Zwischen religiöser Tradition, kommunistischer Prägung und kultureller Umwertung: Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas seit 1989

Zwischen religiöser Tradition, kommunistischer Prägung und kultureller Umwertung: Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas seit 1989

Projektträger
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.06.2006 - 31.07.2008
Von
Stefan Troebst

In den Jahren 2006 bis 2008 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Leipziger Forschungsprojekt „Zwischen religiöser Tradition, kommunistischer Prägung und kultureller Umwertung: Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas seit 1989/Religious Tradition, Communism and Cultural Reevaluation: Transnationalism in Post-1989 East European Cultures of Remembrance“. Die am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) tätige interdisziplinäre Projektgruppe wird von Prof. Dr. Stefan Troebst geleitet. Projektbearbeiterinnen und -bearbeiter sind die Kunsthistorikerin Dr. Agnieszka Gasior, die zugleich als Projektkoordinatorin fungiert, der Romanist Dr. Vasile Dumbrava, die Ethnologin Agnieszka Halemba Ph. D., der Historiker Wilfried Jilge M. A.. die Literaturwissenschaftlerin Anne C. Kenneweg M. A., und die Kulturwissenschaftlerin Dipl.-Kulturwiss. Rumjana Mitewa-Michalkowa.

Das Projekt verfolgt das Ziel, in einer Kombination von literaturwissenschaftlichen, kunsthistorischen, kulturgeschichtlichen sowie ethnologischen Herangehensweisen sowie in vergleichender Perspektive solche transnationale Kurz- und Langzeitfaktoren zu untersuchen, welche die Erinnerungskulturen im Ostmitteleuropa der Gegenwart prägen. Im Zentrum stehen dabei die longue durée der Religion(en), die Halbwertzeit der Zivilreligion des Kommunismus sowie aktuelle Entwicklungen wie Diktaturbewältigung, Demokratisierung und Rückkehr zur Religion. Tertia comparationis prä- wie transnationaler Art sind die religiös konnotierten, aber kulturell wie gerade auch politisch operablen Erinnerungsorte Antemurale, Marienkult und Cyrillo-Methodiana. Diese drei Topoi sollen zum einen diskursanalytisch auf der Ebene nationaler Gesellschaften, zum anderen mittels Feldforschung untersucht werden. Zentrales Argument des Teilprojekts ist, dass lange Dauer, Ubiquität und Frequenz der drei Topoi in ihrer Verschränktheit ein mesoregionales Spezifikum, ja ein historisches Strukturmerkmal Ostmitteleuropas darstellen. Dass alle drei nach 1989 bezüglich der Jugoslawienkriege, mit Blick auf die Osterweiterung der Europäischen Union und/oder zur Abgrenzung gegenüber “Eurasien”, “Osteuropa”, “Balkan” und “Islam” wirkungsmächtig instrumentalisiert wurden, dient als Begründung für dieses Forschungsdesign.

Die Projektarchitektur basiert auf vier Teilprojekten:

(1) Die gedächtnisstrukturierende Denkfigur des Antemurale-Topos soll als literarische Inszenierung als auch als politische Instrumentatilisierung untersucht werden. Seit dem 14. Jahrhundert findet der Terminus „antemurale christianitatis“ (Vormauer des Christentums) als Fremdzuschreibung und als Ausdruck des kulturellen Selbstverständnisses fast überall in Ostmittel- und Südosteuropa, besonders aber in Kroatien und Polen, Verwendung. Die Vorstellung, “Bollwerk des christlichen Abendlands”, “Europas”, der “westlichen Zivilisation” u. a. zu sein, erscheint in den ostmitteleuropäischen Erinnerungskulturen als wirkunsgmächtiges Bild, mit dessen Hilfe Deutungsmuster der nationalen Vergangenheit entwickelt werden und eine kulturelle (Selbst-)Verortung zwischen Ost und West vorgenommen wird. Die Antemurale-Denkfigur ist dabei bedeutungsoffen und kann mit unterschiedlichen konfessionellen, nationalen oder weltanschaulichen Inhalten gefüllt werden. Das Teilprojekt untersucht die Verwendungs- und Funktionsweisen der Antemurale-Konzeptionen mit literaturwissenschaftlichen Methoden anhand von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten. Dabei soll sowohl nach der ästhetischen Gestaltung und sinnstiftenden Funktion der Vormauer-Vorstellungen im literarischen Text, insbesondere im (neo-)historischen Roman, gefragt werden, als auch danach, wie diese Figur in politischen Essays und anderen publizistischen Genres genutzt wird, um in erinnerungspolitische Prozesse einzugreifen.

(2) Der Marienkult als ostmitteleuropäischer Erinnerungsort soll mit Schwerpunkten auf kirchlicher Kultbildpraxis, staatlicher Repräsentation und künstlerischer Verarbeitung analysiert werden. Dieser Kult spielt in den visuellen Erinnerungskulturen der Länder Ostmitteleuropas vor und nach 1989 im Spannungsfeld von Religion, Nation und Kunst eine zentrale Rolle. Die kulthafte Verehrung der Jungfrau Maria liefert insbesondere in den katholischen Ländern Polen und Kroatien einen bedeutenden Beitrag zur nationalen Identitätsfindung, ist aber auch in multikonfessionellen Staaten wie der Ukraine, der Tschechischen Republik, Bosnien und Herzegowina und der Slowakei präsent. Die Vorstellung von Maria ist einerseits allumfassend, andererseits aber an konkrete Orte bzw. Darstellungen gebunden, insbesondere dann, wenn es um die Funktionalisierung des Marienschutzes – z. B. als “Königin von Polen” – geht. Entsprechend bildet die medienübergreifende Analyse der (Kult-)Bild-Praxis und der Kultstätten den Ausgangspunkt des Projekts. Ausgehend von Polen, einem Land mit besonders ausgeprägter Marienaffinität, gilt es an Fallbeispielen visuelle Strategien im Umgang mit Mariensymbolik hinsichtlich ihrer Nutzbarmachung im Dienste nationaler bzw. politischer Interessen zu ermitteln, Kroatien und Bosnien-Herzegowina mit objektbezogenen Funktionsanalysen einzubinden und schließlich komparatistisch nach der Transnationalität dieses Erinnerungsortes zu fragen.

(3) Cyrillo-Methodiana bzw. die Symbolfiguren der „Slavenapostel“ Kyrill und Method stellen einen zentralen Erinnerungsort der orthodoxen, aber auch etlicher nicht-orthodoxer Regionen Ostmitteleuropas dar. Bei der Analyse von Funktion und Bedeutung der Transnationalität öffentlicher Erinnerungskulturen in der westlichen Peripherie der Slavia Orthodoxa, also in Belarus’, der Ukraine, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und den südlichen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, nach 1989 kann dieses Figurenpaar als Vergleichsfolie und repräsentativer Erinnerungsort dienen. Am Beispiel einschlägiger Gedenktage, Denkmalsprojekte und anderer Quellen der visuellen Kultur soll danach gefragt werden, ob und warum Kyrill und Method Orte des Erinnerns von religiösen, kulturell umgewerteten sowie panslawisch-kommunistisch konnotierten Traditionsbeständen bilden und inwiefern diese konnotative Trivalenz ein Spezifikum der Erinnerungskulturen der Region darstellt.

(4) Die den drei genannten Teilprojekten zu Antemurale, Marienkult und Cyrillo-Methodiana zugrunde liegenden Arbeitshypothesen sollen nicht nur diskurs- und textanalytisch, sondern mittels ethnologischer Feldforschung auch praktisch-empirisch überprüft werden. Dies soll an der geographischen wie thematischen Schnittstellte der drei beschriebenen Fragestellungen, nämlich in der Karpatenregion, genauer in den zentralen Waldkarpaten im ukrainisch-slowakischen Grenzgebiet, geschehen. Diese metropolenfreie “innere Peripherie” Ostmitteleuropas, welche Teile der Ukraine, Polens, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens umfaßt, weist ein strukturelles Merkmalscluster auf, das zum einen singulär ist, zum anderen alle drei Projekttopoi in ungewöhnlicher Dichte enthält. Der transnationale Diskurs über ein karpatenweites ethnokulturelles Identifikationsmuster “Russine” griechisch-katholischer Prägung in der Übergangszone von den ostslavischen zu den westslavischen Idiomen enthält zahlreiche Verweise auf die „Slavenapostel“, wie dies zugleich im orthodoxen Gegendiskurs “Ukrainer”, partiell auch “Russe”, ja sogar in der slowakischen historischen Meistererzählung der Fall ist. Desgleichen ist hier Marienverehrung samt entsprechenden Gedenkorten ist ein transkonfessionelles Phänomen. Und die Antemurale-Konzeptionen der jeweiligen nationalen Zentren werden im Karpatenraum durch eine peripherale „Ante-Antemurale“-Komponente ergänzt. Orte der Feldforschung werden zwei Brennpunkte des Marienkults sein, nämlich Klokocov in der Ostslowakei und Dzublyk im transkarpatischen Teil der Ukraine.

Projektpartner sind die Carpathian Foundation (Kosice, Slowakei), The Romanian Institute for Recent History (Bukarest, Rumänien), Instytut Etnologii i Antropologii Kulturowy Uniwersytetu Warszwawskiego (Institut für Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Warschau, Polen), Poludniowo-Wschodni Instytut Naukowy (Wissenschaftliches Süd-Ost-Institut, Przemysl, Polen), Katedra za sociologija na Pravno-istoriceski fakultet na Jugozapadnija Universitet “Neofit Rilski” (Lehrstuhl für Soziologie der Juristisch-historischen Fakultät der Südwest-Universität “Neofit Rilski, Blagoevgrad, Bulgarien) und das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (Halle/S.). Eine erste Projekttagung wird vom 22. bis 25. März 2007 in Leipzig stattfinden.