Wer hätte gedacht, dass von Intellektuellen noch so viel die Rede sein würde – nachdem man sie, ausgerechnet im Ursprungsland ihrer Bezeichnung, wortreich ins Grab verwiesen und auch hierzulande ihre „Dämmerung“ prophezeit hatte? Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den oder dem – selten der – Intellektuellen blüht. Vor zwei Jahren belehrte Stefan Collini seine britischen Landsleute, dass Intellektuelle nicht nur Bewohner des Kontinents seien. Die Forschung zu Intellektuellen in Osteuropa boomt; die Recherche dehnt sich auch mehr und mehr in die fernere Vergangenheit aus.1 Ingrid Gilcher-Holteys Band zu deutschen und französischen Intellektuellen von Bertolt Brecht über Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger bis Günter Grass, von Voltaire über Maximilien de Robespierre und Emile Zola bis Michel Foucault fügt sich sinnvoll in dieses lebendige Interessenfeld ein, basierend auf dem von ihr vertretenen Ansatz der „dynamischen Mentalitätsgeschichte“ und in gekonnter Handhabung der Feld-Theorie Pierre Bourdieus.2 Der Band versammelt zwölf zwischen 1995 und 2007 bereits erschienene Fallstudien, die durch zwei neue Kapitel zu Régis Debray und Michel Foucault sowie eine theoretische Einführung ergänzt werden. Damit führt er Gilcher-Holteys Forschungen zu Karl Kautsky fort und begleitet ihre jüngeren Publikationen zu den Intellektuellen und „1968“ bzw. europäischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert.3
Denken ist nicht nur eine Grundtätigkeit des Gehirns. In konventionell sichtbar gemachter Form und als symbolisch vermittelter Akt, lanciert mit der Absicht, auf politisch-gesellschaftliche Abläufe Einfluss zu nehmen, wird es zum „eingreifenden Denken“. Seine Urheber gelten als Intellektuelle, wenn sie nicht von Berufs wegen mit der Regelung politischer Dinge beauftragt sind. Ihre Aktivität zielt damit auf die Veränderung von Gegebenheiten und Prozessen durch Ideen „von außen“ und eine Praxis der Meinungsäußerung mit möglichst schneller öffentlicher Wahrnehmung. Nicht anders als Politikern, Staatsbeamten, Juristen oder anderen Entscheidungsträgern geht es Intellektuellen dabei um Einfluss und Macht, versteht man darunter die Durchsetzung eigener Ideen oder mindestens das Ziel, eigene Vorstellungen zuungunsten der Vorstellungen anderer zu Gehör zu bringen.
Beide Handlungsrichtungen nimmt Gilcher-Holtey in den Blick: zum einen den Willen zur Wirkung der eigenen Idee, zum anderen die „Distinktions- und Definitionskämpfe“ von Intellektuellen, die Auseinandersetzung um soziale Stellung, Rolle, „Mandat“ (S. 9). Der von Brecht stammende Begriff „eingreifendes Denken“ bezieht sich auf die Effektivität richtig gesetzter und platzierter Worte. Gilcher-Holtey bindet die Frage nach der Effektivität (und den Glauben an sie) eng in „Ereignis- und Handlungskonstellationen“ ein. Wesentlicher Teil der Konstellationen ist das externe „kritische“ Ereignis. In den 14 Fallbeispielen wird so „die Vernetzung von ideellen und materiellen Interessen, Sinn- und Handlungsstrukturen, Macht- und Definitionskämpfen“ erkennbar gemacht und zu einer „Geschichte intellektueller Interventionsstrategien“ verbunden (vgl. S. 9ff., S. 216, S. 376).
Methodisch und theoretisch bezieht sich Gilcher-Holtey dabei auf Max Weber und Pierre Bourdieu, vermittelnd auch auf Karl Mannheim und M. Rainer Lepsius. Weniger gesucht wird eine explizite Anbindung an die aktuelle historische und systematische Intellektuellen-Forschung aus Frankreich und Deutschland.4 Kenntnisreich greift die Autorin indes auf Schriften von Intellektuellen über Intellektuelle zurück, etwa von Jürgen Habermas, Jean-Paul Sartre, Bourdieu, Debray und Foucault, und systematisiert in der Einleitung und am Schluss die verschiedenen Modelle: den „allgemeinen“ bzw. „universellen“ Intellektuellen vom Typus Voltaire, Zola oder Sartre, den „revolutionären“ Intellektuellen marxistischer Ausrichtung, den „spezifischen“ oder Experten-Intellektuellen nach Foucault und den „kollektiven“ Intellektuellen nach Bourdieu (S. 10ff., S. 390ff.).
Gilcher-Holtey nimmt im Wesentlichen bekannte, gesellschaftskritische bzw. so genannte „linke“ Intellektuelle ins Visier. Ihre Zusammenstellung macht darüber hinaus die Rolle von Gruppen deutlich – so des Club Breton, der Gruppe 47 oder der Neuen Linken. Gruppeneffekte sowie Engagement, Selbstanalyse und Selbststilisierung nebst Theatralisierungstendenzen Einzelner werden anschaulich vorgestellt, nicht zuletzt auch auf der Basis persönlicher Gespräche (so mit Régis Debray). Keine Darlegung der Aktivität eines Intellektuellen kommt schließlich ohne Verweise auf die vielfältigen Konflikte und Faktoren aus, die Interventionen mitbestimmten – wie auch die Beispiele der Gruppe 47 oder der Positionierungen von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Max Horkheimer zeigen. Die Schwierigkeiten, mit Worten und symbolischen Akten auf die politische Realität einzuwirken, hingen nicht nur mit widerständigen außer-intellektuellen Fronten und medialen Zwängen zusammen. Insofern ist es richtig, den Akzent auf die „Chancen“ bzw. auf die Schlüsselfunktion der „Diffusion von Ideen“ zu legen (S. 56), für die die konkret-politische Veränderung das treibende Ziel ist, an welchem der Erfolg intellektueller Intervention aber nur bedingt gemessen werden kann.
Dass nach der schwierigen Rollensuche anlässlich der Dreyfus-Affäre auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit externen Anfeindungen und internen Zerwürfnissen nicht Schluss war, beweist das Foucault-Kapitel. Die Redefinition des Intellektuellen als eines „spezifischen“, der nicht mehr für die Sprachlosen spricht, sondern sie zum Sprechen bringt, entstand nicht nur, aber auch aus dem Bedürfnis Foucaults, sich vom Übervater Sartre abzusetzen. Dieser wiederum war immer wieder gezwungen, sein Selbstverständnis zu überprüfen. Gilcher-Holtey zeichnet den Weg nach, der Foucault zunächst dazu führte, die Selbstbeschränkung auf das „Spezifische“ und das Anliegen eines „Aufbrechens“ der „Wahrheitsordnung der Gesellschaft“ zu vertreten und ihn dann anlässlich der Todesurteile gegen Regimegegner in Spanien 1975 eine nachgerade aufklärerisch motivierte Richtung „universeller“ Intellektualität einschlagen ließ, für deren Wirksamkeit er auch das eigene Prestige in die Waagschale warf.
Michel Winock hat ohne Namensnennung Zweifel an der Plausibilität von Bourdieus Perspektive auf die Funktion von Interessen und Strategien für das Denken und Handeln von Intellektuellen geäußert.5 Wie wenig recht er hat, zeigen Gilcher-Holteys Studien. An zahlreichen Stellen des Buches wird sichtbar, dass Interventionen von Intellektuellen Ideen, Positionen und Zielen entspringen, die als individuelle anerkannt und gewürdigt werden müssen und zugleich als sozial bedingte nur im Rahmen komplexer Handlungsgefüge ausreichend zu erfassen sind. Denken, das eingreift, macht sich angreifbar – das zu demonstrieren gelingt diesem Buch ausgezeichnet.
Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Lyotard, Jean-François, Tombeau des intellectuels et autres papiers, Paris 1984; Meyer, Martin (Hrsg.), Intellektuellendämmerung. Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes, München 1992; Charle, Christophe, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997; Held, Jutta, Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002; Laugier, Sandra, Faut-il encore écouter les intellectuels?, Paris 2003; Collini, Stefan, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006; Dahrendorf, Ralf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006; Marin, Noemi, After the Fall. Rhetoric in the Aftermath of Dissent in Post-communist Times, New York 2007.
2 Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid, Plädoyer für eine dynamische Mentalitätsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 476-497.
3 Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid, Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin 1986; dies., „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt am Main 1995; dies., La contribution des intellectuels de la Nouvelle Gauche à la définition du sens de mai 68, in: Dreyfus-Armand, Geneviève u.a. (Hrsg.), Les années 68. Les temps de la contestation, Paris 2000, S. 89-97; dies. (Hrsg.), Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006.
4 Vgl. z.B. Sirinelli, Jean-François, Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle, Paris 1990; François Dosse, La marche des idées. Histoire des intellectuels – histoire intellectuelle, Paris 2003; Racine, Nicole; Trebitsch, Michel (Hrsg.), Intellectuelles. Du genre en histoire des intellectuels, Paris 2004; Beilecke, François; Marmetschke, Katja (Hrsg.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005; Hübinger, Gangolf, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006.
5 Winock, Michel, Le siècle des intellectuels, Paris 1997, 2., erweiterte Aufl. 1999, S. 64f.