Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhr­be­set­zung 1923–1925

Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhr­be­set­zung 1923–1925

Veranstalter
Ruhr Museum
Veranstaltungsort
Essen
PLZ
45309
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.01.2023 - 27.08.2023

Publikation(en)

Cover
Grütter, Heinrich Theodor; Wuttke, Ingo; Zolper, Andreas (Hrsg.): Hände weg vom Ruhrgebiet!. Die Ruhrbesetzung 1923–1925. Essen 2023 : Klartext Verlag, ISBN 9783837525557 207 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Dipper, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Von Zeitenwenden in der Disziplin der Zeitgeschichte ist momentan viel die Rede und Martin Sabrow hat kürzlich ein erhellendes Buch dazu vorgelegt. „Das Projekt der historischen Aufklärung“, heißt es dort, werde durch den Wunsch nach „Geschichte als Identitätsressource“ in Frage gestellt und habe zur Folge, dass der in den 1960er-Jahren endlich durchgesetzte universalistische Maßstab für die Bewertung vergangener Ereignisse neuerdings immer öfter durch Kategorien wie Opferschutz und Betroffenheit ersetzt werde.1

Dem trendigen Viktimismus huldigte auch die inzwischen geschlossene Essener Ausstellung zur Ruhrbesetzung 1923, die schon mit dem kommentarlos übernommenen zeitgenössischen Warnruf – „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ – als Obertitel den Ton setzt: Die Deutschen als Opfer ausländischer Besatzer. Da sich das Ruhr-Museum „als Gedächtnis und Schaufenster der Metropole Ruhr“ versteht, scheint es für seinen Leiter die Aufgabe zu haben, die Vergangenheit grundsätzlich durch das Prisma der Ruhr-Identität zu betrachten. Das mag im Sinne der Geldgeber sein, aber Museen von Rang sind eigentlich universalistischen Gesichtspunkten verpflichtet.

Als Hauptertrag der Ruhrbesetzung, so Heinrich Theodor Grütter in seinem Vorwort, sei der „bedeutende Schub für die Einheit des Ruhrgebietes nach innen, aber auch in der nationalen und internationalen Wahrnehmung“ anzusehen.2 Die Ausstellung versuchte allerdings gar nicht erst, diese durchaus diskutable Identitätsbildung sichtbar zu machen. Stattdessen stellte sie sich, wie schon gesagt, nach Kräften auf die Zeitebene von 1923/25 und übernahm dabei ziemlich einseitig die zeitgenössische deutsche Perspektive, die durch sparsame Kommentierung – mühsam zu entziffernde kleine Aufschriften auf den Vitrinen, die oft auch noch auf den Seitenrändern statt oben angebracht waren, erschwerten die Lektüre außerordentlich – nur unzureichend in Frage gestellt wurde.

Titelbild des Ausstellungskatalogs ist nicht das zeitgenössische Plakat mit dem ominösen Text, der sich gegen eine mit Karabiner bewaffnete raffgierige Marianne richtet, die nach Zechen und Kokereien greift, sondern das sehr bekannte Foto, auf dem zwei französische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett vor dem Essener Hauptbahnhof einen alten pfeifenrauchenden Mann wegjagen − Inbegriff eines unschuldigen Opfers.


Abb. 1: Titelbild des Katalogs Hände weg vom Ruhrgebiet! (Copyright: Stiftung Ruhr Museum)

Rund 200 Exponate, aufgeteilt in sechs Abteilungen, füllten die Ausstellung. Gezeigt wurden behördliche Schriftsätze und anderes amtliches Material – ein Fahrplan der (von den Franzosen betriebenen) Regiebahn blieb wie so vieles unkommentiert, dabei gäbe es gerade hier viel zu erklären, schon allein weil heute Fahrpläne ganz anders aussehen −, Plakate und Anschläge hoheitlichen sowie privaten Ursprungs, Reproduktionen zeitgenössischer Fotografien und der eine oder andere Brief. Das Dreidimensionale trug leider wenig zur Aufklärung über den Ruhrkampf bei. Was sollen die Schirmmütze eines Oberleutnants der französischen Militäreisenbahn, ein belgischer Armeehelm oder der Schreibtisch mit Stuhl aus dem Dienstzimmer des Essener Oberbürgermeisters aussagen? Auch Fahrräder und Karabiner, detailliert beschrieben, liefern eigentlich nichts Spezifisches. Dagegen ist es geradezu fatal, dass die Ausstellung mit dem Denkmalmodell Schlageters Anfang der 1930er-Jahre endete, und zwar ohne kritische Einordnung in den NS-Kult. Beim Verlassen der Ausstellung konnte man glauben, mit der Statue habe schon alles seine Richtigkeit. Dabei ist gerade die Instrumentalisierung dieses von den Franzosen als Saboteur am 26. Mai 1923 hingerichteten und alsbald reichsweit mit Denkmälern geehrten Freikorpskämpfers ein Musterbeispiel für die so verhängnisvolle Wirklichkeitsverweigerung, ja Verdrehung mit Händen zu greifender Tatsachen. Der sofort einsetzende Schlageter-Kult – der Transport seiner Leiche per Bahn am 8./9. Juni 1923 in seinen Heimatort Schönau im Schwarzwald wurde zu einem von rechten und rechtsradikalen (überwiegend Studenten-)Organisationen inszenierten Trauerkondukt mit zehn-, wenn nicht hunderttausenden von Zuschauern3 − wurde nahezu vollkommen ausgespart. Bedauerlich ist auch, dass die Besucher kaum etwas über die Hintergründe für den wirklich bemerkenswerten Vorgang erfuhren, dass der elsässische und wohl protestantische Offizier Étienne Bach am Karfreitag 1923 am Gottesdienst in Datteln teilnahm, wie auch der Beigeordnete Karl Wille, sein „bis dahin erbitterter Gegner“, und sich beide danach die Hände reichten.4 Der Kirchengemeinde Datteln schenkte Bach 40 Jahre später, 1963, einen Abendmahlskelch. Dieser war in der Ausstellung zu sehen, aber die Dattelner Kirchengemeinde hätte sicher mehr mitteilen können als nur diesen lapidaren Sachverhalt; das Geschenk dürfte wohl kaum aus heiterem Himmel gekommen sein.5

Damit sind wir wieder beim Grundproblem dieser Ausstellung. Sie kontextualisierte viel zu wenig und erzeugte dadurch womöglich bei Besuchern irrige Vorstellungen6 – wenn sie nicht gar unbeabsichtigt die alte Rede vom „Erbfeind“ wiederbelebte. Die Vorgeschichte, vor der damals die meisten Deutschen nahezu jeglicher politischer Couleur die Augen verschlossen, wurde auf einer einleitenden Tafel nur kurz und daher unzureichend erklärt. Das französische Flugblatt über die von den Deutschen im Krieg angerichteten immensen Schäden als Rechtfertigung für Reparationen (im Katalogband S. 116. Ebd. das in der Ausstellung daneben angebrachte Plakat der Reichsregierung zu den ihrer Ansicht nach erbrachten Reparations- und Abrüstungsleistungen, das suggeriert, Frankreich verwende die „deutschen Reparationsmilliarden“ zur Aufrüstung) wurde in seiner den Sachverhalt ziemlich korrekt darstellenden Form nicht gewürdigt. Dabei hatte Gerd Krumeich schon 2003 auf die fatale Asymmetrie der Erinnerungen hingewiesen, die damals in Deutschland so gut wie niemand wahrhaben wollte und die so letztlich zur Ruhrbesetzung geführt hat. „Den Deutschen fiel es leicht, die Brutalität der Besetzer anzuklagen: Sie hatten die eigene Brutalität nie erlebt.“7 Es fehlte denn auch in der Ausstellung das bei Krumeich / Schröder abgebildete Plakat, in dem ein „Poilu“ in Briefform seinem „lieben Michel“ die von den Deutschen angerichteten und noch keineswegs beseitigten schweren Schäden in seiner Heimat samt den damit verbundenen Problemen für die dort Lebenden berichtet.8

Kurz: Die Ausstellung fiel hinter die Forschungslage zurück, indem sie vorrangig die damalige deutsche Sicht vorstellte und diejenige der Franzosen, von der belgischen ganz zu schweigen, nur in kleinen Ausschnitten präsentierte. Im Katalogband ist dies zum Glück anders.

Am Ende muss der hier praktizierte Viktimismus noch einmal zur Sprache kommen. Wer waren denn tatsächlich die Opfer? Die Ausstellung war hier eher ungenau, denn dass „die Deutschen“ oder auch nur „die Ruhrbevölkerung“ das hauptsächliche Opfer war, wie Grütter im Vorwort ausführt – 1923 als der Tiefpunkt einer mindestens seit 1916 andauernden Leidensgeschichte −, ist in dieser Pauschalität so trivial wie ungenau. Anderswo in Deutschland war man 1923 auch vor Hunger gestorben. Viel mehr Aufmerksamkeit hätten die namhaft zu machenden bzw. tatsächlich namhaft gemachten Opfer verdient. Da sind zunächst die Toten und Schwerverwundeten sowie die Opfer von Vergewaltigungen zu nennen, zu denen seit 2004 ziemlich genaue Zahlen – genauere wird es nicht geben – vorliegen, aufgeschlüsselt nach deutschen und französischen Erhebungen.9 Aber auch die Besatzungstruppen verzeichneten vom deutschen Widerstand verursachte Todesfälle. Von ihnen war in der Ausstellung nichts zu sehen.10 In besonderem Maße Opfer waren ferner jene Frauen, die als „Franzosenliebchen“ verdächtigt wurden und die vielfach mit Namen und Anschrift per Aushang genannt und damit schutzlos dem „Volkszorn“ preisgegeben wurden. Was ihnen damals passiert ist, wurde nicht recherchiert, obwohl die Kommunalarchive viel Material für die Ausstellung lieferten. Und nicht zuletzt waren die farbigen Truppenangehörigen Opfer eines Rassismus, der heutigen Betrachtern den Atem verschlägt und der die französische Militärführung veranlasste, diese Truppenteile nach kurzer Zeit auf die andere Rheinseite zurückzuverlegen.

Alles in allem war die Ausstellung kein Ruhmesblatt.


Abb. 2: Ausstellungsexponate (Copyright: Stiftung Ruhr Museum )


Abb. 3: Blick in die Ausstellung (Copyright: Stiftung Ruhr Museum )

Anmerkungen:
1 Martin Sabrow, Zeitenwenden in der Zeitgeschichte, Göttingen 2023, S. 60, S. 75, S. 77.
2 Heinrich Theodor Grütter, „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ Vorwort, in: Ders. / Ingo Wuttke / Andreas Zolper (Hrsg.), Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923–1925. Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung im Ruhr-Museum, Essen vom 12.1.– 27.8.2023, Essen 2023, S. 11–13, hier S. 12.
3 In Darmstadt, um nur ein Beispiel anzuführen, traf der Zug mit vielstündiger Verspätung schließlich morgens um 1.45 Uhr ein. Es sprachen der deutschnationale Landtagsabgeordnete Kindt, die Vertreter des Deutschen und des Jungdeutschen Ordens („mit tränenerstickter Stimme“), der AStA-Vorsitzende (wie die ihn begleitenden Abordnungen natürlich in vollem Wichs) und endlich der Rektor der TH. Ihnen antwortete der „Führer des Begleitkommandos“ und berichtete über „den sadistischen Mord“. Musik und Kranzniederlegungen auf dem Katafalk begleiteten die Feier ebenso wie Racheschwüre und Heil-Rufe und gemeinsam gesungene Lieder (das Niederländische Dankgebet, das Deutschlandlied, die Wacht am Rhein, das Stahlhelmlied und zuletzt, obwohl Schlageter einstmals Freiburger Priesterkandidat war, Ein feste Burg). Albert Leo Schlageters Heimfahrt, in: Darmstädter Tageblatt Nr. 158, 10.6.1923, S. 2f., Zitate S. 3.
4 Ingo Wuttke, Ruhrbesetzung 1923–1925. Eine Einführung, in: Katalogband (Anm. 2), S. 15–29, hier S. 27. Ein zeitgenössisches Porträt Bachs ebd., S. 25.
5 Im Westfalenspiegel, Heft 3 vom 15.8.2023, war mehr darüber zu lesen.
6 Nicht immer kann man mit so viel Sachverstand rechnen wie bei den zwei ca. Achtzigjährigen, die der Rezensent im Vorbeigehen miteinander reden hörte und dabei den Satz aufschnappte: „Wenn mein Großvater das hätte sehen können, hätte er die Hände überm Kopf zusammengeschlagen.“ Vielleicht meinten sie unter anderem, dass man die Ausstellung mit der Vorstellung verlassen konnte, der Industrielle Hugo Stinnes habe damals als uneigennütziger Vermittler gehandelt.
7 Zit. nach Andreas Rossmann, Ein Krieg nach dem Krieg. Die Ruhrbesetzung und die rheinischen Rebellen. Eine Tagung in Essen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.6.2003, S. N3. Im 2004 erschienenen Tagungsband tauchen diese Sätze nicht auf, aber natürlich macht Krumeich auch dort das „Problem einer zutiefst asymmetrischen Kriegserinnerung beider Seiten“ als wesentliche Ursache für die Realitätsverweigerung auf deutscher Seite mit den entsprechenden fatalen Folgen fest. Gerd Krumeich, Der „Ruhrkampf“ als Krieg. Überlegungen zu einem verdrängten deutsch-französischen Konflikt, in: ders. / Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs. Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004, S. 9–24, hier S. 13.
8 Ebd., S. 15. Ob in der Ausstellung die von der Besatzungsverwaltung gedruckte Proklamation des in Belgien eingesetzten Gouverneurs von der Goltz vom 5.10.1914 mit dem hinzugefügten Kommentar „Das war die deutsche Methode in Belgien und Frankreich“ zu sehen war, ist mir nicht erinnerlich. Im Katalog ist sie auf S. 164 abgedruckt.
9 Stanislas Jeannesson, Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden, in: Krumeich / Schröder, wie Anm. 7, S. 207–231, Tab. 1 u. 2.
10 Dagegen bei Annette Becker-Deroeux, Das Begräbnis des Leutnants Colpin in Lille am 21. März 1923, in: ebd., S. 257–263.

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