„Die Zeit schreitet voran, während der Raum herumlungert.“1 Mit dieser griffigen Formulierung verwies 1993 die britische Geographin Doreen Massey auf einen für die Sozial- und Kulturwissenschaften lange zentralen Irrtum: Während Zeit als Ordnungsbegriff des Nacheinanders und des historischen Wandels galt, der für Bewegung, Dynamik und Veränderung stand, erschien Raum als materielles Substrat, als Ort oder vorhandenes Gebiet. Der Raum wirkte unbeweglich und starr, zum bloßen Handlungshintergrund verkommen. Bestenfalls wurde der Raum als Container möglicher Geschichte verstanden, der das soziale Geschehen umschließt und damit aus Handlungskontexten herausgelöst blieb. Die Frage nach Entstehung und Wandel räumlicher Ordnungen fand lange keine besondere Aufmerksamkeit. Dass es sich bei der Kategorie Raum um ein soziales Konstrukt handelt, war auch vor 20 Jahren keine neue Erkenntnis, doch ist es unter anderem der marxistisch orientierten Humangeographie der 1980er-Jahre zu verdanken, dass der gesellschaftlichen Produktion von Raum seither wieder eine erhöhte Beachtung zukommt. Programmatisch für diesen Spatial Turn waren die theoretischen Arbeiten des britischen Geographen David Harvey, der mit Texten wie „Between Space and Time: Reflections on the Geographical Imagination“ (1990) eine räumlich konzipierte Gesellschaftsanalyse über Fachgrenzen hinweg anregte und nachhaltig prägte.
Es ist daher verdienstvoll und überfällig, Harveys richtungweisenden Beitrag sowie andere grundlegende Texte der „Radical Geography“ aus den 1990er-Jahren in deutscher Übersetzung vorzulegen. Bernd Belina und Boris Michel haben mit „Raumproduktionen“ einen Reader herausgegeben, der im ersten Teil mit insgesamt fünf Beiträgen eher die theoretische Diskussion aufgreift, während im zweiten Teil wirtschafts- und stadtgeographische Arbeiten US-amerikanischer Wissenschaftler im Mittelpunkt stehen. Einleitend betonen die Herausgeber, dass es ihr zentrales Anliegen sei, die in Deutschland nur unzureichende Rezeption „linker Geographie“ anzuregen und diese Leerstelle zu füllen (S. 7). Denn trotz der gegenwärtigen Hochkonjunktur raumorientierter Forschung in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften mangele es der deutschen Debatte vor allem an politischem Profil. Das unpolitische Gerede vom Raum stehe in der Gefahr, „hinter die Kritik idealistischer und vulgär-materialistischer Raumkonzepte zurückzufallen“. Nur im Rahmen kritisch-materialistischer Theorie sei die Beschäftigung mit Fragen des Raums sinnvoll und notwendig, „um die räumlichen Dimensionen kapitalistischer, patriarchaler und rassischer Vergesellschaftung ebenso wie die Widerstandsmöglichkeiten gegen diese besser verstehen zu können“ (S. 13). Dass Belina und Michel eine konstruktivistische Raumtheorie, die keineswegs – wie die Herausgeber pauschal unterstellen – auf dem Raum an sich jenseits gesellschaftlicher Praktiken beruht, nur innerhalb einer marxistischen Gesellschaftstheorie anerkennen, verweist auf ideologische Engführungen des Bandes, über die nur schwer hinwegzulesen ist.
Erfreulicherweise wenden sich die Herausgeber in ihrer Einleitung aber auch Theoretikern wie Henri Lefebvre, Michel Foucault und eben David Harvey zu. Dass Raum nach deren Auffassung als Produkt sozialer Praxis zu verstehen ist, die in der Regel konflikthaft verlaufe, war und ist eine für die fachübergreifende Raumdiskussion zentrale Sicht, aber für diejenigen, die sich auch schon theoretisch mit der Kategorie Raum befasst haben, nicht wirklich neu. Gleichwohl ist die Lektüre der im ersten Teil des Bandes versammelten Texte durchaus lohnend. Neben Harveys programmatischem Beitrag „Zwischen Raum und Zeit: Reflektionen zur Geographischen Imagination“, dessen Signalwirkung auch jenseits seiner Kapitalismuskritik unbestritten ist und der mit dem modernisierungstheoretischen Paradigma der „Raum-Zeit-Verdichtung“ eines der zentralen Schlagworte für die Neukonstituierung der Humangeographie geliefert hat, analysiert der US-amerikanische Geograph Neil Smith in Anlehnung an die Marxsche Gebrauchswerttheorie den vernachlässigten Zusammenhang zwischen politischem Raum und globaler Marktentwicklung. Anschließend liefert Edward Soja mit dem aus seinem Buch „Postmodern Geographies“ entnommenen Beitrag einen chronologischen Überblick zur Entwicklung marxistischer Geographie, während Doreen Massey die von Ernesto Laclau vertretene Auffassung, beim Raum handele es sich um einen Bereich des Stillstandes, in dem es keine Zeitlichkeit und damit keine Möglichkeit von Politik gebe, einer dezidierten Kritik unterzieht. Insbesondere dieser und der nachfolgende Text von Derek Gregory, der sich kritisch mit Harveys Verdichtungs- und Kolonisierungsbegriffen auseinandersetzt, verdeutlichen nicht nur die Bandbreite der theoretischen Positionen; sie demonstrieren auch das hohe Reflexionsniveau, das die „Radical Geography“ auszeichnet.
Im zweiten Teil des Bandes geht es um wirtschafts- und stadtgeographische Studien, wie sie insbesondere in den USA in Anlehnung an Henri Lefebvres „La Production de l’Espace“ entstanden sind. Damit konzentriert sich der Band auf anwendungsorientierte Forschungen, die für einen fachübergreifenden Diskurs weniger Anknüpfungspunkte bereitstellen. Cindi Katz beispielsweise greift Foucaults Begriff der Heterotopie auf und analysiert postmoderne Raumveränderungen am Beispiel der Grand Central Station in New York, Andrew Herod plädiert aus wirtschaftsgeographischer Perspektive dafür, Arbeiter/innen als räumliche Akteure in die Analyse von Produktionsverhältnisse einzubeziehen, und Eugene J. McCann beschäftigt sich mit der Produktion und Repräsentation „rassifizierter Geographien in US-amerikanischen Städten“ (S. 235) am Beispiel der Stadt Lexington/Kentucky. Zwar zeigt gerade der zuletzt genannte Beitrag, wie Lefebvres begriffliche Trias der „räumlichen Praktiken“, der „Repräsentationen von Raum“ und der „Räume der Repräsentation“ gewinnbringend genutzt und variiert werden kann. Gleichzeitig wird an dieser auf dem amerikanischen Konzept von „race“ basierenden Studie aber auch ersichtlich, dass eine Übersetzung solcher Texte ins Deutsche keineswegs ausreichend ist, um den kritischen Dialog mit der „Radical Geography“ zu beleben.
Der Dialog mit der Geographie, deren Vertreter sich zur aktuellen Raumdebatte ja durchaus unterschiedlich positionieren, ist auch für den von Jörg Döring und Tristan Thielmann herausgegebenen Sammelband von konzeptioneller Bedeutung. Unter dem Titel „Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ haben sie insgesamt 16 Beiträge versammelt, die sie als fachübergreifende Anthologie verstanden wissen wollen. Ihr Ausgangspunkt ist nicht nur der inflationäre Gebrauch des Begriffs, sondern auch das in den einzelnen Disziplinen durchaus spezifische Verständnis, was unter „Verräumlichung“ oder „raumbezogener“ Forschung eigentlich zu fassen sei. Gibt es den viel beschworenen Spatial Turn als transdisziplinären Paradigmenwechsel überhaupt, oder handelt es sich nicht vielmehr um eine „Verweiskette mit Selbstverstärkereffekt“ (S. 11)? Die Herausgeber machen aus ihrer Skepsis kein Geheimnis und fragen folgerichtig zunächst nach den fachspezifisch perspektivierten Positionen innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften.
Die Bandbreite der Beiträge ist beachtlich: Der Historiker Eric Piltz beispielsweise setzt sich kritisch mit der für die Geschichtswissenschaft richtungweisenden Mittelmeerstudie von Fernand Braudel auseinander, der Soziologe Rudolf Stichweh bemüht sich um die vorsichtige Rehabilitierung des geographischen Materialismus innerhalb der Systemtheorie, und Manfred Faßler entwirft als exponierter Vertreter einer kybernetischen Medienanthropologie den Raum als virtuelles Schaltungsversprechen. Die Vielfalt der theoretischen wie empirischen Zugänge liest sich in der Gesamtschau überaus anregend, und die gut strukturierte Einleitung der Herausgeber ermöglicht es, halbwegs orientiert von einem Raum zum nächsten zu gelangen. Zwar erweist sich der Spatial Turn dabei relativ schnell als eher begriffliche denn als konzeptionelle Klammer – das reduziert jedoch nicht sein analytisches Potential.
Was eine an der Kategorie Raum orientierte Studie zu leisten vermag, lässt sich an Jörg Dünnes Beitrag zur kartographischen Repräsentation besonders eindrücklich nachzeichnen. Dünne widmet sich dem für die Frühe Neuzeit spezifischen Territorialisierungsschub und untersucht anhand von drei Beispielen medienhistorische Möglichkeitsbedingungen für kulturelle Topographien. Dabei geht es ihm darum, anhand des Mediums Karte den Raum in seiner frühneuzeitlichen territorialen Konstituierung sowohl als Machtdispositiv wie auch als Wissensdiskurs zu markieren. Die Entwicklung moderner Territorialität wird als Korrelat einer bestimmten medialen Praxis verstanden, „die Raum mittels Karten in doppelter Weise operationalisiert: einerseits als vermessbarer Raum der Macht, andererseits aber auch als ikonisch bzw. symbolisch kodierter Raum des Wissens und der Imagination“ (S. 50). Die entscheidende Schwelle zum neuzeitlichen Verständnis liege keineswegs darin, dass Karten nun genauer oder objektiver würden, sondern dass „überhaupt erst ein durchgängiger indexikalischer Bezug zwischen Karte und Territorium hergestellt wird. In der Methodisierung der referenziellen Adressierbarkeit von Orten im physischen Raum entsteht obendrein die Kohärenz eines Wissensraums, der gemeinsamen Regeln der Repräsentation folgt“ (S. 57). Kolumbus war höchstwahrscheinlich nicht der erste Europäer, der in Amerika landete – trotzdem gilt er als Entdecker der Neuen Welt. Laut Dünne liegt das an der medialen Verzeichnung, wie sie beispielsweise durch die berühmte Karte von Martin Waldseemüller aus dem Jahr 1507 überliefert ist. Amerika wurde also von Kolumbus nicht im wörtlichen Sinne entdeckt, sondern entstand „im Akt der Verknüpfung eines bis dahin nicht näher bestimmten Territoriums mit der symbolischen Affirmation seiner Neuigkeit“ (S. 65). Dünne kann präzise und theoretisch brillant den Zusammenhang von moderner Territorialität und ihrem Leitmedium Kartographie verdeutlichen; für künftige Studien zum politischen Raum setzt er damit hohe Maßstäbe.
Der zweite Teil des Bandes sucht das Gespräch mit den Geographen – was sich als nicht gerade einfaches Unterfangen erweist. Die Humangeographie ist in der Raumfrage tief gespalten: Zum einen findet man euphorische Befürworter des Spatial Turn wie Edward Soja, der sich nicht nur als Wortschöpfer, sondern auch als Mentor dieses seiner Meinung nach transdisziplinären Großparadigmas versteht. Die von Soja beanspruchte Bedeutung schlägt sich allerdings nicht in einem Theorieentwurf nieder, der zu überzeugen vermag. Sein Beitrag rekurriert zwar auf die in jüngster Zeit diskutierte und von Pierre Bourdieu inspirierte Begriffsbildung des „räumlichen Kapitals“, doch bleibt dieser an sich innovative Gedanke bei Soja ebenso konturlos wie das fragwürdige Konzept „räumlicher Gerechtigkeit“, das er für die Stadtgeographie heraushebt. Damit fällt der Beitrag deutlich hinter das zurück, was andere Geographen zum Spatial Turn beizutragen haben. Unter ihnen treten insbesondere die scharfen Kritiker eines am Raumbegriff orientierten Forschungsdesigns in den Vordergrund. Gerhard Hard beispielsweise geht nicht nur mit Karl Schlögels stellenweise barocker Raummetaphorik hart ins Gericht, er unterzieht auch Martina Löws Raumsoziologie einer vernichtenden Kritik, indem er ihre am „Partyraum“ konkretisierten Thesen als Trivialisierung einer längst überholten, altgeographischen Raumkonstruktion demontiert.
Lässt man die zwar unterhaltsamen, aber nicht immer weiterführenden Polemiken Hards beiseite, kristallisieren sich mit den Beiträgen von Marc Redepenning, Roland Lippuner und Benno Werlen drei zentrale Feststellungen heraus: Zum einen sind Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und andere fachfremde Raumspezialisten gut beraten, den in der Humangeographie trotz interner Kontroversen erreichten Forschungsstand nicht durch ein ahnungsloses Gerede vom „Raum an sich“ zu unterbieten. Zweitens scheint es insbesondere zwischen Soziologen (mit und ohne Systemtheorie) und den zu Sozialwissenschaftlern konvertierten Geographen einen spezifischen Klärungsbedarf zu geben, von dem sicherlich auch über Fachgrenzen hinweg zu profitieren wäre, wenn es denn gelänge, ihn konstruktiver anzugehen. Und drittens ist es überfällig, dass sich die mit der Kategorie Raum arbeitende Geschichtswissenschaft nicht länger aus der geographischen Rumpelkammer bedient, sondern innovative Konzepte, wie sie bereits für die Frühe Neuzeit existieren, aufgreift und weiter entwickelt. Der von Jörg Döring und Tristan Thielmann herausgegebene Band liefert hierfür hervorragende Orientierungshilfen und ist daher allen Raumpionieren diesseits und jenseits des Spatial Turn wärmstens zu empfehlen.
Anmerkung:
1 Massey, Doreen, Raum, Ort und Geschlecht. Feministische Kritik geographischer Konzepte, in: Bühler, Elisabeth u.a. (Hrsg.), Ortssuche. Zur Geographie der Geschlechterdifferenz, Zürich 1993, S. 109-122, hier S. 118.