Unsere Welt ist voll von Erinnerungsorten. Denkmäler sind dabei die offensichtlichsten Versuche, unserem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen oder auch, es zu beeinflussen. Auch nach Personen oder historischen Ereignissen benannte Straßen, Plätze oder Häuser erinnern an Vergangenes. Daneben sind viele Orte für uns mit je sehr persönlichen Erinnerungen verbunden. Daß sich öffentliche und privat-persönliche Erinnerung aber auch auf eine ganz eigene Weise vermischen kann, zumal im Medium Literatur, zeigt sich zum Beispiel in der Beschäftigung mit Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. Im ersten Beitrag unseres Thementeils führt Christine Ruppert aus, »wie eng in der Erinnerungspoetik von Benjamins ›Berliner Kindheit‹ die individuellen und kollektiven Anteile der von den Stadtorten evozierten Erinnerungen miteinander verwoben sind«. So interessiert sich das Kind beim Betrachten der Denkmäler rund um die Siegessäule eher für die Miniatur des Domes in der Hand des Bischofs als für die Figur des in Stein gehauenen Mannes.
Erinnerungen sind aber auch etwas, das verwischt wirken kann, vernebelt. Und doch erscheinen immer wieder Strukturen, die ein klares Bild ergeben, ein klareres vielleicht, als zu der Zeit, als die Dinge noch Gegenwart waren. Die Illustrationsreihe, die Johanna Neubert mit Tusche und Bleistift für dieses Heft erstellt hat, spielt mit diesem Phänomen und erweitert auf ihre Weise gekonnt das Spektrum des Thementeils.
Schwierig ist die Entscheidung, was für unser kulturelles Gedächtnis wichtig ist: Was soll aufbewahrt werden, was nicht? Mit solchen Fragen beschäftigen sich täglich die Mitarbeiter von Archiven. Angela Gencarelli hat Hanneliese Palm, Leiterin des Fritz-Hüser-Instituts für Arbeiterliteratur befragt, und interessante Aspekte der Gedächtniskunst im Archiv ausfindig gemacht.
Darüber hinaus steht vieles andere mit den Phänomenen des Erinnerns und Vergessens in mal engerer, mal weiterer Verbindung, wie auch die Beiträge unserer übrigen Rubriken zeigen. Mit Autoren, die unserem kulturellen Gedächtnis (beinahe) entfallen sind, beschäftigt sich seit 2001 unsere Reihe Vergessene Autoren des 20. Jahrhunderts: Diesmal stellt Tim Kangro dort das Schaffen Heinrich Hausers vor.
Daß auch die Sprachwissenschaft immer wieder Kunststücke zwischen Erinnern und Vergessen vollbringt, wird in Sonja Paslighs Aufsatz zur Dialektologie deutlich. Im neuesten Beitrag zu unserer Serie In der Tat: Linguistik stellt sie eine zunehmende Popularität von Dialekten fest, beschreibt in einem historischen Überblick über die Disziplin aber auch die Schwierigkeiten, Dialekte wissenschaftlich zu erfassen, da frühere Ausdrucksformen wegen einer fehlenden Schriftlichkeit vergessen sind. Und in unseren Rezensionen illustriert Grischka Grauert das ›Minenfeld‹ Gedächtniskunst und berichtet von einem spannenden Recherchefehler in Robert Löhrs »Hamlet-Komplott«.
Im Literaturteil, bei dessen Realisierung uns der Deutsche Literaturfonds dankenswerterweise wieder einmal unterstützt hat, werden Sie immer wieder Gedächtniskünstlern begegnen, zum Beispiel dem Erzähler in Jan Kuhlbrodts Erzählung »Zassi«, der feststellt: »Darüber hinaus speist sich mit Fortdauer der Zeit alles Leben mehr aus Erinnertem, als aus Erlebtem.«
Frei nach diesem Motto hat sich auch die Redaktion entschlossen, anläßlich der runden Zahl von 20 Heften ein wenig Erinnerungsarbeit zu leisten und einen Registerband zu den bisher in der »Kritischen Ausgabe« erschienenen Beiträgen zu erstellen. Diesen werden wir Ihnen in Kürze auf unserer Website als PDF-Dokument zum Download bereitstellen und zukünftig mit jedem neuen Heft aktualisieren. Regelmäßig aktualisiert wird übrigens auch unser Online-Feuilleton »K.A. plus«, das wir Ihnen im Laufe des Jahres in neuer Aufmachung präsentieren werden. Schauen Sie also wieder mal unter <http://www.kritische-ausgabe.de> vorbei!
THEMA
Christine Ruppert: Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert: Die Siegessäule als Ort der Inszenierung von kollektivem Gedächtnis
Ruth Neubauer-Petzoldt: »Meine kleine deutsche Revolution«. Der Erinnerungsort 1968 im Spiegel biographischer Literatur
Anita-Mathilde Schrumpf: Erinnern in poetologischer Funktion. Rhythmische Verfahren in Hölderlins Elegien
Richard Millington: Durch Dichtung zur Wahrheit. Gedächtniskrisen als Erzählimpuls in Max Frischs Zürcher Trilogie
Angela Gencarelli: »Aus einem Altpapierlager erworben«. Ein Interview mit Hanneliese Palm, der Archivarin und Leiterin des »Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt«
Andre Kagelmann: Der Krieg als Vorschule des Lebens. Erinnerungsdiskurse in der Kriegsliteratur der Weimarer Republik
Marcel Egbers: Gefälschte Erinnerungen. Gedächtnismanipulation in modernen Dystopien
Ute Friederich: Erinnerungen zum Verstummen gebracht. Pat Barkers Regeneration Trilogie und die Dialektik von Erinnern und Verdrängen
Florian Gassner: Zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Rezeption von Friedrich Schillers Wilhelm Tell und Walter Scotts Waverley
Rezensionen
Grischka Grauert: Goethe und das Geheimnis des jüdischen Goldschmieds. Robert Löhrs Roman Das Hamlet-Komplott
Miriam Dovermann: Der Popkultur Versöhnung mit dem Leben? Dirk Bernemanns Vogelstimmen schlagen hoffnungsvolle Töne an
Benedikt Viertelhaus: Ausschnitte aus dem Leben eines Verunsicherten. Sebastian Brocks Roman Kurze Visite
Portrait
Giuliano Lozzi: Margarete Susman (1872–1966). Ein Porträt ihres weiblichen Denkens und Schreibens
Forschung
Wilko Steffens: Der ›Irrlauf im Kopf‹. Angst und Opposition in Herta Müllers Herztier
Alexander Klaehr: Sprache und Nation. Zur Problematik der sprachlichen und nationalen Zugehörigkeit Südtirols
Philipp Hubmann: Die Entdeckung des Nicht-Orts. Ikonizität, Identität und Transit in amerikanischen Flughafen-Komödien der Gegenwart
Katharina Rein: Keine Kultur ohne Mord. Der Sammelband Killer/Culture widmet sich dem Serienmord in Artefakten der populären Kultur
Benedikt Viertelhaus: Die »besten Bissen« von Raabes Kuchen? Ein Einblick in die jüngere Forschungsliteratur anläßlich des 100. Todestages Wilhelm Raabes (1831–1910)
In der Tat: Linguistik
Sonja Pasligh: Was ist und zu welchem Ende betreibt der Sprachwissenschaftler Dialektologie? Wie der Dialektsprecher im Wandel der Zeit zur unterschiedlich motivierten Betrachtung der Dialekte animierte
Vergessene Autoren
Tim Kangro: Die Welt, vom Steuerrad gesehen. Heinrich Hauser – Fiktion, Autobiografie und Reportage zwischen Neuer Sachlichkeit und Seefahrtsromantik
Literatur
Martin C. Stoffel: Anamnese
Jan Kuhlbrodt: Zassi / Kosmonauten
Markus Hallinger: Erste Photos / Erste Helden / Erster Pullover
Dirk Walbrühl: Nachtgedanken III / Nachtgedanken VII
Radosław Wiśniewski: JAR / Westerplatte (Gedichte in Original und Übersetzung von Karolina Rakoczy)
Jürgen Theobaldy: Die kleinen Examen / Nach dem Krieg / Letzte Abende / Ohne Anleitung / Nach dem Anfang / Scharfe Augen
Sören Wuttke: GELENKEN VERINNERN SÖHNEN / FELDPOST ÜBERMITTLUNGSZUWACHS GEWISSER / WENN MAN VOM TÄUFER SPRICHT (Gedichte aus arminia-material)
Thomas Antonic: ELVIS, DANTE, ORPHEUS. (Aus dem Mittelteil eines längeren Prosatextes)
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