F. L. Bernstein: The Dictatorship of Sex

Cover
Titel
The Dictatorship of Sex. Lifestyle Advice for the Soviet Masses


Autor(en)
Bernstein, Frances Lee
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 34,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Braun, SFB "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche", Humboldt-Universität zu Berlin

Wie veränderte der bolschewistische Umsturz von 1917 das Sexualleben in Russland? Durften Komsomolzen onanieren? Und was hatten kastrierte Hähne zu den Geschlechterbeziehungen im ersten sozialistischen Staat beizutragen? Einiges, was man schon immer über Sex im Zeitalter der Revolutionen wissen wollte, zu fragen aber bislang keine Muße hatte, lässt sich nun nachlesen.1 Denn Frances Lee Bernstein hat mit ihrem Buch „Die Diktatur des Geschlechts“ eine Ideengeschichte der Sexualaufklärung in der vorstalinistischen Sowjetunion veröffentlicht.

Die Autorin will dem Leser die postrevolutionäre Gesellschaft der 1920er-Jahre vorführen, die von der Geschlechterfrage besessen gewesen sei. Das Reden über Mann und Frau und ihre Beziehungen habe alle zeitgenössischen Debatten bestimmt. Im Sinne Michel Foucaults will Bernstein erzählen, wie die Wissenschaft die öffentliche Verständigung über und die individuelle Erfahrung von Sexualität veränderte. Gleichzeitig möchte Bernstein zwei Standardfragen der Geschichtsschreibung über die frühe Sowjetunion neu beantworten. Erstens: Waren die 1920er-Jahre im Vergleich zur Zeit des Stalinismus tatsächlich liberaler? Zweitens: War der „great retreat“ tatsächlich ein Rückzug, bei dem das Regime allzu revolutionäre Utopien aufgab? Um Antworten zu finden, hat die Autorin Klassiker der frühen sowjetischen Sexualaufklärung gelesen. Sie hat darüber hinaus Archivalien des Moskauer Medizinischen Museums, des Archivs für Sozialhygiene und des Russischen Staatsarchivs verwendet. Das empirische Material unterzog sie einer Diskursanalyse.

Bernstein bereitet ihr Thema in fünf Schritten auf. Zunächst ist die Rede von den Akteuren der Sexualaufklärung und dem institutionellen Rahmen, in dem diese ihr Geschäft betrieben (S. 14-40). Das diskursive Feld offizieller Sexualaufklärung wurde lange vor 1917 geschaffen. Wie in den westlichen Gesellschaften auch waren es in Russland die Mediziner, die im 19. Jahrhundert als erste von der Notwendigkeit sprachen, sexuelle Kontakte zu regulieren. Einen nachhaltigen Institutionalisierungsschub erfuhr die Sexualaufklärung jedoch erst unter den Bolschewiki. Das Volkskommissariat für Gesundheitswesen beherbergte in den 1920er-Jahren gleich drei Institutionen, die sich dieser Frage widmeten: die Abteilung zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, das Institut für Venerologie und das Institut für Sozialhygiene. Die russischen Ärzte, die in diesen Einrichtungen arbeiteten, waren bestrebt, den Aufklärungsdiskurs zu monopolisieren und ihn an offizielle Sprechweisen anzupassen.

Die frühe sowjetische Sexualaufklärung beruhte auf biologistischen Lehren (S. 41-72). Ihr lag die Annahme zugrunde, der Unterschied zwischen den Geschlechtern sei durch die Endokrinologie bewiesen, durch die Lehre von den Hormonen. Russische Wissenschaftler beriefen sich auf Versuche des österreichischen Mediziners Eugen Steinach, der 1920 behauptete hatte, durch Hodenverpflanzung Tiere und Menschen verjüngen zu können. Sie vollzogen die Steinach-Experimente unter anderem an Hähnen und Hennen nach und beobachteten, dass kastrierte Hähne „verweiblichten“, während Hennen ohne Eierstöcke „vermännlichten“. Ihre Schlussfolgerung war, dass allein die Geschlechtsorgane das Geschlecht bestimmten. Die russischen Mediziner übertrugen diese Erkenntnis auf den Menschen, wobei sie das weibliche Geschlecht als dem männlichen unterlegen darstellten. In Büchern wie „Die biologische Tragödie der Frau“ wiesen sie nach, dass die Hierarchie der Geschlechter auf dem Biologischen beruhte. Die Sexualaufklärung lag damit quer zur sozialmedizinischen Tendenz des Gesundheitswesens der frühen Sowjetunion, das die Ursachen vieler Krankheiten in den Umweltbedingungen suchte.

Doch das Soziale blieb in der Sexualaufklärung nicht vollständig außen vor. Die Neurasthenie, eine Modekrankheit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die zuerst in den Vereinigten Staaten beschrieben worden war, füllte die sowjetischen Arztpraxen (S. 73-99). Die Ärzteschaft beschrieb die Neurasthenie als eine Zivilisationskrankheit, die bei den Patienten Müdigkeit, Depression und Impotenz auslösen konnte. In manchen russischen Städten diagnostizierten Gesundheitsexperten die so genannte Nervosität (nerwnost) bei über der Hälfte der Bevölkerung. Die Sexualaufklärer fanden die Ursachen für Impotenz nicht nur in der Revolution und dem Bürgerkrieg, sondern auch im libertären Lebensstil mancher Jugendkulturen. Noch deutlicher repräsentierte die Ikonographie der Sexualaufklärung den biologischen als einen sozialen Unterschied. Die Hygieneaufklärung erfuhr in den 1920er-Jahren unter der Aufsicht des Volkskommissariats für Gesundheitswesen einen enormen Aufschwung (S. 100-128). Die Sexualaufklärer verbreiteten ihre Botschaft durch Poster und Pamphlete, Spielfilme und Schauspiele. Sie kommunizierten eine klare Hierarchie der Geschlechter. Auf den Postern gegen Syphilis und Prostitution spielten zumeist Männer die Hauptrolle. Sie traten als aktive Retter auf. Als Gesundheitsexperten und Bolschewiken arbeiteten sie an der Utopie eines reinen und gesunden Zusammenlebens der Geschlechter. Den Frauen indes kam eine passive und oft negative Rolle zu. Sie wurden als unschuldige Hausfrau, rückständige Hilfsbedürftige oder krankmachendes Übel porträtiert. Solche Poster, die für ein dörfliches Publikum gedacht waren, zeigten die Frau darüber hinaus als Volksheilerin und damit als natürliche Feindin eines modernen Gesundheitssystems.

Die sowjetischen Sexualaufklärer verbanden das Biologische mit dem Sozialen zum Wohle des Kollektivs. In ihren Schriften entwarfen sie eine Gesellschaft, in der Geschlechterbeziehungen vornehmlich der Reproduktion dienten. Sie beschrieben solche Praktiken als abweichendes Sexualverhalten, die nicht unmittelbar auf die Zeugung von Nachkommen zielten (S. 129-158). Dazu gehörte unter anderem die Selbstbefriedigung. Die Sexualaufklärer sahen in der Onanie eine ablehnende Haltung gegenüber dem Kollektiv. Selbstbefriedigung führte in ihren Augen zu Narzissmus und Vereinsamung. Dagegen half nur Abstinenz oder die Sublimierung sexueller Neigungen durch Sport. Darüber hinaus enthielten die Schriften der Sexualaufklärer Ideen der Eugenik bzw. Rassenhygiene (S. 159-182). Die richtige Partnerwahl, ärztliche Konsultationen vor der Heirat und medizinisch begründete Abtreibungsregelungen sollten garantieren, dass aus einer Paarbeziehung gesunde Nachkommen hervorgingen.

Was sagt uns all das über die ersten zehn Jahre bolschewistischer Herrschaft? Zunächst sagt es uns wenig darüber, wie die Revolution das Sexualleben in Russland veränderte. Denn Bernstein verzichtet weitgehend darauf, uns an historische Orte zu führen, an denen Expertendiskurse in alltägliche Praktiken mündeten. Das Volkskommissariat für Gesundheitswesen war im ersten Jahrzehnt seines Bestehens kaum eine alltagsrelevante Institution.2 Wenig trägt Bernstein auch zu einem neuen Verständnis der 1920er-Jahre bei. Die Autorin behauptet zwar, in den 1920er-Jahren sei bereits angelegt gewesen, was später unter Stalin zur offiziellen Doktrin geronnen sei: die pronatalistische Familienpolitik, das nicht auf Gleichberechtigung angelegte Geschlechterverhältnis, die Verfolgung abweichender Sexualität. Sie meint, die erste postrevolutionäre Dekade sei in Sachen Sexualität alles andere als offen gewesen. Das mag stimmen. Allerdings hat Eric Naiman ähnliches bereits vorgetragen und überzeugender belegt.3

Auch Bernsteins Beitrag zur Debatte darum, ob im „great retreat“ eine konservative Wende zu sehen sei, trägt nicht ganz. Zwar verarbeitete die stalinistische Politik vieles, was von den frühen sowjetischen Sexualaufklärern gedacht und geschrieben worden war. An den „stalinist values“ wurde tatsächlich bereits in den 1920er-Jahren gefeilt.4 Doch Bernstein sagt selbst, dass die Sexualnormen der 1920er-Jahre keine revolutionäre Erfindung waren, ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen. Sie waren somit eher ein Projekt der Moderne als der Revolution.5 Sie gehörten zur Revolution, aber sie waren nicht ihr Kernanliegen. Insofern liefert Bernstein ein Puzzleteil zur Debatte, aber nicht das ganze Bild. Insgesamt hinterlässt die Lektüre ihres Buches den Eindruck, dass die Autorin zwar ihre Textexegese sehr gründlich und präzise betrieben hat, doch aufgrund der Textauswahl wenig sagen kann. Bernsteins Verdienst ist es, bislang brachliegendes Material aufbereitet zu haben. Was damit anzufangen wäre, das überlässt sie dem Leser.

Anmerkungen:
1 Geschlecht und Sexualität im revolutionären Russland thematisieren auf unterschiedliche Weise: Stites, Richard, The Women's Liberation Movement in Russia: Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860 – 1930, Princeton/N.J. 1991; Engelstein, Laura, The Keys to Happiness: Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Siècle Russia, Ithaca 1996; Naiman, Eric, Sex in Public: The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton/N.J. 1999; Healey, Dan, Homosexual Desire in Revolutionary Russia: The Regulation of Sexual and Gender Dissent, Chicago 2001; Carleton, Gregory, Sexual Revolution in Bolshevik Russia, Pittsburgh/Pa. 2004.
2 Vgl. Weissman, N.B., Origins of Soviet Health Administration, in: Solomon, Susan Gross; Hutchinson, J.F. (Hgg.), Health and Society in Revolutionary Russia, Bloomington/In. 1990, S. 97-120. Aufschlussreiche Alternativen ließen sich durchaus finden, bspw. die Armee. Die zarische Armee als „Gesundheitsamt der Nation“ hat untersucht Benecke, Werner, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich: Die Wehrpflicht in Russland, 1874-1914, Paderborn u.a. 2006, S. 119-175.
3 Vgl. Naiman, Sex. Im Gegensatz dazu Stites, Women’s Liberation Movement; Carleton, Sexual revolution.
4 „Stalinist culture […] reflected an attempt to consolidate Soviet socialism, not a retreat from it“, schreibt Hoffmann in: Hoffmann, David Lloyd, Stalinist Values: The Cultural Norms of Soviet Modernity, 1917 – 1941, Ithaca/N.Y. 2003, S. 4.
5 Zum Verhältnis von Moderne und Revolution vgl. ebd., S. 10.

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