Gesundheit und Krankheit im Kontext von Arbeit

Gesundheit und Krankheit im Kontext von Arbeit

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Veranstaltungsort
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.04.2019 - 05.04.2019
Deadline
11.01.2019
Website
Von
Pierre Pfütsch

Die Debatte um Burnout, Depressionen und andere psychische Krankheiten bestimmt seit einigen Jahren zunehmend den öffentlichen Diskurs über Gesundheit und Krankheit im Arbeitsleben. Aktuelle Studien zeigen, dass 14,3 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage der gesetzlich Versicherten auf psychische Störungen zurückgehen und damit noch vor Verletzungen/Vergiftungen rangieren. Mit 34,3 Tagen sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten bei psychischen Störungen darüber hinaus am längsten. 1 Dies kann, historisch gesehen, als ein Ergebnis der Transformation von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft gedeutet werden.
Doch der Zusammenhang von Gesundheit und Arbeit beschränkt sich nicht nur auf die Analyse gegenwärtiger Arbeitnehmerverhältnisse, sondern lässt sich, insbesondere medizinhistorisch, aus weiteren Perspektiven betrachten.

Entstehung und Behandlung von Krankheiten:
Arbeit und deren Auswirkungen auf die Gesundheit sind historischen Wandlungen unterworfen. Welche Form von Arbeit brachte welche gesundheitlichen Gefährdungen mit sich? Wie wurde mit diesen Gesundheitsgefährdungen umgegangen? Welche Industriezweige bzw. Branchen galten als besonders gesundheitsschädlich? Welche Berufe besaßen für welche Arten von Krankheiten ein besonders hohes Risiko? Neben Industriearbeitern waren auch Angehörige anderer Berufe von solchen Themen betroffen: So galten bspw. Radiologen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinsichtlich Geschwulsterkrankungen und Unfruchtbarkeit als besonders gefährdet.
Ebenso könnte man der Frage nachgehen, wie sich die medizinische Behandlung bzw. Betreuung von Kranken an der Arbeitsstätte entwickelte. So nahmen bspw. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Fabrikärzte ihre Arbeit auf, die später als Betriebsärzte im Nationalsozialismus eine wichtige Säule der gesundheitlichen Versorgung werden sollten. Auch Schulungen in Erster Hilfe, die Einrichtung von Krankenzimmern oder das Benennen von Gesundheitshelfern bzw. die Anstellung von Heilgehilfen stellen hier wichtige Untersuchungsgegenstände dar. Ein weiterer Aspekt zeigt sich im Betriebsgesundheitswesen der DDR, welches nicht nur die Arbeiter, sondern oft auch deren Angehörige betreute. Die Entwicklung der Medizintechnik spielt ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle, da hierdurch die Versorgung von Unfällen am Arbeitsplatz erleichtert werden konnte. Mit Hilfe der Augendusche ist es bspw. möglich, zügig Fremdkörper aus dem Auge zu entfernen und dadurch größere Schädigungen zu verhindern.

Versorgung von Kranken:
Ein weiteres mögliches Untersuchungsfeld ist die Versorgung von Kranken. Welche Formen der finanziellen und sozialen Absicherung gab es und wie änderten sich diese im Lauf der Geschichte? Welche besonderen Arten der Versorgung gab es für privat Versicherte? Welche Bewältigungsstrategien hatten Menschen in der Vormoderne? Welche Krankheiten wurden wann als Berufskrankheiten anerkannt und welche Implikationen brachte das mit sich? Hiermit gehen letztendlich auch Fragen nach der Zuständigkeit und der Verantwortung für Erkrankungen einher. Als zentrale Akteure sind hier die Zünfte, Berufsgenossenschaften, Sozialversicherungen und Gewerkschaften zu nennen. Es ließe sich außerdem aus unternehmenshistorischer Perspektive eine Geschichte der rationalen Ökonomisierung beschreiben, in der ein zu hoher Krankenstand gegen den Aufwand des Arbeitsschutzes abgewogen wird. Ein weiterer Aspekt ist die (Re-)Integration von „Behinderten“ und Rehabilitierten. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Wiedereingliederung sogenannter „Kriegskrüppel“ eine große Herausforderung für den Arbeitsmarkt dar. Hieran ließen sich auch Fragen nach dem sozialen bzw. gesellschaftlichen Umgang mit Kranken am Arbeitsplatz anschließen. Inwiefern führten Krankheit und/oder „Behinderung“ zu Stigmatisierung und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt bzw. innerhalb der Belegschaft?

Arbeitsschutz und Prävention:
Neben der Behandlung ist die Verhinderung von Krankheiten und die Stärkung der Gesundheit seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein zunehmend wichtiges Feld im unternehmerischen Sektor. So wurden die ersten Arbeitsschutzmaßnahmen und Unfallverhütungsvorschriften bereits nach den ersten schweren Unfällen im Zuge der Industrialisierung erlassen. Mit Postern, Broschüren und später auch Aufklärungsfilmen kamen neue Medien auf, die dazu beitragen sollten, die Gesundheit der Arbeiterschaft zu schützen. Besonders interessant erscheinen hier auch die Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteuren wie dem Staat, den Betrieben und den Berufsgenossenschaften über die Zuständigkeiten solcher zunächst kostengenerierender Maßnahmen. Dass der Arbeitsplatz aber auch ein idealer Ort zur Durchführung von Präventionsmaßnahmen sein kann, zeigen Studien zur Inanspruchnahme präventiver Leistungen. Diese sind in keinem anderen Gebiet so wirksam wie auf dem Feld der betrieblichen Gesundheitsförderung. Als Gegenbewegung zur Regelung der Arbeitszeit kamen in den 1920er Jahren neue Sport- und Freizeitprogramme auf, die sich positiv auf den Körper und die Psyche der Arbeiter und Arbeiterinnen auswirken sollten. Spätestens seit den 1970er Jahren entwickelten sich Betriebssport, Kantinenernährung und Impfungen zu wichtigen Kennzeichen moderner betrieblicher Sozialpolitik, bei denen auch von unternehmerischer Seite mehr und mehr die Vorteile erkannt wurden.

Arbeitsmedizin:
Zuletzt ist beim Zusammenhang von Arbeit, Gesundheit und Krankheit auch an die Entwicklung der Arbeitsmedizin als medizinischer Disziplin zu denken. Hier ist sowohl die akademische Ausdifferenzierung von arbeitsmedizinischen Forschungsstellen im Kontext von Arbeitshygiene, als auch die Umsetzung der Arbeitsmedizin in der Praxis zu beschreiben. Der italienische Arzt Bernadino Rammazini (1633-1714) gilt als Begründer der Arbeitsmedizin und ist in diesem Zusammenhang bereits im 17. Jahrhundert auf „Berufskrankheiten“ von Frauen eingegangen. Und Samuel A. Tissot (1728-1797) beschrieb als Erster die sogenannte „Gelehrtenkrankheit“, die besonders Akademiker in sitzenden Berufen an der Ausübung ihrer Tätigkeit hinderte. Wie entwickelte sich die Arbeitsmedizin weiter? Welche Methoden wurden diskutiert? Was sind die Gründe für die Entstehung der akademischen Arbeitsmedizin? Wie wurden deren Ergebnisse in der Praxis umgesetzt? Darüber hinaus ist aber auch an die Entwicklung und Institutionalisierung der Unfallmedizin zu denken.

Bei der Bearbeitung all dieser verschiedenen Felder ist eine sozial differenzierte Betrachtungsweise unerlässlich. Wie unterschieden sich Männer und Frauen hinsichtlich Ihres Gesundheits- und Krank-heitsverhaltens? Welche besonderen arbeitsschutzrechtlichen Vorkehrungen gab es für Auszubildende? Seit wann entwickelten sich integrative Angebote für Menschen mit Behinderungen? Solche und ähnliche Fragestellungen sollen im 38. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung im Zentrum stehen. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern soll hierbei die Gelegenheit gegeben werden, die Potentiale arbeitsgeschichtlicher Fragestellungen für die Medizingeschichte auszuloten und ihre eigenen Forschungsprojekte zu präsentieren.
Die hier vorgestellten Themen und Fragestellungen sind nur als Anregung zu verstehen und sollen einer ersten Orientierung dienen. Gerne können auch andere Themen im Kontext von Arbeit, Ge-sundheit und Krankheit vorgeschlagen werden.

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stif-tung hat sich in den nunmehr 37 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich von klassischen Fachta-gungen unterscheidet. Zentrales Anliegen ist der Austausch und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und weniger auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht etwa als Pflichtlektüre.
Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen. Nicht zuletzt dient die Tagung auch der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einem frühen Stadium ihrer Karriere.
Das Seminar findet vom 3.-5. April 2019 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt obligatorisch bereits am 2. April für das abendliche Kennenlernen.
Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf etwa 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die aus den Teilnehmenden des vorjährigen Fortbildungsseminars hervorgeht. Für das 38. Fortbildungsseminar haben sich Katrin Pilz (Wien), Frank Ursin (Ulm) und Sebastian Wenger (Stuttgart) bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden wird von den Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe anhand der anonymisierten Vorschläge vorgenommen.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert. Dies schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung
Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, senden Sie bitte bis zum 11. Januar 2019 per Post oder E-Mail (gerne als Word-Datei) an Dr. Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive pierre.pfuetsch@igm-bosch.de.
Darüber hinaus soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

Auswahlbibliographie:
Bargholz, Christina (Hg.): Arbeit Mensch Gesundheit: Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Hamburg 1990.
Beardsley, Edward H.: A History of Neglect: Health Care for Blacks and Mill Workers in the Twentieth-Century South. Knoxville 1990.
Bluma, Lars; Uhl, Karsten (Hg.): Kontrollierte Arbeit - disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturge-schichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2012.
Gerlach, Rüdiger: Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich: das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre. Stuttgart 2014.
Göbel, Eberhard; Kuhn, Joseph (Hg.): Gesundheit als Preis der Arbeit?: gesundheitliche und wirt-schaftliche Interessen im historischen Wandel ; erweiterte Dokumentation eines Workshops an der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) am 11. und 12. Dezember 2001. Frankfurt a. M. 2003.
Hähner-Rombach, Sylvelyn: Von der Milchausgabe zum Darmscreening. Angebote und Praktiken werksärztlicher Prävention nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der BASF Ludwigshafen. In: Dies. (Hg.): Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente. Stuttgart 2015, S. 41-70.
Hoffmann, Susanne: Machte Arbeit Männer krank? Erwerbsarbeit, Männlichkeit und Gesundheit im 20. Jahrhundert. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22 (2011), S. 140-167.
Kleinöder, Nina: Unternehmen und Sicherheit: Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie nach 1945. Stuttgart 2015.
Johnston, Ronald; McIvor, Arthur: Miners’ Lung: A History of Dust Disease in British Coal Mining. London 2013.
Knoll-Jung, Sebastian: Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechsel präventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik. In: Hähner-Rombach, Sylvelyn (Hg.): Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente. Stuttgart 2015, S. 17-40.
Luh, Andreas: Betriebssport zwischen Arbeitgeberinteressen und Arbeitnehmerbedürfnissen: eine historische Analyse vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Aachen 1998.
Pilz, Katrin: Lorenz Böhlers Filme zur Notfallmedizin und Orthopädie. Debatten um Operationstechniken, Therapieformen, Konkurrenz und transnationaler Wissensvermittlung. In: Angetter, Daniela; Nemec, Birgit; Posch, Herbert (Hg): Strukturen und Netzwerke – Medizin und Wissenschaft in Wien, 1848-1955. Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur im Kontext internationaler Veränderungsprozesse. Wien, S. 735-761.
Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Energie, Ermüdung und die Ursprünge der Modernität. Wien 2001.
Rosenow, Michael K.: Death and dying in the working class, 1865 – 1920. Urbana, Chicago, Springfield 2015.
Steger, Florian; Wiethoff, Carolin: Betriebsgesundheitswesen und Arbeitsmedizin im Bezirk Magde-burg. Halle/Saale 2018.
Stumm, Ingrid von: Gesundheit, Arbeit und Geschlecht im Kaiserreich am Beispiel der Krankenstatistik der Leipziger Ortskrankenkasse 1887-1905. Frankfurt a. M. 1995.
Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit: Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890 – 1950. Zürich 1999.
Verheyen, Nina: Die Erfindung der Leistung. München 2018.

1 Karin Kliner, Dirk Renner, Matthias Richter (Hg.): Gesundheit und Arbeit – Blickpunkt Gesundheitswesen. BKK Gesundheitsatlas 2017. Berlin 2017, S. 18 f.

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