Das hier vorzustellende Buch aus einer renommierten theologischen Reihe ist für die reformationsgeschichtliche Forschung von Interesse, weil es Luthers Denken nicht nur systematisch und gegenwartsorientiert vor Augen stellen will, sondern auch „die Ethik Luthers aus ihrer Zeit heraus verständlich zu machen“ (S. 7) beansprucht. Es geht auf Vorlesungen des Verfassers zurück, der systematische Theologie an der Universität Wien lehrt. Das Buch bietet dem Vorwort zufolge „eine kurze Darstellung der Ethik Luthers von ihren Quellen her“ (S. 7) und enthält neben Vorwort und Einleitung zwölf Kapitel, die einzelne Aspekte von Luthers Ethik darstellen, sowie ein Abschlusskapitel, ein Literaturverzeichnis und einen Personen- und Sachregister.
Nun ist aber die in diesem Buch vorgenommene historische Einbettung von Luthers Denken völlig unzureichend, selbst wenn man ihr die Zweckbestimmung als kurze, systematisch orientierte Darstellung zugute hält. Die Beschäftigung mit den Quellen und die Darstellung lassen weder eine Anwendung der üblichen Methoden historischer Quellenarbeit noch vertiefte Kenntnisse der spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Geschichte erkennen. Der mittlerweile auf CD-Rom verfügbaren Weimarer Ausgabe der Werke Luthers wurden zum Teil seitenlang Texte entnommen (S. 42f.), die in den Anmerkungen zitiert oder im Haupttext mit Zitaten oder Paraphrasen aus der Sekundärliteratur montiert werden, und zwar oft ohne Rücksicht auf Entstehungszeit, Überlieferung, geschichtlichen Kontext und Gattung.1 Der umfangreiche Quellenbestand der Weimarer Ausgabe wurde selektiv ausgewertet, es sind vor allem die einschlägigen Texte aus der Abteilung „Schriften“ zu ethischen Fragestellungen berücksichtigt, kaum jedoch das reiche Material der Briefe, Tischreden, Predigten und was sich an thematisch anders ausgerichteten „Schriften“ findet. Die Interpretation der Quellen kann oft nicht überzeugen, weil der Verfasser Luther zwar ausführlich zu Wort kommen lässt, die als Belegstellen genannten oder gar zitierten Aussagen aber immer wieder umdeutet.2
Das Buch ist überdies geprägt von mangelnder Sorgfalt im Umgang mit den lateinischen und frühneuhochdeutschen Texten. So wird, um nur ein Beispiel zu geben, Luthers Formulierung, Gott regiere die Menschen im Weltreich „on yren danck“, als „ohne zu danken und ohne dass sie daran denken“ (S. 125, vgl. S. 22) paraphrasiert, während „ohne jemandes Dank“ den frühneuhochdeutschen Wörterbüchern zufolge eigentlich „ohne, gegen seinen Willen, ohne sein Zutun“ meint.3 Die historische Einbindung der angeführten und ausgewerteten Quellen ist oft unzureichend. Inhaltlich wenig überzeugend und methodisch fragwürdig ist etwa die Darstellung von Luthers Wirtschaftsethik (S. 170-179), wo ein der Sekundärliteratur entnommener Ausspruch von Karl Marx, die Müntzer-Darstellung von Ernst Bloch und das Kommunistische Manifest von 1848 zur Einordnung von Luthers Aussagen herangezogen werden, nicht aber die neuere agrar- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung zum frühen 16. Jahrhundert. Dies führt dazu, dass die Aufgabe des geschichtlichen Verstehens der Eigenart und auch der Fremdheit des 16. Jahrhunderts nicht in den Blick kommt. Auch wenn der eher systematisch-theologisch interessierte Wissenschaftler in einer Überblicksdarstellung den historischen Kontext nicht in den Mittelpunkt stellen muss, so darf er ihn doch nicht derart vernachlässigen, wie es hier geschieht.
Wenn der historische Hintergrund auf diese Weise übergangen oder verzeichnet wird, kann auch die systematische Erschließung von Luthers ethischem Denken unter keinem guten Stern stehen. Luthers Ethik wird ohne angemessene Berücksichtigung von Biographie und Umwelt, antiker und mittelalterlicher Denktraditionen und nicht zuletzt auch der im 20. Jahrhundert geführten Forschungsdiskussion um Luthers Theologie nachgezeichnet. Eine forschungsgeschichtliche Einordnung des eigenen Ansatzes fehlt fast völlig; die wenigen expliziten Hinweise und das tatsächliche Vorgehen zeigen den Einfluss der Ethik Karl Barths (1886-1968). Dieser ist jedoch kein empfehlenswerter Ratgeber, denn Barth will das Proprium von Luthers Ethik, die strenge Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, gerade nicht aufnehmen. Während eine ethische Theorie des 20. Jahrhunderts dafür ihre Gründe haben mag, ist es geradezu irreführend, die reformatorische Theologie Luthers, der alles daran lag, dass Gesetz und Evangelium, Gottes Reich zur Linken und zur Rechten, Politik und Religion, Staat und Kirche unterschieden und nicht vermischt werden, mit Hilfe der Dialektik eines Karl Barth zu interpretieren, bei der Evangelium und Gesetz letztlich in eins fallen.4 Dialektisches Denken (das es dem Verfasser angetan zu haben scheint) wird zwar als Schlüssel zu Luthers Ethik behauptet, aber nicht entfaltet, geschweige denn angesichts der Quellenbelege kritisch geprüft.
Abgesehen von dieser ungenügenden Erschließung der systematischen Grundlegung von Luthers Ethik bietet die Darstellung der Grundaussagen und der materialen Ethik viele der üblicherweise unter der Rubrik „Luthers Ethik“ verhandelten Themen: die Rolle der Bibel, die Konzentration der Ethik auf die Glaubenden, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Bedeutung von Sünde und Unglaube für Luthers Sicht christlicher Existenz in der Welt, Berufung und Beruf, die Zwei-Reiche- und die Drei-Stände-Lehre. Während dabei wichtige Gesichtspunkte wie die Genese und Entwicklung von Luthers Ethik oder das Thema der Billigkeit fehlen, finden sich allerlei Exkurse und Einschübe, die oft vom Thema wegführen und kaum etwas zum Verständnis von Luthers Ethik beitragen. Streckenweise lässt sich gegen die Darstellung zwar sachlich wenig einwenden, doch repetiert sie Altbekanntes eigenwillig und lückenhaft.
Zur äußeren Form ist zu bemerken, dass sich immer wieder Druckfehler und irreführende Stellenangaben finden. Sprache und Stil sind zum Teil wenig wissenschaftlich und unklar. Das auf den ersten Blick umfangreiche Literaturverzeichnis hat erhebliche Lücken, die angegebene Literatur wurde für die Darstellung nur punktuell ausgewertet. Kurz: Weder historisch noch systematisch-theologisch kann dieses Buch überzeugen.5
Anmerkungen:
1 So sollte man die vom Verfasser ohne weitere Einordnung in 8.6. herangezogene Bergpredigtauslegung Luthers und die in 3.4. vorgestellte Predigt, die beide auf Nachschriften beruhen und nicht in allen Einzelheiten als Luthers Werk gelten können, nur mit Vorsicht verwenden. Vorsicht ist auch bei Luthers Selbstzeugnissen über seine Anfänge (1.1.) angebracht, deren Glaubwürdigkeit immer mit Blick auf die jeweilige Fragestellung geprüft werden muss.
2 Ein Beispiel ist die S. 194f. aufgeworfene Frage, woran die Kirche und die Evangeliumspredigt erkennbar sind. Weil der vom Verfasser selbst zitierte Text nicht sagen darf, was er sagt – nämlich dass die lautere Predigt des Evangeliums, also inhaltliche Korrektheit und Bekenntnisgemässheit der Predigt, Kirche erkennbar machen -, wird die Frage der Erkennbarkeit mit der anderen Frage nach dem Wesen der Kirche vermengt und konstatiert: „Hier lässt uns Luther völlig im Stich“.
3 Götze, Alfred, Frühneuhochdeutsches Glossar, Berlin 1967, s.v. dank.
4 Der einzige ausführlichere Hinweis auf Barth (S. 139) bleibt letztlich undeutlich. Die Frage: „Muss möglicherweise für Luther gelten, was Karl Barth an der Schaltstelle von Dogmatik und Ethik sagt, dass nämlich das Evangelium in der Ethik die Gestalt des Gesetzes annimmt?“ wird leider nicht beantwortet. Doch scheint der Verfasser sie zu bejahen und damit sowohl Luther als auch Barth Unrecht zu tun. Vor diesem Hintergrund kann man folgende (und andere ähnliche) Sätze wohl kaum noch als missverständliche Formulierung zu retten versuchen: „Das Evangelium ist die Einheit seiner selbst und des Gesetzes. [...] Das Christusreich, in dem Gott für alle offenbar regiert, ist die Einheit seiner selbst und des Weltreiches“ (S. 125). Die Literatur zur Frage „Luther und Barth“ und zur Rolle dialektischer Denkmuster in Luthers Theologie (z.B. Gerhard Ebeling und Oswald Bayer) wird nicht berücksichtigt. Dass das Verhältnis von Gesetz und Evangelium nicht richtig erfasst ist, zeigt sich an vielen Stellen. So sind für Luther Gesetz und Evangelium nicht zwei Optionen im Umgang des Christen mit seinen Mitmenschen (S. 67f., 77), sondern Widerfahrnisse des Menschen von Gott her. Auch werden dem Evangelium Funktionen zugeschrieben, die für Luther in den Bereich des Gesetzes gehören, etwa wenn der Freispruch eines Unschuldigen als Evangelium bestimmt wird (S. 58). Dass Unschuldige freigesprochen werden müssen ist eine elementare Gesetzesforderung, aber auch der Freispruch des Schuldigen (der im Gottesverhältnis tatsächlich das Ergehen des Evangeliums ist [Röm. 4,5]) und der flexible, situationsangepasste Umgang mit den von Luther voll bejahten Vorgaben des natürlichen und positiven Rechts hat im Rahmen des Gesetzes seinen Ort, was Luthers Überlegungen zur aequitas verdeutlichen.
5 Als Zugang zu Luthers Ethik empfiehlt sich: zur Mühlen, Karl-Heinz, Artikel [Luther] II. Theologie. 8. Christliches Leben (Ethik), in: Theologische Realenzyklopädie 21 (1991), S. 555-560 (Literatur!). Angesichts der souveränen Beherrschung des Stoffs schwerlich zu ersetzen sind als einander ergänzende historische und systematische Arbeiten: Holl, Karl, Der Neubau der Sittlichkeit, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.1: Luther, Tübingen 1948 (7. Auflage), S. 155-287; Althaus, Paul, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965.