werden. Dabei wollen wir untersuchen, ob und inwieweit Prekarität zum universitären Betrieb systemisch notwendig hinzu trat. Die epochenübergreifende Perspektive erlaubt es in besonderer Weise, Kontinuitäten und Brüche herauszuarbeiten; der besondere Fokus auf Nord- und Mitteleuropa, besonders den Raum des (ehemaligen) Heiligen Römischen Reichs, nimmt Rücksicht auf Traditionslinien und lässt systemische Vergleiche zu.
Wir freuen uns auf Vorschläge für Beiträge, die sich mit einer oder mehreren der folgenden Fragen beschäftigen oder eigene Themen einbringen:
- In welchem Verhältnis stehen Erwerbsarbeit und Tätigkeit an einer Universität?
- Wie werden Qualifikationen verhandelt? Welche Inklusions- und Exklusionsmechanismen sind zu beobachten? Welche gruppenspezifischen Marginalisierungen sind zu erkennen?
- Welchen Einfluss hat die universitäre Tätigkeit auf andere Lebensbereiche (z.B. Mobilität, Familiengründung)?
- Wie wird akademische Prekarität in der Öffentlichkeit thematisiert und wie wird sie politisch verhandelt?
- Wie schlägt sich die Prekarität in der akademischen Wissensproduktion nieder? Welchen Einfluss haben individuelle Lebenssituationen auf das (Nicht-)Entstehen von Wissen?
- Wie ist das Verhältnis von akademischer Lehre und prekären Arbeitsverhältnissen der Lehrenden?
- Welche ökonomischen Konsequenzen hat die akademische Prekarität?
Zur Bewerbung bitten wir um entsprechende Abstracts (im Umfang von maximal 500 Wörtern) für Vorträge von 20 Minuten und einen kurzen Lebenslauf (maximal 150 Wörter), die bis zum 15.08.2021 an Tobias Winnerling (tobias.Winnerling@uni-duesseldorf.de) oder Joëlle Weis (weis@hab.de) eingesandt werden können. Beiträge auf Deutsch, Englisch und Französisch sind willkommen, allerdings werden wir leider mit großer Wahrscheinlichkeit keine Übersetzungshilfen anbieten können. Für weitere Fragen stehen wir selbstverständlich zur Verfügung.
Die Tagung wird am 24. und 25. März 2022 an der Universität Düsseldorf stattfinden. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.