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Titel
In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin)


Autor(en)
Ackeret, Markus
Reihe
Mitteilungen des Osteuropa-Instituts München 56
Erschienen
Anzahl Seiten
166 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kamissek, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Spuren des 1917 gestürzten Zarenreiches und der mittlerweile ebenfalls untergegangenen Sowjetunion liegen in der russischen Erinnerungslandschaft räumlich oft dicht nebeneinander. Auf eine dieser bemerkenswerten Topographien macht Markus Ackeret in der Einleitung seiner Studie „In der Welt der Katorga“ aufmerksam: eine Gedenkplatte für Gulag-Häftlinge des Solowezker Archipels, die am Petersburger Troizki-Platz, nur unweit des früheren Sitzes der „Allsowjetischen Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten“ des Zarenreiches aufgestellt wurde (vgl. S. 5). Diese „beklemmende Gleichzeitigkeit“ (ebd.) von Verweisen auf die Lagerwelten des 19. und des 20. Jahrhunderts lieferte dem Autor ursprünglich den Anstoß zu einem Vergleich zwischen der Zwangsarbeit im zarischen Russland und in der stalinistischen Sowjetunion.

Im Rahmen seiner 2004/05 an der Universität Zürich bei Carsten Goehrke entstandenen und nun vom Osteuropa-Institut München veröffentlichten Lizentiatsarbeit konnte dieser freilich nicht durchgeführt werden. Stattdessen stellt Ackeret hier allein die „Frage nach dem Charakter und der Funktion der politischen Katorga“ (S. 9) im ausgehenden Zarenreich in den Mittelpunkt, das heißt der Zwangarbeitsstrafe für sogenannte „politische Häftlinge“, die in Verbannungsorte in Ostsibirien oder nach 1868 auch auf die Inselkolonie Sachalin verbracht wurden. Methodisch inspiriert durch Anne Applebaums vielbeachtete Gulag-Studie1 sollen Alltag und Lebenswelt der zarischen Zwangsarbeitsorte rekonstruiert und damit deren bisher zurückhaltende wissenschaftliche Erforschung angeregt werden. Als Quellen für diese Analysen dienen die zwischen 1921 und 1935 in der Zeitschrift „Katorga i ssylka“ veröffentlichten Erinnerungen ehemaliger Inhaftierter, Reiseberichte und Reportagen russischer und ausländischer Beobachter (unter anderem George Kennans bekanntes Buch über seine Reise nach Sibirien2), sowie das veröffentlichte Schriftgut der Gefängnisverwaltung.

Ackeret hat in seiner Studie eine bemerkenswerte Anzahl von Quellenzeugnissen zum Lagerleben im zarischen Russland zusammengetragen und in einen flüssigen, bisweilen interessanten Text integriert. Er nimmt seine Leser zunächst mit auf die monatelange Reise der Gefangenen, die diese über Tausende von Kilometern an die Orte ihrer Verbannung führte. Insbesondere die zahllosen Etappengefängnisse auf dem Weg wurden zu ersten Begegnungsorten mit der Weite des russischen Imperiums und mit seinen Bewohnern, die gerade den überwiegend städtisch geprägten „politischen“ Verbannten bis dahin unbekannt waren. Ebenso erfuhren sie hier ihre Initiation in die Häftlingsgesellschaft, die von den „Kriminellen“ dominiert wurde. Beide Häftlingsgruppen wurden weitgehend getrennt untergebracht und transportiert. Bisweilen setzten die „Politischen“ diese Trennung aber auch erst durch Protest bei den Begleitmannschaften durch und pochten auf ihre Sonderbehandlung. Daher scheint es fraglich, ob die in den Quellen auftauchenden Hinweise, dass schwere Konflikte zwischen den beiden Gruppen ausblieben, tatsächlich zutreffen (vgl. S. 55). Die Absonderung und das häufige Fehlen von Arbeitsmöglichkeiten an den Haftorten ermöglichte den Gefangenen die Ausübung von zahlreichen Bildungs- und Kulturaktivitäten, welche die Verbannung im Vergleich zur vorangegangenen Gefängnishaft oftmals wie eine Befreiung erscheinen ließen. Insbesondere ließ sich in diesem „Archiv der Revolutionäre“ (S. 65) Solidarität erproben und konnten Erfahrungen im politischen Kampf ausgetauscht werden. Ausführlich thematisiert werden ebenso die Versorgung und Unterbringung der Häftlinge, deren Kontakte zur Außenwelt oder die Konflikte und Kooperationen mit der Gefängnisverwaltung, die sich in Abhängigkeit von der aktuellen politischen Stimmung unterschiedlich gestalten konnten. Insbesondere die Jahre nach der Revolution von 1905 brachten in dieser Hinsicht ein starkes Anwachsen der „politischen“ Verbannten und damit eine massive Vergrößerung der Häftlingsgesellschaft sowie eine Verschärfung der gefängnisinternen Auseinandersetzungen.

Gerade durch vielerlei interessante Details kann Ackerets Studie in der Tat in Anspruch nehmen, neue Facetten der Verbannungsstrafe im Zarenreich zutage gefördert zu haben (vgl. S. 143). Trotzdem lässt sie den Leser schließlich mit dem Gefühl zurück, nicht tatsächlich mehr über eine Geschichte von Lager und Zwangsarbeit im 19. und 20. Jahrhundert erfahren zu haben. Auch das konkrete Gefangenenleben selbst, das als „Panorama der Lebenswelten in der Katorga“ in einer „detailgenauen, mikrohistorisch inspirierten Darstellung und Analyse“ (S. 11) entworfen werden sollte, bleibt merkwürdig blass. Worauf lässt sich dieser Eindruck zurückführen?

Zunächst gelingt es Ackeret nicht vollständig, von dem ursprünglich intendierten Vergleich der verschiedenen Lagerordnungen abzusehen. Hinweise auf Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Katorga-System und stalinistischem Gulag durchziehen den Text, werden aber nicht systematisch ausgeführt. Vor dem impliziten Hintergrund der monströsen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit seinen Millionenheeren von Zwangsarbeitern, die bei gewaltigen Bauprojekten zum Einsatz kamen und hier massenhaft den Tod fanden, gewinnen die zarischen Verbannungsorte oft einen beinahe idyllischen Charakter. Am deutlichsten aber sticht hervor, dass erzwungene Arbeit überhaupt keinen konstitutiven Bestandteil des Aufenthaltes in der Katorga bildete. Die bis 1890 vorgenommene Trennung der aus politischen Gründen Inhaftierten von den „kriminellen“ Häftlingen, sowie praktische Schwierigkeiten und zahlreiche organisatorische Unzulänglichkeiten der Lagerverwaltung, machten regelmäßige harte Zwangsarbeit sogar zu einer Ausnahme. Entsprechend öffneten sich für die Insassen der Lager andere Betätigungsmöglichkeiten, die sie durch Studien- und Bildungsangebote oder ein reichhaltiges Kulturleben mit Theater und Musik auszufüllen versuchten. Derartiges Engagement zog die Bevölkerung der umliegenden Landstriche an und führte punktuell zu einer Aufweichung der Grenzen zwischen Lager und Außenwelt. Da Ackeret sich eines Vergleiches mit dem sowjetischen Lagersystem nach 1917 aber bewusst enthalten wollte, hat er leider die Frage ausgespart, wie diese Erfahrungen die politischen Häftlinge prägten, sich letztlich auf ihre Gruppensolidarität auswirkten oder über das Revolutionsjahr hinaus in das Staatsexperiment der Bolschewiki transferiert wurden.

Diese Perspektive hätte auch für eine grundlegendere Quellenkritik fruchtbar gemacht werden können, entstanden doch zahlreiche Berichte über das Verbannungsleben erst in der Retrospektive der 1920er-Jahre oder sie wurden, wie etwa die Erinnerungen des Offiziers und Gefängnisvorstehers Gennadi Tschemodanow, offenbar nachträglich überarbeitet (vgl. S. 15). Daher erscheint es fraglich, ob manche der auf diesem Wege gewonnenen Informationen, etwa über die Hochachtung, welche die Kriminellen den politischen Häftlingen angeblich entgegenbrachten (vgl. S. 57) oder die stereotypen Schilderungen der Unfähigkeit und Schwäche der Gefängnisverwaltung, tatsächlich valide sind. Letztlich bleibt Ackeret nichts anderes übrig, als immer wieder die Ambivalenz der Schilderungen zu konstatieren (so S. 78 und S. 118), ohne eine Möglichkeit der Auflösung der divergierenden Erinnerungs- und Darstellungsweisen zu finden und damit ein konsistentes Bild des Lagerlebens bieten zu können. Dem hätte durch eine strengere Konzentration auf einzelne Lager oder Episoden des dortigen Alltags abgeholfen werden können, während die systematische Behandlung verschiedener Aspekte und Fragestellungen zu wechselnden Zeiten und an verschiedenen Orten eher zu Verwirrung führt und stellenweise zu oberflächlich bleibt.

Die Frage drängt sich schließlich auf, ob eine fruchtbare Annäherung an die „Welt der Katorga“ des ausgehenden Zarenreiches tatsächlich möglich ist, wenn diese über die Quellenzeugnisse einer quantitativ äußerst marginalen Gruppe von Inhaftierten versucht wird (um die Jahrhundertwende wurden von den zur Zwangsarbeit verurteilten Verbannten nur 1,6 Prozent als „Politische“ eingestuft, vgl. S. 42f.) und die erzwungene Arbeit selbst in deren Alltag einen häufig nur untergeordneten Stellenwert einnahm. Statt lediglich dieses Defizit zu konstatieren, würde es sich anbieten, explizit nach dem Sinn der Verbannungsstrafe innerhalb der Gesellschaft des Zarenreiches zu fragen. Deren deutlich vormoderner Charakter erschloss sich gerade den inhaftierten Intellektuellen zu wenig und ist daher auch über ihre Zeugnisse nur unvollständig zu rekonstruieren. Ackerets Verdienst ist es, diesen Weg trotzdem beschritten zu haben, um abschließend einige wichtige weiterführende Fragen zu stellen. Zu diesen gehören die Kontextualisierung der Wahrnehmung der Verbannungsorte durch die Häftlinge unter Einbezug gruppendynamischer und sozialpsychologischer Ansätze, eine Analyse und differenzierende Darstellung der Lebenswelten sowohl der „kriminellen“ wie auch der „politischen“ Häftlinge und eine Kontrastierung der Erinnerungsliteratur durch archivalische Quellen, die über in den Memoiren ausgesparte Aspekte des Lageralltags, wie Sexualität, Sterblichkeit, Tod, aber auch Konflikte zwischen den und innerhalb der Häftlingsgruppen Auskunft geben könnten (vgl. S. 143f.). Insofern erweist sich die vorliegende Untersuchung als eine hilfreiche Anregung und Propädeutik zu weiteren Studien und damit als eine gelungene wissenschaftliche Abschlussarbeit.

Anmerkungen:
1 Applebaum, Anne, Gulag: A History, New York u.a. 2003; deutsch: Der Gulag, Berlin 2003.
2 Kennan, George, Siberia and the Exile Systeme, 2 Bde., London 1891.

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