HT 2008: Die Krise der Arbeitsgesellschaft 1973-1989. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext

HT 2008: Die Krise der Arbeitsgesellschaft 1973-1989. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext

Organisatoren
Andreas Wirsching, Universität Augsburg; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Agnes von Bressensdorf, Universität Augsburg

Die „Krise der Arbeitsgesellschaft 1973-1989“ als Thema des Historikertages - Sind die 1970er-Jahre schon seit einiger Zeit Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung, so gerät zunehmend auch die wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Dimension dieses Jahrzehnts „nach dem Boom“ in den Blick des Historikers. Anders als in einer Veranstaltung des Historikertages zur „sozialen Ungleichheit im Sozialstaat“ standen in dieser Sektion unter Leitung von ANDREAS WIRSCHING (Augsburg) der Begriff der „Krise“ und der „Arbeit“ im Mittelpunkt. Bereits in seiner Einführung verwies Wirsching auf die interdisziplinäre Dimension des Themas: War die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ noch 1982 Gegenstand des Soziologentages, so arbeiten heute Historiker, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler im gleichnamigen Projekt des Instituts für Zeitgeschichte (München - Berlin) und des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung (München) fachübergreifend zusammen. Da GEBHARD FLAIG (Ludwig-Maximilians-Universität München) als Vertreter des ifo-Instituts mit seinem Vortrag zu den „institutionellen Determinanten der Entwicklung europäischer Arbeitsmärkte“ leider verhindert war, musste die Sektion ohne dieses wichtige interdisziplinäre Element auskommen. Gleichwohl deckten die Referenten mit Beiträgen zur politischen Wahrnehmung und Reaktion sowie zur Erfahrungsgeschichte in Frankreich, Italien, Großbritannien und der Bundesrepublik ein breites thematisches und geographisches Spektrum ab. Unter dem Leitmotiv des Historikertages - „Ungleichheiten“ - wurde das Thema auf diese Weise in europäisch vergleichender Perspektive untersucht. Die unterschiedlichen Facetten des Strukturwandels der 1970er- und 1980er-Jahre, von der Krise des fordistischen Modells, über die Folgen des Wandels für die industriellen Arbeitsbeziehungen bis zu den institutionell bedingten Unterschieden auf den nationalen Arbeitsmärkten gerieten in den Blick.

Zunächst widmete sich THOMAS RAITHEL (Institut für Zeitgeschichte, München) der Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich und der Bundesrepublik und konstatierte für beide Länder eine quantitative Zunahme der jugendlichen Arbeitslosen über den gesamten Untersuchungszeitraum. In der Bundesrepublik stieg die Arbeitslosenquote dabei, ausgehend von einem bereits bestehenden Sockel, ab 1974 in mehreren Etappen stufenweise an. Im Nachbarland dagegen wuchs sie kontinuierlich auf insgesamt höherem Niveau. Gründe für die vergleichsweise günstige Entwicklung in der Bundesrepublik sah Raithel unter anderem in den unterschiedlichen demographischen Strukturen und der mangelhaften Integration von Migranten durch die französische Politik, aber auch in den Vorzügen des dualen westdeutschen Ausbildungssystems begründet. Angesichts der Jugendkrawalle im französischen Nachbarland sah man in den jugendlichen Arbeitslosen in der Bundesrepublik immer mehr ein gesellschaftliches Gefahrenpotential. Erst seit Mitte der 1970er-Jahre veränderte sich dieses Bild. Mit der schrittweisen Differenzierung dieser Sichtweise auf die arbeitslose Jugend ging auch eine Erweiterung des Arbeitsbegriffes selbst einher. Insgesamt verzeichnete Raithel ein Auseinanderklaffen zwischen Krisenerscheinung und Krisenwahrnehmung in den beiden Ländern, sowie die allmähliche Entwicklung eines differenzierten Problembewusstseins insbesondere auf bundesrepublikanischer Seite.

Auch THOMAS SCHLEMMER (Institut für Zeitgeschichte, München) fokussierte seinen Beitrag zur Langzeitarbeitslosigkeit im deutsch-italienischen Vergleich auf die politische Perzeption und Reaktion, ohne jedoch die psychosozialen Folgen für die Betroffenen zu vernachlässigen. Neben der unterschiedlichen sozioökonomischen Entwicklung der beiden Länder betonte er zunächst die Gemeinsamkeiten zwischen Westdeutschland und Italien: beide waren Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften, beide gehören zur Gruppe der wichtigsten Industriestaaten (G7) und beide könnten entsprechend der Typologie Gösta Esping-Andersens dem konservativen Modell des modernen Wohlfahrtsstaates zugeordnet werden. Die Langzeitarbeitslosigkeit allerdings sei von 1973 bis 1989 in Italien deutlich stärker ausgeprägt gewesen als in der Bundesrepublik. Als Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit nennt Schlemmer für die deutsche Seite vor allem die Folgen des ökonomischen Strukturwandels hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Die neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes seien besonders für alte und gering qualifizierte Arbeitnehmer in Fertigberufen zu einer schier unüberwindbaren Hürde für einen Wiedereinstieg ins Berufsleben geworden. So weise die Gruppe der Langzeitarbeitslosen vor allem die Risikofaktoren Alter, Gesundheit und (mangelnde) Qualifikation auf. Geschlecht und Herkunft spielten demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Je länger die Arbeitslosigkeit dauerte, desto schwerer fiel dabei die Reintegration in den Arbeitsmarkt und umso größer wurde die Gefahr, durch den Wegfall familialer Beziehungen, durch Suchtprobleme und psychosomatische Leiden in einen Abwärtssog zu geraten. Anders als in der Bundesrepublik seien in Italien besonders endogene Krisenfaktoren für die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen ursächlich gewesen. Zur Gruppe der Betroffen zählten hier besonders junge Berufseinsteiger und Erwerbssuchende ohne vorherige Beschäftigung. Der verzögerte Berufseintritt vieler Jugendlicher wurde so zum Normalfall. Erfahrene Arbeiter – auch aus von der Strukturkrise besonders betroffenen Industriebranchen – zählten dagegen nicht zum harten Kern der Langzeitarbeitslosen. Die Gründe dafür seien in der politischen und gesellschaftlichen Kultur Italiens zu suchen: Die Überzeugung, dass verheiratete Familienväter gleichsam ein Recht auf einen Arbeitsplatz hätten und somit bevorzugt behandelt werden müssten, spiegelte sich in der rigiden Ordnung des italienischen Arbeitsmarktes wider. Mit der Cassa Integrazione wurde deshalb ein sozialpolitisches Instrument geschaffen, das die eigentlichen Opfer der Krise auf relativ hohem Niveau und durch erhebliche Belastung der Staatsfinanzen absicherte. Nicht zuletzt deshalb sah sich die italienische Regierung zu keiner Zeit einem ähnlichen politischen Handlungsdruck ausgesetzt wie die deutsche, die den Kampf gegen Arbeitslosigkeit zum Maßstab für den Erfolg ihrer Arbeit erhoben hatte und dementsprechend die Angriffe der Opposition und die Verunsicherung der Wähler zu spüren bekam. Insgesamt sei das System sozialer Sicherung, das Fragmentierung und Desintegration förderte, in beiden Ländern zu einem Motor der Ungleichheit geworden, zumindest in Italien aber nicht unbedingt zu einem Motor der Armut.

Im Anschluss daran nahm KIM CHRISTIAN PRIEMEL (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder) die Rolle der Gewerkschaften im deutsch-britischen Vergleich in den Blick. In seinem Beitrag zeigte er am Beispiel der Druckindustrie die Folgen des technologischen Umbruchs in den 1970er- und 1980-Jahren und die gewerkschaftlichen Reaktionen im Zusammenspiel mit der jeweiligen Regierungspolitik. Den Ausgangspunkt bildete dabei die Doppelfunktion der Gewerkschaften als Verhandlungsmacht der Interessen im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit einerseits und ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Säule, Solidar- und Sinndeutungsgemeinschaft andererseits. Die Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch das Ende des Nachkriegsbooms 1973 und die sich beschleunigende technologische Entwicklung hätten gerade die Druckindustrie wachsender Konkurrenz ausgesetzt. Dies hatte gravierende Folgen für die Beziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmerorganisation, aber auch für deren Verhältnis zu ihren Mitgliedern. Die Gewerkschaften hätten dabei vor einem Dilemma gestanden: Einerseits sahen sie in den Forderungen der Arbeitgeber nach Flexibilisierung der Arbeitsanforderungen die Chance auf Neu- und Höherqualifizierung und damit auf Arbeitsplatzsicherung. Andererseits standen dem die Steigerung des Arbeitstempos, die Abqualifizierung bisheriger Berufe und die Reduzierung des Personals im Zeichen neuer Technologien gegenüber. Dieser Drahtseilakt sollte mit der Forderung nach Umverteilung der verfügbaren Arbeit, nach Konservierung bestehender Berufsbilder, der Reservierung neuer Arbeitsplätze für Gewerkschaftsmitglieder und zugleich mit der Forderung nach Ausweitung der Bildungsangebote und Mitsprache bei der Einführung neuer Technologien gelingen. Neben diesen konkurrierenden Zielen hätten sich die Gewerkschaften jedoch einer zunehmenden Legitimitätskrise ausgesetzt gesehen, verloren sie doch als Vertreter der erwerbstätigen Arbeitnehmer mit dem strukturellen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit mehr und mehr ihre Klientel. Ihr stand eine wachsende Zahl arbeitloser, nur noch potentieller Arbeitnehmer gegenüber, als deren Vertreter sich die Gewerkschaften nicht sahen oder sehen wollten. Hier kam die spannende Frage auf, wer sich denn – in Abhängigkeit von der politischen Kultur des jeweiligen Landes – als Vertreter der Arbeitslosen verstand.

Daran anknüpfend postulierte WINFRIED SÜß (Ludwig-Maximilians-Universität München) in seinem Kommentar „Arbeit“ als wichtigste Determinante von Ungleichheit und warf die Frage nach dem Gewicht der Arbeitsmarktpolitik innerhalb der Sozialpolitik eines Landes auf. In der anschließenden Diskussion wurde die Eignung des Krisen-, aber auch der Wandel des Arbeits- und Jugendbegriffs debattiert. Auch die Frage nach der Verschränkung von Sozial- und Bildungspolitik wurde angesprochen. Daneben forderten einige Teilnehmer eine genauere Untersuchung der psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen. Ähnlich wie in anderen Sektionen dieses Historikertages, kamen auch hier die Frage nach der geschlechterspezifischen Binnendifferenzierung der einzelnen Themenkomplexe und damit die Frage nach sozial(politisch)en Ungleichheiten zwischen Mann und Frau auf. Insgesamt machte die Sektion eindrucksvoll den Facettenreichtum des Themas deutlich. Diese Vielschichtigkeit öffnet nicht nur den Raum für eine Renaissance der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften innerhalb der Geschichtswissenschaften, sondern lädt zugleich ein zu einer produktiven interdisziplinären Zusammenarbeit, wie sie mit den laufenden Projekten angestrebt wird.

Sektionsübersicht:

Andreas Wirsching (Augsburg): Einführung

Thomas Raithel (München): Jugendarbeitslosigkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich

Thomas Schlemmer (München): Langzeitarbeitslosigkeit als Schicksal und politisches Problem. Die Bundesrepublik Deutschland und Italien im Vergleich

Kim Christian Priemel (Frankfurt an der Oder): Überdruck. Gewerkschaften in Westdeutschland und Großbritannien zwischen Krisenmanagement, Anpassung und Absturz

Gebhard Flaig (München): Institutionelle Determinanten der Entwicklung europäischer Arbeitsmärkte (entfallen)

Winfried Süß (München): Kommentar


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