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Titel
Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Studt, Birgit
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XX, 166 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Schmolinsky, Philosophische Fakultät, Universität Erfurt

Im Zuge des sich seit Jahren verstärkenden Interesses an eigenbezüglichen Quellen sind Haus-, Familien- und Geschlechterbücher zunehmend ins Blickfeld der Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung getreten. Sie erregen Aufmerksamkeit im Rahmen der Untersuchung von Selbstzeugnissen/Egodokumenten wie als facettenreiche Quellen zur Geschichte der Repräsentation von Familie und Verwandtschaft in städtisch-patrizischen oder adeligen Lebenswelten. Dabei lenken sie das Augenmerk in besonderem Maß auf die handschriftlichen Überlieferungsträger und deren Ausstattung.

Der von Birgit Studt herausgegebene Sammelband ist diesen Buchtypen im städtischen Raum gewidmet. In ihrer Einführung stellt Studt die Frage nach der Rolle familienbezogener Schriftlichkeit innerhalb der städtischen Erinnerungskultur und spitzt sie auf diejenige städtischer Eliten zu. Deren Familienchroniken wiesen wechselseitige Einflüsse aus patrizisch-städtischen und landadeligen Milieus auf. Terminologisch wählt sie „Haus- und Familienbücher“ als Oberbegriff für „Dokumentationsformen“, in denen familiengeschichtliches, autobiographisches, kaufmännisches, hauswirtschaftliches und anderes Wissen vereint sein kann (S. XIIf.). In ihrem Beitrag „Erinnerung und Identität. Die Repräsentation städtischer Eliten in spätmittelalterlichen Haus- und Familienbüchern“ erörtert sie zudem exemplarisch und systematisch „die Familienbuchführung als soziale Praxis“ (S. 6)1 der städtischen Eliten, die einen Teil von deren „Repräsentationsverhalten“ (S. 29) bildet. Studt zieht dabei eine deutliche Trennlinie zwischen der „dynastische[n] Raison“ (land-)adeliger Geschlechter und städtisch geprägtem „Familienbewusstsein“ (S. 31).

Gregor Rohmann hingegen akzentuiert in seinem Beitrag „mit seer grosser muhe vnd schreiben an ferre Ort. Wissensproduktion und Wissensvernetzung in der deutschsprachigen Familienbuchschreibung des 16. Jahrhunderts“ diese Praxis jenseits der Interessen an Genealogie oder familiärer Identität „als kommunikatives wie materielles Substrat sozialer Beziehungen“ (S. 120). An mehreren Beispielen geht er Fragen der Pragmatik der Familienbuchschreibung nach. Anhand der historischen Verschriftlichung von Wissenswertem entwickelt er Begriffe von Wissen, die auch Implikationen über retrospektive Reichweiten der Erinnerung zeitgleich miteinander lebender Generationen enthalten („Vernetzungswissen“, „vernetztes Wissen“, „Wissensvernetzung“). Rohmann zeigt, wie mündlich und schriftlich vermitteltes Familienwissen von einem Familienvater oder jemandem in dessen Rolle zu einem Familienbuch verschriftlicht wurde, das in medialen Netzen bzw. intertextuell mit anderen Büchern, eigenen oder denen anderer Familien, gegebenenfalls auch der städtischen Verwaltungsschriftlichkeit, verbunden war.2 So realisierten sich im Familienbuch als „Speicher“, als „Medium [von] Kommunikation“ und als „Gegenstand dieser Kommunikation“ soziale Netzwerke „dreifach im Wissensnetzwerk der Familienbuchschreibung“ (S. 109).

Die übrigen Beiträge des Bandes beschäftigen sich eingehender mit einzelnen Quellen. Marc von der Höh („Zwischen religiöser Memoria und Familiengeschichte. Das Familienbuch des Werner Overstolz“) zeigt, wie die Verschränkung von kodikologisch-paläographischen Beobachtungen und inhaltlicher Analyse zu Aussagen über „den persönlichen Umgang eines spätmittelalterlichen Patriziers mit der Schriftlichkeit“ (S. 37) führen kann. Offensichtlich angelegt zu Zwecken der familialen Totenmemoria, bestand die Handschrift zunächst aus Kopien von Urkunden über Stiftungen an den Familienaltar in der Kirche des Zisterzienserinnen-Klosters St. Maria in Seyne. Diese wurden dann um Bestimmungen zur Ordnung des Altardienstes und zur Ausstattung ergänzt. Hinzu kamen Aufzeichnungen über die Gräber von Vorfahren und Verwandten sowie über Familiennachrichten, Genealogien, Wappen, lebende Verwandte des Ehepaars Werner Overstolz und Elisabeth Rotstock. Dieses Wissen zum Erweis der eigenen adeligen Abkunft und der Verbundenheit mit der Stadt und ihrer Geschichte kennzeichnet von der Höh als symbolisches Kapital, angesammelt zu einer Zeit (1444/1445-1446), in der die gesellschaftliche Stellung der alten Geschlechter in Köln prekär geworden war. Den drohenden Verlust des sozialen Gedächtnisses aufzufangen, bedurfte eines Gedächtnisortes, wie ihn Werner Overstolz in Gestalt seines Familienbuchs geschaffen habe.

Stiftungen und die mit ihnen verbundenen Formen von Memoria seitens städtischer Eliten stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Christian Kuhn, „Totengedenken und Stiftungsmemoria. Familiäres Vermächtnis und Gedächtnisbildung der Nürnberger Tucher (1450-1550)“. Insbesondere interessieren ihn die aufgrund der Einführung der Reformation anzunehmenden Umwertungen von Stiftungen bzw. Stiftungszwecken und deren Auswirkungen auf die historiographische Selbstdarstellung patrizischer Familien. Im "Großen Tucherbuch" aus dem späten 16. Jahrhundert findet er Belege für Elemente altgläubiger Frömmigkeit wie die Sorge um das künftige Seelenheil und solche für die Sorge um das geistliche Heil der Pfarrgemeinde neben einem ausführlichen Bekenntnis zur lutherischen Konfession.

Die Spuren der religiösen Umorientierung hin zur Reformation finden sich auch in der Handschrift, die Alexa Renggli in ihrem Beitrag „Das Familienbuch Hans Voglers des Älteren und des Jüngeren. Entstehung und praktische Bedeutung“ vorstellt. Das gänzlich textorientierte Buch ist seit 1479 im St. Galler Rheintal entstanden und enthält seitens des Vaters Vogler familiengeschichtliche Aufzeichnungen, eine Rubrik über die Weinläufe (den festgesetzten Marktpreis für Wein) im Rheintal, annalistische Aufzeichnungen vornehmlich aus regionaler Perspektive, eine Sammlung von literarischen Texten, Gebeten, religiösen Betrachtungen, Rezepten und ein Verzeichnis der Vögte der Herrschaft Rheintal. Der Sohn hingegen verfasste retrospektiv eine ausführliche Beschreibung seines Lebens und der Ereignisse um die Reformation im Rheintal, an denen er führend beteiligt gewesen war. In Abschriften und Regesten fügte er eine umfangreiche Aktensammlung bei. Nach wenigen Aufzeichnungen des Haupterben der dritten Generation erlosch der aktive Umgang mit dem Buch.

Im Beitrag von Martin Scheutz und Harald Tersch‚ „Memoria und ‚Gesellschaft‘. Die Stadt als Bühne in drei oberösterreichischen Selbstzeugnissen von Frauen aus dem 17. Jahrhundert“ figuriert ‚Selbstzeugnis‘ als Oberbegriff auch für Haus- und Familienbücher, hier das „Gerasche Gedächtnisbuch“ und die so genannte „Chronik der Peisser“. Ersteres besteht aus den Aufzeichnungen der protestantischen Adeligen Esther von Gera (gestorben 1611) und den zwischen 1647 und 1653 niedergeschriebenen diaristischen Notizen ihrer katholischen Enkelin Maria Susanna von Weissenberg. Beider Schilderungen gelten dem Leben des Landadels und seinen Beziehungsnetzen in der Steiermark und dann im Land ob der Enns. Ihre Welt unterteilte sich nach Land und Stadt, wobei letztere, besonders Landeshauptstädte wie Linz, als bevorzugte Bühne adeliger Standesrepräsentation bei Übergangsriten wie Hochzeit, Taufe oder Begräbnis figurierte. Dem Linzer Patriziat entstammt das etwa zeitgleiche "Memori Piehel" für die Jahre 1653–1703, das von dem Kaufmann Johann Peisser angelegt worden war und von seiner Frau Eva Maria Schreiner detaillierter und betont moralisch-didaktisch fortgeführt wurde. Sie schufen und dokumentierten die Präsenz der Familie in den Linzer Sakralräumen durch religiöse Stiftungen. Scheutz und Tersch charakterisieren Linz als „Textstadt“, da bei den Autorinnen und Autoren Vorgaben verschiedener Schrifttraditionen zusammenflossen, die auch Linz in wechselnden, sozial und ökonomisch, gegebenenfalls auch moraldidaktisch konnotierten Raumausschnitten als „Schauplätzen eines statusgerechten Handelns“ (S. 154) ein eigenes Ansehen verliehen. Adelige und bürgerliche Lebensführung wie Familiengeschichtsschreibung wiesen dabei teils gemeinsame Merkmale auf.

Raum zeigt sich in allen Beiträgen als eine grundlegende Kategorie zur Erfassung und Beschreibung von Haus- und Familienbüchern. Diese im städtischen Milieu und bei seinen adeligen Mitgestalterinnen und Mitgestaltern zu beobachten, heißt sie an einem ihrer Ursprungsorte zu untersuchen. Namentlich gilt dies hier mindestens für die Städte Nürnberg, Augsburg, Frankfurt am Main, Köln, Hamburg, Graz und Linz sowie unter regionalem Aspekt für das St. Galler Rheintal und Oberösterreich. Der Band leistet daher Grundlagenarbeit für einen wenig erforschten Quellentyp, und ihm ist sehr zu wünschen, dass er interdisziplinär die ihm gebührende Aufmerksamkeit finden und weitere Forschung anregen wird.

Anmerkungen:
1 Der Begriff der sozialen Praxis hat in der Selbstzeugnisforschung einen Referenzpunkt in der Untersuchung von Gabriele Jancke, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Köln 2002.
2 Barbara Schmid wählt in einem thematisch zugehörigen Beitrag den Namen ‚Hausbuch‘ und unterscheidet diesen Quellentyp von Geschlechterbüchern (S. 613f.). Barbara Schmid, Das Hausbuch als literarische Gattung. Die Aufzeichnungen Johann Heinrich Wasers (1600–1669) und die Zürcher Hausbuchüberlieferung, in: Daphnis 34 (2005), S. 603–656.

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