Zahlenangaben, Maße und Maßeinheiten sind uns allgegenwärtig. Ohne sie würde unsere hochtechnisierte Gesellschaft nicht funktionieren; das gilt, mit entsprechenden Abstrichen, auch für die antiken Gesellschaften. Die Metrologie hat sich als Zweig der Wissenschafts- und Technikgeschichte etabliert, ist darüber hinaus aber auch für andere Wissenschaften relevant, etwa für die Archäologie. Jedoch ist auffällig, dass die metrologische Forschung anderen Epochen größeres Augenmerk schenkt, während das Altertum nach einer gewissen Blüte im 19. Jahrhundert mehr oder weniger in einen Dornröschenschlaf verfallen ist.1 Entsprechend alt ist auch die Sammlung metrologischer Fachtexte von Friedrich Hultsch.2 Es ist die erklärte Absicht von Klaus Geus, seines Zeichens Privatdozent für Alte Geschichte an der Universität Mannheim, für die antike Metrologie „eine Lanze zu brechen“, wie er in seinem Vorwort betont (S. 7). Zu diesem Zweck legt er nun eine zweisprachige Ausgabe des Carmen de ponderibus et mensuris vor, einem Gedicht, das zwar für seine sprachliche Qualität gelobt wurde 3, aber sonst kaum weiter beachtet worden ist.4
Zu Überlieferung, Datierung und Verfasserfrage nimmt Geus in seiner etwas knapp geratenen Einleitung (S. 9–12) Stellung. Das Gedicht ist im Corpus der Schriften Priscians überliefert, der jedoch nicht der Verfasser sein kann. Stattdessen überliefert ein Teil der Handschriften als Autor den Namen Remius Favinus. Da dieser sonst nicht weiter bekannt ist, sind verschiedene Konjekturen und Identifikationsversuche unternommen worden – letztlich ohne wirkliche Sicherheit zu erzielen. Emil Baehrens führte das Gedicht in seiner Sammlung dann ohne Verfassernamen, seiner Kapitulation vor der Verfasserfrage haben sich weitere Gelehrte angeschlossen.5 Das führte wohl auch dazu, dass zwar das Gedicht in der RE einen Eintrag bekommen hat, nicht aber der Verfasser; die PLRE führt ihn jedoch als Rem(m)ius Favinus.6 Diese Form verwendet auch Geus, wenngleich „mit einem gewissen Unbehagen“ (S. 11), wie sich an der Verwendung von eckigen Klammern, dies sogar auf dem Einband, ablesen lässt. Als Adressat ist in den Handschriften ein Symmachus genannt, zweifellos ein Mitglied der berühmten Familie, nur welches, ist eine offene Frage. Geus vermutet, es handele sich um den Sohn des bekannten Senators, Q. Fabius Memmius Symmachus 7, und datiert das Gedicht wohl zu recht ins späte 4. Jahrhundert. Einen Terminus ante quem liefern jedenfalls Priscian und Isidor von Sevilla. Einem vergleichsweise ausführlichen Literaturverzeichnis (S. 13–20) folgen Text und Übersetzung (S. 24–37). Für den Text hat Geus die wesentlichen Handschriften neu eingesehen und weicht daher von der letzten Ausgabe durch Alexander Riese 8 in einigen Punkten ab. Die Übersetzung gibt das lateinische Original recht akkurat wieder; das hexametrische Versmaß ist dabei zugunsten einer unprätentiösen Prosa aufgegeben worden.
Dieses auf den ersten Blick eher unscheinbare Gedicht von 208 Versen wird durch die Rezeption durch Priscian und Isidor von Sevilla aufgewertet, ist aber nicht zuletzt aus technikhistorischen Gründen von Interesse. Das betrifft weniger die Erläuterung der verschiedenen Umrechnungsverhältnisse von Münz- und Gewichtseinheiten sowie Hohlmaßen, sondern vor allem die Dichtemessung bei Flüssigkeiten und die Bestimmung des Gold-Silber-Anteils in Legierungen. So unterscheidet der Dichter zwischen den ‚alten Ansichten‘ und dem für ihn zeitgenössischen Wissen; im Zuge dessen erläutert er Aufbau und Funktionsprinzip des Aräometers, einem technischen Gerät zur Bestimmung der Dichte von Flüssigkeiten, das bis heute in Gebrauch ist. Knapp die Hälfte des Gedichts ist der Aufgabe gewidmet, die Hieron II. dem Archimedes stellte: Die Überprüfung des Goldanteils einer Krone. Interessant ist die hier vorgestellte Methode des Archimedes, die sich von der Darstellung bei Vitruv (9,9–12) deutlich unterscheidet.
Zum Verständnis trägt der im Verhältnis zur Länge des Textes umfangreiche Kommentar (S. 39–65) deutlich bei; dabei geht Geus nicht nur auf sprachliche Aspekte und Parallelstellen sowie den Abweichungen zu diesen, sondern insbesondere auch auf die technischen Umstände ein. Abgesehen davon, dass es sich bei der hier vorgestellten Ausgabe um die erste Übersetzung ins Deutsche handelt, ist der Kommentar daher das Hauptargument für den Erwerb dieses ansonsten eher schlanken Büchleins. Es wäre zu wünschen, dass die von Geus eingangs (S. 7) geäußerte Hoffnung, einen Grundstein für weitere Forschungen zu legen, Gehör findet; entsprechende Ausgaben verwandter Texte würden entscheidend dazu beitragen.
Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Hultsch, Friedrich, Griechische und römische Metrologie, 2. Aufl., Berlin 1882 (ND 1971).
2 Hultsch, Friedrich (Hrsg.), Metrologicorum scriptorum reliquiae, 2 Bde., Leipzig 1864–1866.
3 Vgl. Fuhrmann, Manfred, Art. „Carmen de ponderibus et mensuris“, Der Kleine Pauly 1 (1964), 1056; Gruber, Joachim, Art. „Carmen de ponderibus et mensuris“, Lexikon des Mittelalters 2 (1983), 1512; Schanz, Martin; Hosius, Carl; Krüger, Gustav (Hrsg.), Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian, Bd. 4,2: Die Literatur des fünften und sechsten Jahrhunderts, München 1920, S. 37f.
4 Eine Ausnahme stellt Dimitris K. Raïos dar, der sich seit seiner Strasbourger Thése (1979, unpubliziert) mehrfach damit beschäftigt hat, vgl. bes. Recherches sur le Carmen de ponderibus et mensuris, Ioannina 1983.
5 Vgl. nur Gruber, Joachim, Art. „Carmen de ponderibus et mensuris“, Der neue Pauly 2 (1997), Sp. 989f.
6 Hultsch, Friedrich, Art. „Carmen de ponderibus et de mensuris“, RE III, 2 (1899), Sp. 1593f.; PLRE I 325.
7 PLRE II 1046f. In der PLRE (I 325) selbst wird seinem Vater Q. Aurelius Symmachus der Vorzug gegeben (PLRE I 865–871).
8 Riese, Alexander (Hrsg.), Anthologia Latina, Pars I, Fasc. 2, 2. Aufl., Leipzig 1906, Nr. 486.