C. Hochmuth u.a. (Hrsg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt

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Titel
Machträume der frühneuzeitlichen Stadt.


Herausgeber
Hochmuth, Christian; Rau, Susanne
Reihe
Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 13
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Oelze, SFB 485 "Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration", Universität Konstanz

Spätestens seit dem Historikertag in Kiel 2004 ist der Raum endgültig als Untersuchungsgegenstand wie als analytische Basiskategorie in der deutschen Geschichtswissenschaft zurück.1 Dass zunehmend Spezialuntersuchungen entstehen, die sich Räumen in unterschiedlichen Sozialzusammenhängen, Epochen und Kulturen widmen und dabei konkrete architektonische Arrangements genauso in den Blick nehmen wie ephemere räumliche Konstellationen, ist Ausdruck dieser Rehabilitation. Und dass der Raum dabei nicht als bloßer Behälter für soziale Prozesse betrachtet werden sollte, sondern – um Herausgeberin und Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbandes zu zitieren – , „dass er sich in (sozial konstruierten) Wahrnehmungen und Handlungsvollzügen konstituiert“ (S. 17), ist wohl inzwischen weitgehend common sense. Ja, diesen Wahrnehmungs- und Konstruktionsprozessen gilt geradezu das Hauptaugenmerk der neueren Beschäftigung mit dem Raum in der Geschichtswissenschaft. In diesem Kontext steht der von Christian Hochmuth und Susanne Rau herausgegebene Sammelband „Machträume der frühneuzeitlichen Stadt“. Wie es der Titel verspricht, geht es um einen ziemlich speziellen Raum, eben den städtischen in der Frühen Neuzeit, und um diesen in erster Linie im Hinblick auf seine Bedeutung für Prozesse der Konstitution und Reproduktion von Macht. Entsprechend folgen Christian Hochmuth und Susanne Rau in ihrer Einleitung dieser, sich aus dem Titel ergebenden begrifflichen Trinität (Stadt-Raum-Macht) und postulieren als Ziel des Sammelbandes, „verschiedene Formen der Vernetzung zwischen Macht und Raum in frühneuzeitlichen Stadtgesellschaften“ (S. 37) vorzustellen. Und dieses Ziel wird in vielen Beiträgen eindrücklich erreicht.

Nach einer Reflexion von Macht und Raum in institutionentheoretischer Perspektive, wie sie prägend ist für den Dresdner SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, durch Karl-Siegbert Rehberg, schließen sich die Fallstudien an, wobei leider ausgewiesene kunsthistorische, literatur- und medienwissenschaftliche Untersuchungen fehlen. Die Beiträge sind nach einem räumlichen Prinzip gegliedert: Immer kleinere Einheiten werden thematisiert, die Stadt wird gewissermaßen herangezoomt: Auf „Städte“ und „Stadt-Räume“ folgen „Stadt-Teile“ und schließlich „Stadt-Orte“. Unter dem Stichwort „Städte“ beschäftigt sich Barbara Uppenkamp am Beispiel der Residenzstadt Wolfenbüttel um 1600 mit gelehrten Vorstellungen von räumlicher Ordnung und fürstlichen Maßnahmen zu ihrer Gestaltung. Catherine Denys widmet sich der policeylichen Kontrolle des städtischen Raums in der Grenz- und Festungsstadt Lille im 18. Jahrhundert. Bernd Herzogenrath untersucht die „Antinomische Krise“ in der Siedlergemeinschaft Boston (1636-1538) als Widerstreit unterschiedlicher „Machtphysiken“. Und Gerhard Sälter gibt prägnante Auskunft über den städtischen Raum in Frankreich als Gegenstand wie Mittel der Policey am Beispiel von Paris um 1700. Als „Stadt-Räume“ erscheinen die Territorien der Reichsstädte Frankfurt am Main und Schwäbisch Hall, deren performative Konstitution am Beispiel umstrittener Geleitrechte André Krischer in seinem Beitrag überzeugend rekonstruiert. Antje Diener-Staeckling wendet sich dagegen dem städtischen Innenraum zu, wenn sie die Orte der Ratseinsetzung in Goslar und Mühlhausen abschreitet. In dem Beitrag von Marian Füssel geht es um Rangordnungskonflikte zwischen universitären und städtischen Würdenträgern in Helmstedt, die sich durch die enge Verschränkung zweier Rechtsräume – Stadt und Universität – ergaben. Maren Lorenz schließlich analysiert einen einzelnen Konflikt im Hafen von Stettin 1661 zwischen Bürgermeister und schwedischem Stadtkommandanten und setzt ihn sehr kenntnisreich in Beziehung zu den dem Konflikt zugrunde liegenden ungeklärten Herrschaftsverhältnissen in der Stadt beziehungsweise den unterschiedlichen Funktionen (geographisch, militärisch, fiskalisch, politisch, sozial), die dem Stadtraum jeweils vorrangig zugeschrieben werden.

Im Kapitel „Stadt-Teile“ schreibt Giancarlo Andenna über die Entwicklung und die Verschränkung der religiösen und politischen Topographie in norditalienischen Städten des 13. und 14. Jahrhunderts. Andrea Thiele konzentriert sich in ihrem Beitrag zu Halle (1614-1680) auf das Nebeneinander von städtischen und landesherrlichen Machträumen und den daraus entspringenden Spannungen. Stefan Rohdewald handelt vom „sozialen Raum“ der Juden im frühneuzeitlichen litauischen Polock. Als einer der „Stadt-Orte“ erscheint schließlich das Leipziger Rathaus, das Thomas Weller als einen „bevorzugten Ort der Machtvisualisierung“ (S. 287) beschreibt, an dem zeremoniell unterschiedliche politische Räume konstituiert wurden. Christoph Witzenrath beschäftigt sich mit dem Problem der „Fernmacht“, und zwar konkret mit der Tatsache, dass die russischen Zaren Sibirien in Abwesenheit beherrschen mussten. Am Beispiel von Tobolsk und insbesondere der Rolle der dortigen Sophienkapelle führt Witzenrath auf die Strukturierung des städtischen Raums abzielende Techniken dieser ‚Fernmacht’ vor. Rebekka von Mallinckrodt setzt in einem Vergleich zwischen Köln und Venedig den großen informellen Einfluss der Bruderschaften und die quer dazu liegende formelle politische Ordnung in ein Verhältnis zu den mehr oder weniger großen architektonischen Aufwendungen für deren Gebäude. Gerd Schwerhoff beschließt den Band mit einem Beitrag zur policeylichen Regulierung der Wirtshäuser im frühneuzeitlichen Köln, in dem die Tavernen nicht nur als Orte „ehrorientierter“ Gewalt (S. 376), sondern auch als Ausgangspunkte für deren zunehmende Delegitimierung erscheinen.

Drei kleinere zusammenfassende Bemerkungen zu dieser manchmal verwirrenden Vielfalt seien erlaubt, die sich aus dem Vergleich der Beiträge ergeben: 1. Machtverhältnisse werden in vielen der untersuchten Städte nicht nur im Raum widergespiegelt, sondern Macht wird in der Raumordnung ganz wesentlich erst konstituiert. Das zeigen die vielen Grenz- und Abgrenzungskonflikte, von denen in ganz unterschiedlichen Kontexten immer wieder die Rede ist, überdeutlich: Ein Grenzübertritt etwa erscheint unter diesen Umständen als eine Behauptung mit Potential zur Erosion wie zur Akkumulation von Macht. 2. Viele Beiträge verdeutlichen, dass die frühneuzeitliche Stadt entgegen der in der Verfassungs- und Rechtsgeschichte üblichen Ansicht ein höchst flexibles Gebilde war. Städtische Räume bildeten eine von mehreren Machtressourcen, auf die situativ und sehr variabel zurückgegriffen werden konnte. Die vorgestellten Räume erscheinen daher fast immer als Konfliktzonen. 3. In vielen der vorgestellten Städte zeichneten sich Räume gerade dadurch aus, dass sie mehrfach belegt waren: Sei es, dass sie in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen genutzt wurden, sei es, dass sie durch konkurrierende Machthaber oder mächtige Gruppierungen gleichzeitig besetzt wurden. Räume als Machtressourcen, als Konfliktzonen und als Schnittpunkte – eine Einteilung des Sammelbandes nach solchen oder ähnlichen Gesichtspunkten hätte die vielen interessanten Einzelbeiträge vielleicht in ein besseres Vergleichsverhältnis gestellt.

Bei einem Sammelband, in dessen Einleitung so viel Wert auf die Reflexion der Titelworte gelegt wird, sei schließlich noch nach dem Stellenwert und dem Erkenntnisgewinn von macht- und raumtheoretischen Überlegungen gefragt. Beeindruckend ist die Bandbreite an soziologischen und philosophischen Gewährsmännern – von Deleuze, Giddens oder Bourdieu bis Luhmann –, die von manchen Autoren und Autorinnen angeführt wurden. Einigen gelingt mit Hilfe dieser Lektüren eine systematischere Durchdringung ihres Themengebietes auf hohem Niveau. Bezüglich des analytischen Mehrwerts des Begriffs des „Machtraums“ selbst ist das Fazit allerdings zwiespältiger. Im Verlauf der Lektüre der Einzelbeiträge wird immer deutlicher, dass dieser Begriff nicht beziehungsweise nicht in erster Linie einen Ort der Repräsentation bestehender Machtverhältnisse bezeichnet (Rathaus, Residenz etc.), sondern das Ergebnis von häufig konkurrierenden Wahrnehmungs-, Interpretations- und Aneignungsprozessen meint, die letztlich die ganze Stadt und jedes ihrer Teile – das Haus einer Bruderschaft ebenso wie ein Hafengelände – umgreifen können. Unter diesen Umständen stellt sich die Frage umso schärfer, von welchen anderen Räumen – Rechtsraum, Wirtschaftsraum etc. – der Machtraum zu unterscheiden ist und worin er sich dabei unterscheidet. Christian Hochmuth und Susanne Rau bleiben in ihrer Einleitung eine in diese Richtung weisende, explizitere Bestimmung ihres Zentralbegriffs leider schuldig.

Das ändert aber nichts daran, dass die Beiträge des Sammelbandes insgesamt bedeutende Erkenntnisse und Einsichten für eine Geschichte des Raums in der Vormoderne liefern und die Forschung zur frühneuzeitlichen Stadt durch eine sehr wichtige Perspektive ergänzen.

Anmerkung:
1 Arnd Reitemeier / Gerhard Fouquet (Hrsg.), Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag in Kiel vom 14. bis 17. September 2004. Berichtband, Neumünster 2005.

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