H. Zwahr: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe

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Titel
Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. Tagebuch einer Krise (1968-1970). DDR und "Prager Frühling"


Autor(en)
Zwahr, Hartmut
Reihe
Beihefte zum Archiv für Sozialgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abt. Bildung und Forschung, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

„1968“ gehört zu jenen historischen Chiffren, mit denen die meisten etwas anfangen können. Aber nicht einmal Historikerinnen und Historiker können sich sicher sein, dass sie sich, sprechen sie miteinander über „1968“, auch tatsächlich verstehen. „1968“ eignet sich zwar für eine global history besonders1, aber zumeist werden die unterschiedlichen Ereignisse und Prozesse, die mit „1968“ gemeint sind oder sein könnten, in Ost- und Westeuropa, in Nord- und Südamerika, in Afrika und Asien additiv und nur selten miteinander verschränkt betrachtet. Am ehesten scheinen noch die populären Jugendkulturen, insbesondere die Rockmusik, das Erinnerungs- und Analyseband zu sein, das die verschiedenen politischen Regionen und Kontinente miteinander verbindet. Der vielfach getrennte Erinnerungsort „1968“ hat in Deutschland zudem eine spezifische Teilung erfahren, der wir uns in diesem Jahr wohl noch des Öfteren gewahr werden können. Der Soziologe Heinz Bude glaubt, dass sich „1968“ anders als „1945“ und „1989“ als „sicherer Erinnerungsort im Kollektivgedächtnis“ darbietet. 2 Auch wenn er dies in den „Deutschen Erinnerungsorten“ postuliert, eher ist „1968“ in seiner ganz typischen Lesart ein westdeutscher Erinnerungsort. Bude braucht dies nicht auszuführen oder zu erklären: „1968“ ist in der Bundesrepublik fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im öffentlichen Diskurs kein nationaler Erinnerungsort, sondern ein in den Grenzen der Bundesrepublik vom 2. Oktober 1990 verankerter. 3 Für den Soziologen, der hier den bundesdeutschen Debatten-Mainstream markiert, ist „1968“ allein an die Studentenunruhen gebunden. Die (Ost)Berliner Psychologin Annette Simon hingegen stellte schon vor Jahren die These auf: „Die Achtundsechziger im Westen wollten eine Revolution. Sie bekamen einen modernisierten Kapitalismus. Die Achtundsechziger im Osten wollten Reformen und setzten letztendlich eine Revolution in Gang.“ 4 Kurzum: Die Erinnerungen an „1968“ in Frankfurt am Main und Frankfurt an der Oder sind offenbar so unterschiedlich, wie sie kaum verschiedener sein könnten.

Dieser Spannungsbogen unterschiedlicher Ereignisse, Prägungen, Erfahrungen und Erinnerungen in Ost und West kann so schnell nicht überdehnt werden, da er zunächst einmal als solcher nicht nur erkannt, sondern auch analysiert werden muss. Dass im Osten auch 1968 gerade viele Jugendliche in den Westen blickten, sich inspirieren ließen und vor allem die neue Musik förmlich aufsogen, mag hinlänglich bekannt sein. Auch dass einige gesellschaftskritische Kreise im Osten das Revoluzzertum im Westen neidisch beobachteten und Anleihen für ihre eigene Lebenskultur bezogen, ist wenigstens in Schattierungen bekannt. Schließlich ist auch bekannt, dass einige wenige, vornehmlich linke Studierende und Intellektuelle des Westens voller Sehnsüchte und Hoffnungen nach Prag blickten. Umberto Eco ließ etwa seinen weltberühmten Mittelalterroman „Im Namen der Rose“ (1980) nicht zufällig im August 1968 in Prag beginnen. 5

Weniger bekannt hingegen ist, wie die Ereignisse von 1968 in der DDR gerade auf jene wirkten, die weder im Sinne von Annette Simon „DDR-68er“ waren noch sonst in der DDR als Kritiker auffielen. Um aber aus „1968“ einen gemeinsamen Erinnerungsort mit vielfältigen Bildern werden zu lassen, benötigen wir neben den zahllosen Analysen und Erinnerungen, die für die Bundesrepublik, Westeuropa und Nordamerika vorliegen, eigenständige Untersuchungen über „1968 hinterm Eisernen Vorhang“. Erst dann werden Synthesen und Vergleiche möglich sein, die einen gesamtdeutschen und vor allem gesamteuropäischen Erinnerungsort konturieren. Dieser wird immer heterogen und vielfarbig bleiben, aber künftig könnte ihn kennzeichnen, dass die blockübergreifenden Interdependenzen, Erfahrungen und Beobachtungen stärker verzahnt und wie selbstverständlich Teil einer gemeinsamen Erzählung sind.

Vor diesem knapp skizzierten Hintergrund gewinnt die Edition von Hartmut Zwahr ihre besondere Bedeutung. Mit der Publikation eines Ego-Dokuments gibt Zwahr den Blick auf Vorgänge, Prozesse und das Seelenleben eines engagierten, kritischen Zeitgenossen frei, der, in Leipzig arbeitend und schreibend, die Ereignisse um sich herum in der Stadt, im Land, in der ČSSR, beschreibt, kommentiert und reflektiert.

Der Quellenband des Leipziger Sozialhistorikers ruft „1968“ aus einer ostdeutschen Perspektive wach. Zwahr gibt sein eigenes Tagebuch der Jahre 1968 bis 1970 heraus, das er nach wissenschaftlichen Regeln kommentiert hat. Zunächst erinnert diese Quelle daran, wie stark die Vorgänge in der ČSSR viele Menschen in der DDR bewegt und aufgeregt haben. Zwahr steht exemplarisch für jene, die auf einen Erfolg der Prager Reformkommunisten hofften, auch verbunden mit der Sehnsucht, dieser würde auf die DDR ausstrahlen und sie ebenfalls demokratisieren. Zugleich steht der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen für die Zertrümmerung dieser Hoffnungen: Über das Land legte sich neuer Mehltau.

Das Tagebuch enthält zudem eine Vielzahl von alltäglichen Beobachtungen, die Sozial-, Kultur- und Mentalitätshistorikern, die sich mit Diktaturen beschäftigen, als eine Quelle heranziehen können. Zwahr hält viele „Nebensächlichkeiten“ fest, die die Lektüre besonders lohnen. Denn gerade diese alltäglichen Beobachtungen zeigen letztlich die Ausweglosigkeit der Diktatur selbst. Außerdem ist das Tagebuch zugleich ein Zeugnis des DDR-Universitätslebens in der Spätphase der Ulbricht-Ära. Es ist ein Dokument für die Abwesenheit freiheitlichen Denkens, für das Fehlen einer intellektuellen Debattenkultur, für die Verkommenheit der Sitten, ein Dokument der angestrebten Allmacht der Kommunisten. Zwahrs Tagebuch legt neuerlich die Frage nahe, inwiefern jene Analytiker Recht haben, die die DDR-Geschichtswissenschaft als „anormale Normalwissenschaft“ (Jarausch/Middell/Sabrow) charakterisieren und inwiefern nebelhafte Bezeichnungen wie „Konsensdiktatur“ (Sabrow) zutreffend sind. Mit dem Tagebuch von Zwahr, der seit Erscheinen seines Buches „Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse“ (1978) als Sozialhistoriker weithin Anerkennung genießt, bekommen jedenfalls all jene Zeitgenossen empirische Momentaufnahmen in die Hand, die Zweifel am Sinngehalt und der Beweisbarkeit dieser Thesen hegen. Die Bilder, die Zwahr festhielt, sind durchweg düster.

Schließlich aber macht er sich als Sozialhistoriker mit dieser Edition gewollt oder ungewollt selbst zum Gegenstand künftiger wissenschaftlicher Erörterungen. Denn so eindruckvoll, aufschlussreich und anschaulich die Notizen und Beobachtungen auch sind, so stellt sich doch unweigerlich die Frage, warum der ausweislich dieser Tagebuchaufzeichnungen so kritische Zeitgenosse Zwahr über drei Jahrzehnte der SED die Treue hielt und sein Parteibuch erst in der Herbstrevolution 1989 in die Pleiße warf. 6 Dabei zielt diese Frage nicht vordergründig auf die Biographie von Zwahr, sondern vielmehr auf die übergeordnete und in vielfachen Zusammenhängen immer wieder diskutierte Frage, warum so viele Menschen in der Diktatur, die sie letztlich ablehnten, doch mitmachten und ihre geballte Faust in der Tasche ließen, oder, wie in diesem Falle, ihren Frust lediglich auf Papier in Worte fassten. Für Nachgeborene, zumal Historiker, sind solche Quellen natürlich Glücksfälle. Warum den Worten keine Taten folgten, wird damit aber nicht beantwortet. Insofern bietet diese Edition über „1968“ hinaus vielfältige Anregungen, mit denen sich Diktaturhistoriker noch lange beschäftigen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa: Caute, David, Sixty-Eight. The Year of the Barricades, London 1988; Fink, Carole; Gassert, Philipp; Junker, Detlef (Hrsg.), 1968: The World Transformed, Cambridge 1998.
2 Bude, Heinz, Achtundsechzig, in: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte II, München 2001, S. 122.
3 Inwiefern dies 2008 etwas aufgeweicht werden kann, bleibt abzuwarten. Verschiedene Versuche liegen vor bzw. werden erscheinen, vgl. z.B. das Themenheft: 1968 und die DDR, in: Horch und Guck 16 (2007), 2 und Wolle, Stefan, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008; im Akademie-Verlag soll zudem ein Band mit Studien zum Erinnerungsort „1968“ erscheinen, der Ost- wie Westeuropa gleichermaßen behandeln will.
4 Simon, Annette, „Kluge Kinder sterben früh“. Die Achtundsechziger der DDR: Was verbindet, was trennt sie von jener der Bundesrepublik?, in: Die Zeit, Nr. 24 vom 6. Juni 1997, S. 42. Vgl. auch Schneider, Christian; Simon, Annette; Steinert, Heinz; Stillke, Cordelia, Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz, Gießen 2002.
5 Vgl. dazu: Umberto Eco: Wer hat Angst vor Prag?, in: Die Zeit vom 25. Juli 1986.
6 Vgl. ebenfalls das auf Beobachtungen basierende Buch: Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993; das Buch ist damals geradezu euphorisch aufgenommen worden, als eine der wenigen kritischen Stimmen; vgl. dazu Kowalczuk, Ilko-Sascha, Hartmut Zwahr über die Revolution von 1989 in: Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Stark, Isolde (Hrsg.), Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente und Materialien des Unabhängigen Historiker-Verbandes, Berlin 1994, S. 251–256.

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