Möglichkeiten neuer migrationsgeschichtlicher Impulse der Südosteuropaforschung
Migrationsgeschichte zu schreiben, bedeutet Migration als mehr oder weniger dauerhafte Umsiedlung des Menschen von Punkt A zu Punkt B in vielfacher Weise zu problematisieren. Ausgehend von der Annahme, dass Migration ein Problem darstellt, wenn auch zunächst im wissenschaftlichen Sinne, gelangen nicht wenige Migrationsforscher_innen früher oder später an dem Punkt an, ihre möglicherweise höchst aufschlussreichen empirischen Befunde zugunsten einer fragwürdigen Verständlichkeit oder gar „Anwendbarkeit“ in Form von mitunter verkürzten Schlussfolgerungen zurückzustellen, die versprechen, das „Problem“ der Migration wissenschaftlich oder gar politisch „lösen“ zu können. Dies ist vor allem der Fall, wenn sie sich bei der Auswahl ihrer analytischen Kategorien auf vorwiegend politische (Steuerungs-)Konzepte wie z.B. „Integration“ einlassen.
Die Migrationsforschung, so auch jener Teil, der sich den Migrationsprozessen in und aus Südosteuropa widmet, bleibt weitgehend ohne eine derartige Hinterfragung des eigenen Forschungsgegenstandes.
Das „(post-)jugoslawische Berlin“
Während in den letzten Jahren Studien über die Migration aus verschiedenen Teilen Südosteuropas in die Bundesrepublik Deutschland deutlich zugenommen haben und auch die Migrationsbewegungen von Menschen aus dem jugoslawischen Raum in vielfältiger Weise untersucht wurden, sind Beiträge über die Zuwanderung von „Jugoslawen“ nach Berlin eher die Ausnahme. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die bestehenden migrationsgeschichtlichen Arbeiten der Südosteuropaforschung nicht selten einen Bogen um die (post-)jugoslawischen Migrant_innen in der aktuellen Hauptstadt Deutschlands bzw. dem früheren West-Berlin machen. Dabei stellt Berlin, möglicherweise sogar noch mehr als andere vergleichbare europäische Großstädte ein besonders „günstiges“ Fallbeispiel dar, das sich zur Erforschung sowohl der Zu- oder Abwanderungsprozesse aus anderen Teilen der Welt als auch der bundesrepublikanischen Binnenmigration anbietet.
Die Berliner „Vielfalt“ in ihren unterschiedlichen Teilaspekten untersuchen die thematischen Beiträge dieser Ausgabe, indem sie verschiedene Lebenswelten fokussieren, die sich über die letzten Jahrzehnte infolge der jugoslawischen Migrationen in die Großstadt Berlin entfalteten. Diese wie auch hoffentlich weitere ähnliche Untersuchungen versprechen dabei sowohl aus der Sicht der Stadtgeschichte Berlins als auch der Geschichte der Migration in die Bundesrepublik aufschlussreiche Erkenntnisse. Fasst man die hier publizierten thematischen Beiträge zusammen, die einzeln sehr unterschiedlichen Fragen rund um den Alltag, die Arbeit und die Freizeit oder das „religiöse Leben“ der Berliner „Jugoslawen“ nachgehen, zeichnet diese Ausgabe ein neues Bild der Stadt – eines „(post-)jugoslawischen“ Berlins.
INHALTSVERZEICHNIS
Ruža Fotiadis Der Balkan im Kochtopf. Essen und Ethnizität, Konsum und Kultur am Küchentisch 12
Vladimir Ivanović Die jugoslawischen Fabriken guten Geschmacks 24
Matthias Thaden Berichte von der „bauštela duha“. Die kroatische katholische Mission in Berlin zwischen Seelsorge und Identitätsstiftung 44
Amir Duranović Das religiöse Leben der „Gastarbeiter“ aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren 67
Edda Heyken „Das ist ein Traum, der fast zwanzig Jahre dauert“. Über die Suche nach individuellen Erinnerungsformen bosnisch-herzegowinischer Frauen und Männer in Berlin zum Umgang mit den Erfahrungen von Krieg, Flucht und Unsicherheit 78
Matthias Thaden und Alexander Praetz Turbofolk reconsidered. Some thoughts on migration and the appropriation of music in early 1990s Berlin 92
Aus der Südosteuropaforschung
Vladimir Ivanović Miroslav Jovanović in memoriam 127
Beiträge
Đorđe Tomić All that Folk. Wissenschaftliche Untersuchungen und Repräsentationen der Folk-Musik im (post-) jugoslawischen Raum 131
Janis Nalbadidacis Tagungsbericht: „Revolutions in the Balkans. Revolts and Uprisings in the Era of Nationalism (1804–1908)“, Athen, 31.10–02.11.2013 163
Andreas Guidi Forschungsexkursion „Grad na tromeđi: Karlovac, Bihać, Zadar – Iskustva Granice“, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, 23–28. September 2013. Exkursionsbericht 167
Dario Brentin “Football in Southeastern Europe: From Homogenization to Reconciliation”, London, 11.11.2013. Workshop review 172
Robert Lučić „Südosteuropa – Eine Region im Umbruch / Europe du Sud-est – Une région en bouleversement. Aktuelle Ansätze der französisch-deutschen Südosteuropaforschung”, Paris, 20.–21.03.2014. Workshopbericht 175
Neuerscheinungen 180
Autor_innen 191