Polen ist ein Land in Bewegung. Außenpolitisch hat es seine wichtigsten Ziele, die EU und die NATO-Mitgliedschaft, erreicht, wirtschaftlich befindet es sich in einer Aufholjagd – selbst die globale Finanzkrise wirkt sich nur moderat auf seine ökonomische Verfassung aus. Die Weichenstellung für diese erfolgreiche Entwicklung – der freie Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr mit Ländern der Europäischen Union – erfolgte bereits lange vor dem EU-Beitritt. Eine spürbare Änderung für die Menschen sollte der 1. Mai 2004 aber doch mit sich bringen: Freizügigkeit für Polens Arbeitnehmer, die zum ersten Mal in der Nachkriegszeit die Möglichkeit hatten, legal in „westlichen“ Ländern nach Arbeit zu suchen. Allerdings öffneten zunächst nur drei Länder – Großbritannien, Irland und Schweden – die eigenen Arbeitsmärkte für Polen, andere Alt-EU-Staaten folgten. Als letzte werden Deutschland und Österreich die Arbeitsmarktbeschränkungen vollständig abbauen.
Diese beiden Länder sind traditionelle Zielländer der Wanderungen aus Polen in den letzten Jahrzehnten. In Deutschland lebt die zahlenmäßig größte polnischsprachige Gemeinschaft in Europa (etwa 2 Millionen, polnischsprachige Spätaussiedler eingerechnet) und ist bereits weitgehend in den Arbeitsmarkt und in die Sozialsysteme integriert. Die Kinder der 1980er-Migranten („Generation Podolski“) erobern langsam, aber unaufhaltsam die deutsche Öffentlichkeit: ob im Feuilleton (Adam Soboczynski), auf der Bühne (Thomas Godoj), auf dem Fußballfeld (Lukas Podolski, Miroslav Klose, Piotr Trochowski), in der Politik (Agnieszka Malczak) oder auf der Leinwand (Patrycia Ziolkowska, Natalia Avelon).
In dem Spannungsbogen zwischen der Bedeutung der Polnischsprachigen in Deutschland und dem realen Migrationsgeschehen aus Polen nach 2004 bewegt sich das Themenspektrum des aktuellen Jahrbuchs Polen 2010 Migration, das vom Deutschen Polen-Institut herausgegeben wird. Basil Kerski fordert in seinem Beitrag die deutsche Politik wie die Öffentlichkeit auf, polnische Motive der deutschen Einwanderungsgeschichte deutlicher wahrzunehmen, und ermuntert die polnischen Einwanderer, den Schritt „Raus aus dem Migrantenstadl“ (Ilja Trojanow) zu wagen. Uwe Rada konstatiert einen nachhaltigen Wandel in der deutschen Wahrnehmung polnischer Einwanderer und Bartosz Wieliński titelt „Jetzt kommen die Polen mit den dicken Portemonnaies“. Elmar Hönekopp analysiert den deutschen Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund seiner vollständigen Öffnung für polnische Arbeitnehmer 2011. Mehrere Autoren diskutieren die Ursachen und Auswirkungen der jüngsten Migration nach 2004 auf Polen und auf Großbritannien als beliebtestes Zielland (Michał Garapich, Krystyna Iglicka, Katarzyna Kulczycka). Über polnische Immigrationspolitik berichtet Anna Kicinger.
Im Literaturteil des Jahrbuchs finden sich Prosawerke von Manuela Gretkowska, Janusz Głowacki, Paulina Schulz, Janusz Rudnicki, Andrzej Bobkowski und Gedichte von Stanisław Barańczak. Unsere Chronik „Mein Jahr“ hat der Danziger Autor Paweł Huelle geschrieben.
INHALTSVERZEICHNISJahrbuch Polen 2010 Migration
Vorwort
Essays
Basil Kerski: Hybride Identitäten. Migrationen aus Polen – Geschichte und Gegenwart
Bartosz Wieliński: Jetzt kommen die Polen mit den dicken Portemonnaies
Uwe Rada: Germanys next pole position. Elf Bemerkungen zum Wandel des Bildes der Deutschen von ihren Polen
Rainer Mende: Grenzgänger, Wurstmenschen und Mythenzersetzer. Ein kleines Porträt polnischsprachiger Literatur aus Deutschland
Michał P. Garapich: Die Nomaden Europas – Polnische Migranten in der Risikogesellschaft
Krystyna Iglicka: Kosten- und Nutzenbilanz der neuesten Arbeitsmigrationswelle aus Polen
Magdalena Nowicka: „Hängen geblieben“. Bildungsmigranten aus Polen und ihre Zukunftsperspektiven in Deutschland
Anna Kicinger: Einwanderungspolitik in einem Auswandererland
Reportage
Katarzyna Kulczycka: To go or not to go. Nach Schottland sollte er nur für ein Jahr gehen
Analyse
Elmar Hönekopp: Polen auf dem deutschen Arbeitsmarkt: Chancen für Fachkräfte, Risiken für Niedrigqualifizierte
Literatur
Jacek Kaczmarski: Unsere Klasse Janusz Głowacki: Amerika Manuela Gretkowska: My zdies’ emigranty Teresa Torańska: Wir sind da. Abschiede ’68 Janusz Rudnicki: Hamburger Dreierpack Paulina Schulz: Literatur als Heimat Andrzej Bobkowski: In der Etappe Stanisław Barańczak: Gedichte
Mein Jahr
Paweł Huelle: Was ist Vergangenheit? Mein Jahr 2009
Bibliografien: nur online (www.deutsches-polen-institut.de)