A. Albertz: Exemplarisches Heldentum

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Titel
Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart


Autor(en)
Albertz, Anuschka
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mischa Meier, Abteilung für Alte Geschichte, Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Eine berühmte Schlacht in ihrer Rezeptionsgeschichte durch die Zeiten zu verfolgen, mutet auf den ersten Blick nicht sonderlich aufregend an, zumal entsprechende Arbeiten häufig im Wesentlichen diejenigen Resultate erbringen oder bekräftigen, die man ohnehin erwartet hätte. Im Fall der vorliegenden Untersuchung gestalten sich die Dinge allerdings anders. Denn Anuschka Albertz ist es gelungen, die Schlacht an den Thermopylen 480 v.Chr. in ein feinsinnig geflochtenes, diachron angelegtes ideengeschichtliches Netz einzubinden und dabei vielfach als Analyseinstrument aufscheinen zu lassen, mit dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Formationen im Spiegel paradigmatischer Diskurse herauspräparieren lassen. Auf diese Art und Weise erscheint die Schlacht weniger als fest definierter Untersuchungsgegenstand, der lediglich schematisch durch die Zeiten verfolgt wird, denn als Träger vielfältiger Sinnangebote einerseits sowie als Kristallisationspunkt unterschiedlichster Sinngebungen andererseits.

Warum ausgerechnet eine Niederlage, über deren strategischen Wert überdies gestritten werden kann, eine derartige Karriere machen konnte wie die Schlacht an den Thermopylen – diese Frage zu beantworten, ist eines der Hauptanliegen des Buches. Mit gutem Grund hält die Verfasserin es für allzu simpel, die Konjunkturen dieses Ereignisses im Verlauf der Geschichte lediglich unter dem Etikett der ‚Identitätsstiftung‘ zu subsumieren (S. 20). Stattdessen arbeitet sie mit dem methodischen Konzept des ‚Historischen Exempels‘, dessen Vorteil sie darin sieht, dass es sich um eine Form der Vergangenheitskonzeption handele, „die durch ihre pragmatische Zweckgebundenheit eine eigene Qualität erhält und zudem stark kontextunabhängig ist“ (S. 16). In drei groß angelegten Kapiteln wird unter dieser Prämisse nach den verschiedenen Rezeptionskonjunkturen der Schlacht gefragt, nach den Gründen für das phasenweise gesteigerte Interesse an ihr, nach der Art und Weise ihrer Darstellung, nach Intentionen, Wertungen, Deutungen, Sinnproduktionen und Sinnzuschreibungen; damit verbunden werden Diskussionen zur Konstruktion männlichen Heldentums sowie seiner Verknüpfung mit spezifischen, historisch variablen Körperkonzepten.

Der erste Hauptteil der Arbeit behandelt die Schlacht an den Thermopylen in der Antike (S. 28-123). Albertz kann sehr plastisch zeigen, dass Verlauf und strategische Bedeutung des Geschehens nicht nur in der Forschung umstritten, sondern dass selbst elementare Fragen wie z.B. nach dem Ort der Kämpfe ungelöst sind. Insofern verwundert es auch nicht, wenn sich bereits der früheste erhaltene Bericht, derjenige Herodots, eher als erstes Beispiel eines komplexen Rezeptionsvorgangs interpretieren lässt denn als zuverlässige Darstellung der Ereignisse. Bereits Herodot eröffnet weite Fragehorizonte und gibt damit eine Deutungsoffenheit vor, die die spätere Karriere der Thermopylen-Schlacht beförderte, aber der antike Historiker präsentiert zugleich auch schon Interpretationsangebote, die ebenfalls später von Bedeutung sein sollten – so etwa die Bewertung der Haltung des Leonidas als bewusstes Selbstopfer. Dagegen geht, wie Albertz zu Recht anmerkt, aus Herodots Bericht nicht hervor, ob die Thermopylenkämpfer für eine besondere ‚spartanische‘ oder aber für eine ‚panhellenische‘ Haltung standen (S. 65).

Außerhalb der Historiographie erscheint die Schlacht dann seit dem 4. Jahrhundert v.Chr., und zwar insbesondere in attischen Reden. Das Ereignis wird damit zum vielseitig verwendbaren historischen Exempel, aber es erfährt nunmehr Deutungsfestlegungen, die Herodot noch nicht getroffen hatte: Die gefallenen Kämpfer gelten jetzt als Helden für die Freiheit Griechenlands, und das berühmte Thermopylen-Epigramm wird zum Inbegriff des Gesetzesgehorsams (S. 79) – einen besonderen Ausdruck findet dies schließlich in Diodors Zitat des Distichons (Diod. 11,33,2), in dem das tendenziell deutungsoffene rhémasi (Hdt. 7,228,2) nunmehr durch das klarer eingegrenzte vomímois ersetzt ist. Diese Tendenz setzt sich in römischer Zeit fort: Cicero, der insbesondere durch seine lateinische Übersetzung des Epigramms den weiteren Rezeptionsprozess befördert hat, deutet die ‚Gesetze‘, denen die Kämpfer gehorcht hätten, strikt im Sinne von „staatlichen Gesetzen“ (S. 99) und gibt damit eine Deutungsvariante vor, die insbesondere in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen sollte, wohingegen die Interpretation der ‚Gesetze‘ als „Verhaltensmaxime bzw. kategorische[r] Imperativ“ für die Rezeption im Deutschland des 20. Jahrhunderts bedeutsam wurde (S. 103). Generell konstatiert die Autorin für die Kaiserzeit einen Bedeutungsverlust der Schlacht, an dem auch Plutarchs, Valerius Maximus‘ und Orosius‘ Bezugnahmen nichts ändern; letztere verweisen aber immerhin darauf, dass die Thermopylenkämpfer bis in die Spätantike als Vorbilder galten (S. 116).

Der zweite große Abschnitt (S. 124-225) verfolgt den Umgang mit der Schlacht in der Zeit „zwischen Revolution und Restauration (1789-1830) und setzt ein mit einer Analyse des Gemäldes ‚Léonidas aux Thermopyles‘ von Jacques-Louis David (1814) sowie dessen Aufnahme durch das Publikum und die Kritik. Albertz gelingt es, die Bildanalyse als Brennspiegel zeitgenössischer Diskurse und Wahrnehmungen zu gestalten und wichtige Aspekte der Rezeption der Thermopylen-Schlacht anhand dieses Zusammenhangs herauszuarbeiten. Dabei zeigt sie, dass David „das erhabene, religiöse Gefühl der Vaterlandsliebe bzw. die männliche Haltung, die sich aus ihm ergibt“, darstellen wollte; beides sah er in der Schlacht verwirklicht und versuchte es über ideal empfundene, zeitlos schöne Körperformen zu transportieren (S. 134) – was die Verfasserin wiederum zu grundsätzlichen Überlegungen zu Veränderungen in der bildlichen Darstellung historischer Ereignisse seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts führt (S. 135f.). In Passagen wie dieser zeigt sich in besonderem Maße der hohe Wert des Buches, das als ideengeschichtliche Darstellung zentraler Phasen der europäischen Geschichte überaus gelungen ist.

Mit der Behandlung der Thermopylen-Schlacht in der Französischen Revolution (S. 145ff.) werden die Kontexte einmal mehr erweitert, indem die Verfasserin erneut nach dem aktuellen Sinnpotential der Schlacht fragt und daran allgemeine Überlegungen zur Antikenrezeption im Frankreich der Revolutionszeit anschließt. Gerade in diesem Punkt zeigt sich der exemplarische Charakter des Zugriffs auf die Antike: Man suchte nach vorbildhaften Beispielen für die Legitimation des eigenen Handelns, konnte zugleich aber auch mit dem Altertum auf einen allseits akzeptierten Sinnträger zurückgreifen. Zentrale Begriffe der eigenen Zeit, wie liberté und patrie, prägten dabei auch den Umgang mit der Thermopylen-Schlacht.

Mit dem Beginn des neuzeitlichen politischen Totenkultes erfuhr die Schlacht einmal mehr eine neue Zugriffsfacette, wobei sich insbesondere die strukturelle Nähe von antikem und neuzeitlichem politischen Totenkult als hilfreich erwies (S. 169). Die gefallenen Thermopylenkämpfer avancierten im Kontext der Revolutions- und napoleonischen Kriege zu Vorbildern für den bürgerlichen Soldatentod. Welche Bedeutung die antike Schlacht in dieser Phase als Deutungsfolie aktueller Ereignisse und Wahrnehmungen besaß, illustriert Albertz anschaulich an der Person des französischen Brigade-Generals Pierre-Jacques-Etienne Cambronne, der bei der Niederlage von Waterloo 1815 die Aufforderung der Engländer, sich zu ergeben, mit den Worten kommentiert haben soll: „La Garde meurt et ne se rend pas.“ Bereits unmittelbar nach seinem vermeintlichen Opfertod (der sich später als Fehlinformation herausstellte; Cambronne war verletzt in englische Gefangenschaft geraten) setzte eine lebhafte Debatte über den General und sein vermeintliches (von ihm später bestrittenes) Diktum ein, die stets vor dem Hintergrund des Thermopylen-Exempels geführt wurde und sogar prominenten Niederschlag in der Literatur (Victor Hugo, Les Misérables) fand (S. 179ff.). Das Leonidas-Vorbild erwies sich dabei, so Albertz, insbesondere im Kontext der Ehre-Konzeptionen der napoleonischen Zeit als bedeutsam: Zwar unterschied sich der damalige Offizier vom Spartanerkönig dadurch, dass er selbst weniger aktiv kämpfte als vielmehr demonstrativ-vorbildhaft dem Ansturm des Gegners standhielt, doch bot die grundsätzliche Bereitschaft, sein Leben für das Vaterland hinzugeben, einen hinreichenden Anknüpfungspunkt. Da sich gleichzeitig das Ideal des für die Heimat kämpfenden und sterbenden Bürgersoldaten herausbildete, bot die Thermopylen-Schlacht damit ein „Konsensmodell“ für unterschiedliche gesellschaftliche Schichten (S. 190).

Ein eigenes Kapitel ist sodann der Rolle der antiken Schlacht im Kontext des griechischen Unabhängigkeitskrieges 1821-1830 gewidmet (S. 199-212). Die Verfasserin zeigt hier eindrucksvoll, mit welchen hohen Erwartungen europäische Philhellenen die Auseinandersetzungen begleiteten – und dabei zunehmend enttäuscht wurden: Die anspruchsvollen moralischen Anforderungen, die sie – unter anderem aufgrund des Thermopylen-Exempels – an die modernen Griechen richteten, wurden in ihrer Wahrnehmung nicht erfüllt, denn sie basierten schlichtweg auf falschen Voraussetzungen und willkürlichen Projektionen: Die ohnehin fragwürdige Imagination der modernen Griechen als Nachfahren der antiken Helden scheiterte bereits daran, dass die Griechen selbst sich sowohl territorial als auch kulturell eher in der Tradition des christlichen Byzantinischen Reiches verorteten. Missverständnisse und Fehldeutungen kennzeichneten daher die wechselseitige Wahrnehmung von Griechen und übrigen Europäern während der Unabhängigkeitskriege.

Die Frage nach der Bedeutung der Thermopylen-Schlacht zwischen der Gründung des deutschen Kaiserreiches und dem 2. Weltkrieg ist schließlich Gegenstand des letzten Großkapitels (S. 226-344). Albertz diskutiert auch in diesem Abschnitt mit fundierter Detailkenntnis zahlreiche Aspekte, auf die nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Am Eingang ihrer Überlegungen steht eine Analyse von Schulbüchern, die verdeutlicht, welch hohe Bedeutung den Thermopylen in den Gymnasien zukam. Aufgrund der engen Verzahnung von humanistischem Gymnasium, Universitäten und Militär im Kaiserreich vermochte die dort niedergelegte Deutung der Ereignisse als ‚Heldentod’ sich rasch allseitig durchzusetzen, wurde allgemein auf die Nation bezogen, und bot wiederum angesichts der aktuellen Ehre-Konzepte Anknüpfungsmöglichkeiten für die bürgerlich-adelige Elite des Reiches.

Seit den 1920er-Jahren, mit dem Einsetzen einer intensiveren Spartaforschung in Deutschland (Victor Ehrenberg, Helmut Berve), nahm die Präsenz der Schlacht an den Thermopylen deutlich zu (S. 263ff.), wobei insbesondere das Epigrammfragment „wie das Gesetz es befahl“ auf Kriegerdenkmälern Karriere machte und aufgrund seiner selektiven Verwendung zur Trivialisierung der Aussage des Distichons beitrug (S. 279ff.). Gleichzeitig wurde das verbreitete Sparta-Bild zunehmend von rassenideologischen Vorstellungen überlagert und in dieser Weise unter den Nationalsozialisten gezielt instrumentalisiert. Die Indienstnahme der Thermopylen-Schlacht durch die NS-Propaganda gipfelte dann in der berühmten Rede Hermann Görings zum zehnten Jahrestag der ‚Machtergreifung’ am 30. Januar 1943, die vor dem Hintergrund der Stalingrad-Katastrophe unter anderem das Thermopylen-Exempel bemühte, um die Niederlage zu erklären und ihr einen Sinn zu geben, ohne dabei die militärische Führung wegen ihrer strategischen Fehlentscheidungen kritisieren zu müssen (S. 293ff.). Vor dem Hintergrund der Assoziationen an Pflichterfüllung und Treue, die seit der Weimarer Zeit besonders häufig belegt sind, wurde das freiwillige Selbstopfer des Leonidas nunmehr zu einem alternativlosen „Geopfert-werden“, dessen brutaler Zynismus den Zeitgenossen wohl nicht entgangen ist.

Albertz’ Buch schließt mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, in dem unter anderem auch Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Wanderer kommst du nach Spa…“ und Oskar Kokoschkas „Triptychon Thermopylae“ diskutiert werden, daneben aber auch auf die zwiespältige Haltung der deutschen Altertumswissenschaft eingegangen wird: Letztere konnte und kann sich erst allmählich von den Lasten der Vergangenheit befreien, an deren unheilvollen Seiten sie nicht unschuldig ist. Neben den jüngeren Arbeiten Stefan Rebenichs 1 und anderer trägt auch das Buch von Anuschka Albertz dazu bei, die noch lange nicht abgeschlossene Aufarbeitung der Rolle der Alten Geschichte in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus voranzubringen.

Albertz’ Buch muss in jeder Hinsicht als vorbildlich angesehen werden. Ihre Analyse eines historischen Exempels verweist ihrerseits exemplarisch auf das enorme Potential einer methodisch reflektierten, materialgesättigten, die ideengeschichtlichen Kontexte stets mitberücksichtigenden rezeptionsgeschichtlichen Studie. Es bleibt zu hoffen, dass die Impulse, die die Monographie in Anlage und Durchführung gibt, in Zukunft aufgegriffen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Rebenich, Stefan, Zwischen Anpassung und Widerstand? Die Berliner Akademie der Wissenschaften von 1933 bis 1945, in: Näf, Beat (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Nationalsozialismus und Faschismus, Mandelbachtal/Cambridge 2001, 203-244; ders., Alte Geschichte zwischen Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, Chiron 31 (2001), 457-496; ders., Nationalsozialismus und Alte Geschichte. Kontinuität und Diskontinuität in Forschung und Lehre, in: Stark, Isolde (Hrsg.), Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR, Stuttgart 2005, 42-64.

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