M. Sabrow u.a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung?

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Titel
Wohin treibt die DDR-Erinnerung?. Dokumentation einer Debatte


Herausgeber
Sabrow, Martin; Eckert, Rainer; Flacke, Monika u.a.
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günther R. Mittler, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Heidelberg

Mit dem „Verschwinden der DDR und dem Untergang des Kommunismus“ (Charles S. Maier) hat sich in der Bundesrepublik die historische Aufarbeitung der SED-Diktatur zu einem Grundpfeiler staatlicher Erinnerungspolitik entwickelt. Gemeinsam mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus bildet die Geschichte der zweiten deutschen Diktatur den festen Kern einer staatlich verordneten Erinnerungskonzeption, die sich der Aufrechterhaltung eines „antitotalitären Konsens[es] in der Gesellschaft“ und des „Bewusstsein[s] für den Wert der freiheitlichen Demokratie“ verpflichtet sieht.1 Doch während die Art und Weise des erinnerungspolitischen Umganges mit der nationalsozialistischen Vergangenheit inzwischen weitgehend konsensfähig zu sein scheint und in jüngster Zeit allenfalls zu museumspädagogischen Kontroversen geführt hat2, ist der „richtige“ Weg der DDR-Erinnerung umstritten.

Wie umkämpft das Feld der DDR-Erinnerung in der Bundesrepublik tatsächlich ist, hat zuletzt die im Jahr 2006 stattgefundene Debatte über die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‘Aufarbeitung der SED-Diktatur’“ gezeigt. Diese Debatte umfassend nachzuzeichnen macht sich der vorliegende, von der Expertenkommission um deren Vorsitzenden, den Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow, herausgegebene Band zur Aufgabe.

Eingesetzt noch unter der rot-grünen Bundesregierung war die Kommission, wie es in der die Entstehungsgeschichte der „Empfehlungen“ zusammenfassenden Einleitung heißt, zunächst aufgefordert worden, „Eckpunkte eines DDR-bezogenen Geschichtsverbundes zu formulieren, der die dezentrale Struktur der Erinnerungslandschaft beibehalten, aber die Orte des Erinnerns konzeptionell und praktisch stärker aufeinander beziehen und vernetzen sollte“ (S. 9). Nach knapp einjähriger Beratung teilte das zehnköpfige Expertengremium seine Ergebnisse mit und erntete für die gemachten Vorschläge viel Kritik. Man verharmlose das SED-Unrecht, so der Hauptvorwurf an die Kommission. Damit begann eine teilweise von schrillen Tönen begleitete, nicht immer sachlich geführte, mitunter entlarvende Auseinandersetzung, über deren Verlauf die Dokumentation in drei großen Kapiteln ausführlich Auskunft gibt. Neben der Wiedergabe der Kommissionsempfehlungen (S. 17-45) versammelt der Band in diesem Zusammenhang das Wortprotokoll der öffentlichen Anhörung vom 6. Juni 2006 (S. 47-183), einen Pressespiegel des Zeitraumes Dezember 2005 bis November 2006 (S. 185-367) sowie die in Fachzeitschriften publizierten Reaktionen aus den Reihen der Geschichtswissenschaft (S. 369-432). Gerade hier liegt die besondere Stärke des Bandes, gibt die Dokumentation in diesen drei Kapiteln doch einen erhellenden Einblick in das Beziehungsgeflecht von Politik und Wissenschaft, welches für die offizielle Erinnerungsarbeit in der Bundesrepublik charakteristisch ist.

Die Sabrow-Kommission hatte das Pech, in Zeiten einer politischen Machtverschiebung agieren zu müssen. So hatte sie nach der Bundestagswahl im September 2005 nicht nur einem neuen, aus der CDU kommenden Bundesbeauftragten zu berichten, sondern sah sich darüber hinaus mit einem in der Öffentlichkeit wiedererstarkten konservativen Selbstbewusstsein konfrontiert. In diesem Zusammenhang ist es schon erstaunlich, dass manche Kritik an den Kommissionsempfehlungen doch auf denkwürdige Weise an frühere Argumentationsweisen aus der in den 1980er-Jahren geführten Diskussion um die Gründung des Hauses der Geschichte und des Deutschen Historischen Museums erinnerte – nur diesmal von der anderen Seite. Waren es damals die Bedenken von Linken und Linksliberalen gegenüber einem staatlich verordneten konservativen Geschichtsbild, machten nun eher konservative Stimmen gegen eine befürchtete Verklärung der DDR-Diktatur durch ein allzu sehr „linkes“ Geschichtsbild mobil. Hinter der von der Kommission befürworteten Schwerpunktsetzung auf den DDR-Alltag vermuteten manche dieser Stimmen gar einen von Rot-Grün verordneten Paradigmenwechsel in der geschichtlichen Aufarbeitung des zweiten deutschen Staates, eine Weichzeichnung der SED-Diktatur (so beispielsweise der Beitrag von Michael Schwartz/ Hermann Wentker, S. 369-374). Und Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, das im Gegensatz zur „Konkurrenz“ vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam kein Kommissionsmitglied stellte, bescheinigte, dass „geschichtspolitische Zielsetzungen und Interessen“ nicht nur „maßgeblich für Entstehungsweise und Zusammensetzung“ der Kommission gewesen seien, sondern, dass sich „diese Interessen [auch] im Gutachten spiegeln“ (S. 52).

Derartige Stellungnahmen zeugen von der Existenz einer Rivalität, die sicherlich über die rein wissenschaftliche Auseinandersetzung hinausgeht; sie sind Ausdruck eines Gegensatzes unter den Experten als Angehörige bzw. Befürworter unterschiedlicher politischer Geisteshaltungen. Darüber hinaus unterstreichen sie den Wettbewerb um materielle wie immaterielle Ressourcen: Wer als wissenschaftlicher Fachvertreter in den Dienst der Politik berufen wird, darf sich nicht nur über eine erhöhte Aufmerksamkeit für seine Person und für die beschäftigende Forschungseinrichtung, sondern nicht selten auch über zusätzliche Finanzmittel freuen. Diese Rivalität der Deutungsmuster herauszustellen, die in der Vielzahl der abgedruckten Zeitungsartikel ablesbar wird, gehört sicherlich zu den unübersehbaren Stärken der Dokumentation und liefert damit ein anschauliches Beispiel für die in Deutschland miteinander konkurrierenden erinnerungspolitischen Strömungen.

Als Schwäche fällt dagegen der Umstand ins Gewicht, dass die den Titel gebende Frage "Wohin treibt die DDR-Erinnerung?" durch die im Band präsentierten Texte nicht abschließend beantwortet wird. Vielleicht hätte eine etwas spätere Drucklegung wichtige Entscheidungen der Politik noch berücksichtigen und damit den Weg der offiziellen DDR-Erinnerung weiter konkretisieren können. So bleibt dem Leser nämlich leider ein wichtiges Dokument vorenthalten. Der im Sommer 2007 zur Vorlage an den Bundestagsausschuss für Kultur und Medien weitergereichte Entwurf des Kulturstaatsministers gab wichtige Hinweise auf die künftige staatliche Erinnerungspolitik im Umgang mit der DDR. Es dominierte der erinnerungspolitische Kompromiss der Großen Koalition: Einerseits wurden Vorschläge der Expertenkommission aufgegriffen, andererseits jedoch in besonderem Maße der Unrechtscharakter des SED-Regimes betont.3 In diesem Zusammenhang war es fast schon bezeichnend, dass die Veröffentlichung dieses kompromisshaften Entwurfs keinerlei Diskussionen nach sich zog.

Zweifellos gibt die Dokumentation aber auch ohne die Wiedergabe der jüngsten Entwicklungen einen wichtigen Einblick in die Debatte über den offiziellen Umgang mit der DDR-Erinnerung in der Bundesrepublik – eine Debatte, die sicherlich noch längst nicht als abgeschlossen gelten kann. Man darf gespannt sein, ob und, wenn ja, welche Veränderungen im öffentlichen Umgang mit der DDR-Geschichte nach der Bundestagswahl 2009 zu verzeichnen sein werden. Das dann anstehende Jubiläum des Mauerfalls und die damit verbundene Erinnerung an den Zusammenbruch der DDR werden dabei sicherlich eine entscheidende Wegmarke darstellen.

Anmerkungen:
1 Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Entwurf des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption gemäß Koalitionsvertrag vom 11.11.2005 zur Vorlage an den Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages, 22.6.2007, Berlin 2007, S. 2f.
2 Vgl. z.B.: Uhl, Heidemarie, Learning from Berlin? Zur Darstellung des nationalsozialistischen Völkermords in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums:
<http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/dhm_uhl.pdf> (30.01.2008).
3 Vgl. Verantwortung wahrnehmen... (wie Anm. 1), S. 7.