Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln

Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln

Veranstalter
Münchner Stadtmuseum
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.09.2018 - 29.12.2019

Publikation(en)

Cover
Eymold, Ursula; Heusler, Andreas (Hrsg.): Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln. München 2018 : Allitera Verlag, ISBN 978-3-96233-060-6 252 S., über 200 Abb. € 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Francesco Vizzarri, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

1972 erklärte der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) in einer Rede, dass München eine „Einwanderungsstadt“ sei. Auch in den Jahren seit dem Anwerbestopp von 1973, der die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik beenden sollte, würdigte die bayerische Landeshauptstadt die multiethnische, multikulturelle Zusammensetzung ihres Sozialgefüges und begann eine Integrationspolitik. Heute haben rund 44 Prozent der Münchner/innen „Migrationshintergründe“.1 Das Thema Migration ist daher auch Teil der Aufgaben, die sich für die städtischen Institutionen bei der Darstellung gerade der Zeitgeschichte ergeben. So haben das Stadtarchiv und das Stadtmuseum 2015 das gemeinsame Forschungs- und Dokumentationsprojekt „Migration bewegt die Stadt“ gestartet. Ziel ist es, die Geschichte Münchens in einer transkulturellen Perspektive neu zu „lesen“, um auch die große Bedeutung der ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten zu reflektieren und zu repräsentieren, die tatsächlich zur Stadtgeschichte beigetragen haben. Bis 2018 wurden Projekte zur Quellenfindung und -produktion in Zusammenarbeit mit Akteuren und Protagonisten der Münchner Einwanderung durchgeführt, darunter viele Migrantenorganisationen und -verbände.

Ein zentrales Ergebnis ist die Sonderausstellung „Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln“, die mehr als ein Jahr lang – jetzt noch bis Dezember 2019 – im Münchner Stadtmuseum gezeigt wird. Die von einem reich bebilderten Katalog begleitete Ausstellung erstreckt sich über drei Museumsetagen und wird in 15 Stationen mit Informationstafeln (in drei Sprachen: Deutsch, Englisch und Arabisch) präsentiert2, die von gelben Baustellengerüsten getragen werden. Die Stationen sollen eine Art „Querschnitt“ im Erzählkontinuum der Dauerausstellung „Typisch München!“ sein.3 Sie folgen daher weder einer chronologischen Linie, noch sind die Exponate thematisch miteinander verknüpft; sie erzählen als Interventionen die wirtschaftlichen, sozialpolitischen, religiösen und kulturellen Aspekte der Migrationsgeschichte in München.


Abb. 1
(Foto: Francesco Vizzarri)

Die Kurator/innen verstehen die Ausstellung als „Blicköffner für die Stadtgeschichte“ (Katalog, S. 74). Deutlich erkennbar ist dieses Ziel schon beim ersten Exponat im Erdgeschoss, gleich nach dem Eingang: Dort befindet sich eines der improvisierten Plakate „Welcome to Munich“, die 2015 im Münchner Hauptbahnhof zu sehen waren, als die ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien ankamen. Die „Willkommenskultur“ und die dramatische Aktualität der sogenannten „Flüchtlingskrise“ werden auch später in der Ausstellung thematisiert, vor allem bei der Kiste mit Grundnahrungsmitteln (Brot, Wasser, Milch usw.), die den geflüchteten Familien bei ihrer Ankunft in der Stadt zur Verfügung gestellt wurde. Es ist kein Zufall, dass sich diese Station in der Nähe des Sushi-Förderbands befindet, auf dem die typischen Gerichte der bayerischen Küche (Weißwürste, Leberkäse, Semmelknödel etc.) laufen. Das Arrangement unterstreicht den ethischen und ästhetischen Kontrast zwischen dem „Minimalismus“ der humanitären Hilfe („von den Behörden gewährt“, wie der Text sagt) und der Opulenz der traditionellen Münchner Küche.

Im Erdgeschoss befindet sich auch ein Modell des MFI (Münchner Forum für Islam). Es geht um den Bau eines Begegnungszentrums für islamische Kultur, das eine Moschee, eine Bibliothek, mehrere Konferenz- und Veranstaltungsräume, einen Kindergarten, ein Museum, ein Café und eine Bar mit Restaurant umfassen soll. Trotz der politischen und sozialen Unterstützung wurde das Kulturzentrum (dessen Eröffnung anfangs für 2016 geplant war) aus finanziellen Gründen bisher nicht realisiert. Ein Tisch mit Stühlen bietet den Besucher/innen (insbesondere den Kindern) die Möglichkeit, sich über die verschiedenen Religionen in der Stadt zu informieren: Zu diesen gehört neben katholischem und evangelischem Christentum, Islam, Judentum und Buddhismus auch die größte griechisch-orthodoxe Gemeinschaft außerhalb Griechenlands. Generell ist hier Gelegenheit, über religiösen Pluralismus nachzudenken.


Abb. 2
(Foto: Francesco Vizzarri)

In den Obergeschossen gelangt man zum Kern der Ausstellung. Besonders interessant ist dort eine der Geschichte des Bezirks Westend (Schwanthalerhöhe) gewidmete Station, die die Kontinuität hervorhebt: von der Migration im 19. Jahrhundert zu den Wanderungsbewegungen nach der Unterzeichnung bilateraler Abkommen zwischen der Bundesrepublik und mehreren südeuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ab 1820 war das gesamte Münchner Westend durch eine Reihe von Großbaustellen geprägt, die König Ludwig I. von Bayern in Auftrag gab, um die Stadt in ein „zweites Athen“ zu verwandeln – mit Tempeln, Museen und Gebäuden von klarer klassizistischer Inspiration. Der Bezirk wurde später, gerade wegen der enormen Freiflächen, für den Bau von Häusern für die in der Industrie beschäftigten Arbeiter ausgewählt und wurde so zum Ort par excellence einer proletarischen (Unter-)Schichtung, die in den 1960er-Jahren mit der Ankunft der „Gastarbeiter“ fortgesetzt und verstärkt wurde. Während der 1970er-Jahre wurden in diesem Stadtteil zahlreiche Integrationsprojekte und soziale Initiativen gestartet, um die sehr schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen zu verbessern. Dazu gehörte das Bildungs- und Begegnungszentrum „Griechisches Haus“, das in dieser Zeit eine enge Zusammenarbeit mit Institutionen, anderen Migrantenverbänden und der Zivilgesellschaft begann.

Der Beitrag ausländischer Arbeitnehmer/innen zum wirtschaftlichen und industriellen Wachstum der Bundesrepublik wird auch durch den Hinweis auf Streiks und Streikposten bei BMW in den 1970er-Jahren verdeutlicht. Insbesondere die enge Zusammenarbeit zwischen Studentenbewegung, Gewerkschaften, ausländischen Arbeitnehmern und einigen Vertretern der radikalen Linken dient als Beweis für das dichte transnationale Netzwerk, das während der 1970er-Jahre in der Arbeiterbewegung bestand. Ausländische Arbeitnehmer/innen trugen auch zum Erfolg der Olympischen Sommerspiele von 1972 bei, als zusätzliche Kontingente von Arbeitskräften, hauptsächlich aus dem damaligen Jugoslawien, für die Errichtung der Olympiastätten angeworben und eingestellt wurden. Eine Videoprojektion zeigt die Ankunft der „Sonderzüge“ im Münchner Hauptbahnhof. Die Migrantenfamilien wurden dann mit ihrem Gepäck in einen Bunker unter dem Bahnhof gebracht, wo Betten, Toiletten, Duschen und kleine Küchen für ihre Grundbedürfnisse bereitgestellt wurden. Leider werden die Bilder im Museum an eine Wand projiziert, wo bereits Plakate der Olympischen Spiele hängen, was die Wahrnehmung der Projektion sehr erschwert. Angesichts der Bedeutung dieses Themas, das für den „Mechanismus“ der staatlich gesteuerten Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik von besonderer Aussagekraft ist, hätte die Station mehr Platz benötigt.


Abb. 3
(Foto: Francesco Vizzarri)

Abgesehen von solchen (kleinen) Problemen ist der Ausstellungsbesuch spannend, anregend und teilweise kontrovers, wie der sogenannte „Transtopische Teppich“ der in München geborenen deutsch-türkischen Künstlerin und Soziologin Tunay Önder zeigt.


Abb. 4 Tunay Önder, „Transtopischer Teppich“, 2016
(Foto: © Münchner Stadtmuseum)

Der Teppich ist eigentlich eine Collage aus verschiedenen Medieninhalten, vor allem mit sozialem und politischem Hintergrund. Es sind Objekte, die religiösen und kulturellen Vorurteilen widersprechen, Klischees aufgreifen und in gewisser Weise mit der Biographie der Künstlerin verbunden sind. Bemerkenswert sind die auf den ersten Blick bedeutungslosen Textteile, die die Phonetik einiger deutscher Wörter wiedergeben, wie sie von vielen Menschen mit Migrationshintergrund ausgesprochen werden. Die Autorin „spielt“ hier mit den Sprachschwierigkeiten, die vor allem die Eltern vieler jüngerer Menschen türkischer Herkunft haben, weil sie Deutsch als Fremdsprache erst spät im Leben gelernt haben. Önder sieht diese Klänge – die man täglich auf Straßen und Plätzen, in der U-Bahn und an Busstationen in München hört und die somit Teil des soziokulturellen urbanen Gefüges sind – als „Bereicherung“ (Katalog, S. 143). Sie verleiht diesen Wörtern somit eine prägnante kommunikative Dimension, die als Übung zum Überwinden von sprachlichen und kulturellen Tabus dient.

Die Auseinandersetzung mit den Perspektiven, Geschichten und Problemen von Migrant/innen bzw. Migration sowie die Interaktion mit den Exponaten stehen im Mittelpunkt. Und so wird man, während man Büsten und Porträts des späten 19. Jahrhunderts betrachtet, zu einem Interview mit Feyza Palecek geführt. Geboren und aufgewachsen in der Türkei in einer sozialdemokratischen und feministischen Familie, zog sie nach dem Militärputsch von 1971 als Au-Pair-Mädchen nach München und studierte dort Sozialpädagogik. Heute ist sie politisch und sozial sehr aktiv: 1991 gründete sie den Verein „Donna Mobile“, eine Gesundheits-, Beratungs- und Bildungseinrichtung für Migrantinnen.


Abb. 5
(Foto: Francesco Vizzarri)

Der methodische Ansatz der Oral History4 sowie trans- und postnationale Perspektiven ermöglichen es der Ausstellung, ihre Prämissen voll auszuschöpfen: Einerseits stellt sie Migrationsphänomene in ihrer Komplexität durch die Zeugnisse von Migrant/innen dar und geht dadurch über viele andere Museumsprojekte zum Thema hinaus. So sind Migrant/innen nicht mehr nur „Objekte“ der Politik und der Mehrheitsgesellschaft, sondern selbst Autor/innen der Geschichte und damit wahre Protagonisten. Dies erlaubt es, Aspekte oder soziale Gruppen hervorzuheben, die bisher wenig untersucht wurden, etwa Fraueninitiativen oder die zahlreichen Migrantenverbände, die bei der Quellensuche eine Rolle gespielt haben (man denke nur an die Zusammenarbeit mit dem seit den 1970er-Jahren bestehenden italienischen Kulturverein „Rinascita“, der immer noch ein Bezugspunkt für Freizeit- und politisch-kulturelle Aktivitäten für Italiener und Nicht-Italiener in München ist). Andererseits soll mit einem geschickten pädagogischen Einsatz interaktiver Hilfsmittel ein Diskurs beginnen, der keine bloße „Repräsentation“ der historischen Migrationsphänomene bieten, sondern eine reale Beteiligung am Erkenntnisprozess ermöglichen soll. In diesem Sinne kann das „Münchner Kindlspiel“ interpretiert werden, eine PC-Station mit Bildschirm und Drucker, die dazu einlädt, das eigene Wissen über die Geschichte der Münchner Migration zu testen. Die Ergebnisse, die „Münchner-Kindl-Pässe“, können ausgedruckt und an der nahen Wand befestigt werden, um einen „fiktiven Dialog“ mit den anderen Besucher/innen zu führen (Katalog, S. 146f.).


Abb. 6
(Foto: Francesco Vizzarri)

Hier liegt das zentrale Element: Durch de-ethnisierende und transkulturelle Ansätze5 ist die Ausstellung keine „xenologische“ Präsentation von Gegenständen, kein Teil eines Museums, das ein Ort des Wissens und des Diskurses über andere sein will.6 Vielmehr ist sie als Labor, als „sozialer Ort“7 der Begegnung und Diskussion gedacht, als Ort der Inklusion und nicht nur der (reinen) Integration, wo man in einem wahrhaft „post-migratorischen“ Sinne (nach)denken und voneinander lernen kann.

Anmerkungen:
1 Stand Ende 2018; siehe https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtinfos/Statistik/Bev-lkerung/Bev-lkerungsbestand.html (26.07.2019). Die Statistik nennt 16 Prozent „Deutsche mit Migrationshintergrund“ sowie 28 Prozent „Ausländer“.
2 Vorgesehen sind laut Museumswebsite zudem geführte Ausstellungsrundgänge auf Arabisch, Bosnisch, Deutsch, Griechisch, Italienisch, Kroatisch und Türkisch.
3https://www.muenchner-stadtmuseum.de/daueraustellungen/typischmuenchen.html (26.07.2019).
4 Siehe dazu im Katalog: Vivienne Marquart, Neue Quellen: Oral History, S. 200–207.
5 Vgl. Joachim Baur, Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009, S. 362f.
6 Vgl. Gottfried Korff, Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung, in: Henrike Hampe (Hrsg.), Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis, Münster 2005, S. 5–15, hier S. 13.
7 Vgl. Bernhard Graf, Das Museum als sozialer Ort zwischen Museumspädagogik und Sozialarbeit, in: Bärbel Maul / Cornelia Röhlke (Hrsg.), Museum und Inklusion. Kreative Wege zur kulturellen Teilhabe, Bielefeld 2019, S. 33–44, hier S. 34.