Penelope: das Sinnbild ehelicher Treue; zwei Jahrzehnte harrt sie der Rückkehr des Odysseus, sich der Freier erwehrend, die nach Haus und Herrschaft ihres Mannes trachten, indem sie darauf beharrt, eine Webarbeit beenden zu müssen, die sie Nacht für Nacht wieder auflöst. Lucretia: die Personifikation weiblicher Keuschheit; die schöne und tugendhafte Ehefrau verweigert sich einem Königssohn und erst als dieser ihr neben dem Tod auch noch mit dem Verlust der Ehre droht, zieht sie der Schande die Vergewaltigung vor – um sich anschließend selbst das Leben zu nehmen. Medea: die Kindsmörderin; die des Zauberns kundige Königstochter, die in leidenschaftlicher Liebe zu Jason entbrannt diesem das Goldene Vlies verschafft und in die Fremde folgt, seine Untreue erleben muss und schließlich, als ihre verschmähte Liebe und gekränkte Ehre in Rache umschlagen, die eigenen Söhne tötet. Messalina: die kaiserliche Hure; die dritte Frau des Claudius fällt durch ihre Schwäche zum einen für Feste im Stile von Orgien und zum anderen für den designierten Konsul Silius auf. Als laut wird, sie wolle sich seinetwegen scheiden lassen, ist ihr Tod beschlossen.
Das Leben dieser Frauen lässt sich in einem Abstand von rund 2000 Jahren in einem Begriff zusammenfassen; Dichter und im Laufe des letzten Jahrhunderts auch Regisseure haben zur Entwicklung des jeweiligen Topos beigetragen; sie haben rezipiert, was bekannt, und – da dies häufig wenig genug war – es mit der Freiheit ihrer jeweiligen Kunst ausgestaltet. Das Ergebnis sind schillernde Gestalten, die sich jeder Festlegung entziehen, die über eine Zuordnung zu einem der beiden Idealtypen hinausginge: Sie sind entweder Ehefrau oder Prostituierte, „Nachwuchsproduzentin“ und „Haushaltsmanagerin“ oder Lustobjekt. Diese Funktionen bestimmen ihre äußeren Merkmale sowie ihre habituellen und moralischen Qualitäten; damit stehen natürlicher Schönheit, dezentem Schmuck, schlichter Kleidung, verhaltenen Bewegungsweisen, Häuslichkeit, Fleiß und ehelicher Treue künstliche Schönheit, übertriebener Schmuck, ausladende Gebärden, ein unberechenbares, verschlagenes Wesen und zügellose Promiskuität diametral entgegen. Dieser Kontrast von Lobpreis und Schmähung der Frauengestalten, die letztlich „literarische Figuren“ bleiben, geht auf die antiken Autoren zurück, so dass es nur konsequent ist, dass Elke Hartmann nun den Versuch unternommen hat, ad fontes zu gehen: Unter der Prämisse, dass die auf uns gekommenen Texte die Realität nicht spiegeln, aber Informationen über Sozialstrukturen vermitteln, denen ein gewisser „Realitätsgehalt“ nicht abgesprochen werden kann, möchte sie fragen, „was“, „in welchem Kontext“ und „auf welche Weise“ über Frauen geschrieben wurde, welche Funktion diesen Frauengestalten zukam (S. 7f.) und „weibliche Lebenswelten“, die sie als „Handlungsspielräume von Frauen und die Formen ihrer sozialen Integration oder Exklusion“ versteht, exemplarisch rekonstruieren (S. 207). Das ist ihr ebenso mühelos gelungen wie sie sich mit Bravour der Herausforderung gestellt hat, „bei der Interpretation der Quellen die ‚Beurteilungen‘ von den ‚Beschreibungen‘ zu trennen und daraus dann wieder eine Geschichte zu machen“ (S. 208).
Diese „Geschichte“ hat die Berliner Historikerin auf rund 250 Seiten geschickt angelegt; dabei hat sie ihren Stoff auf der Grundlage der üblichen Chronologie von der Archaik bis in die Spätantike sorgfältig strukturiert. Schon die eingangs gestellte Frage „Was sind Frauen?“ (S. 10) überrascht positiv, bietet ihre Antwort doch die Möglichkeit, sich jenseits der bei diesem Thema sonst üblichen vorwissenschaftlichen Begriffsklärungen auf der Basis einer Definition zu verständigen: Das weibliche Geschlecht unterscheidet sich vom männlichen aufgrund einer spezifischen Temperatur; die Erziehung und Sozialisation von Mädchen und Jungen gehorcht unterschiedlichen Normen, sie genießen unterschiedliche Handlungsspielräume. Ein Mädchen erlangt erst und nur durch die Geburt eines legitimen Kindes den Status einer Frau; diese alternativlose Voraussetzung lässt eine geglückte Geburt Ziel und Erfüllung weiblicher Existenz sein. Die folgenden Kapitel stellen eine Auswahl von Frauengestalten und Themenkomplexen vor; unter diesen finden sich nicht nur Penelope, Lucretia, Medea und Messalina, sondern auch Sappho und Arsinoë II., Clodia Metelli und Theodora. Neben „kultischen Aufgaben“ (S. 53–63), „Ehe, Haushaltsführung und Handlungsspielräumen im klassischen Athen“ (S. 64–77) werden unter anderen „Familie, Heiratsallianzen und Ehealltag in der späten römischen Republik“ (S. 131–146) oder „Christliche Märtyrerinnen zwischen Verfolgung und kultischer Verehrung“ (S. 173–186) behandelt.
Markante Quellenzitate führen in die jeweilige Thematik ein – „Frauen bei Homer“ (S. 14–25) ist zum Beispiel Agamemnons Glücklichpreisung des Odysseus aufgrund der „vortrefflichen Gaben“ seiner Gemahlin (Od. 24,192–202) vorangestellt – und jedem Kapitel ist ein für sich sprechendes Bild beigegeben: So kontrastieren die „Frauen Spartas“ (S. 38–52) in der Form der Bronzestatuette eines laufenden Mädchens mit einem sportlich, durchtrainierten Körper (Abb. 3: London, British Museum, um 520 v.Chr.) mit den „Bürgerinnen im klassischen Athen“ (S. 64–77), auf einer attisch-rotfigurigen Pyxis exemplarisch als eine vor dem Schlafgemach samt gut gepolsterten Bett sitzende Frau dargestellt, die eine Spindel in der Hand hält, das Attribut der prestigeträchtigen Tätigkeit freier Frauen (Abb. 5: Paris, Louvre CA 587, um 430 v.Chr.). Der Band schließt mit einem Überblick über die „Forschungsgeschichte und aktuelle Fragestellungen“ (S. 202–208), in dem die Autorin die Genese der Frauengeschichtsschreibung von einer – in den Worten von Michelle Perrot – „Historiographie des Unglücks von Frauen“ (S. 204) bis zu ihrer Integration in eine Geschlechtergeschichte im Sinne von Pauline Schmitt Pantel skizziert, „das Männliche und Weibliche gleichermaßen bei jeder historischen Analyse zu berücksichtigen und zu bedenken, dass die Beziehungen zwischen ihnen der Motor der Geschichte sein können“ (S. 206).
Elke Hartmann positioniert sich damit selbst: Ihre „Geschichte“ will weder mit emanzipatorisch-aufklärerischem Impetus die Unterdrückung weiblicher Selbstentfaltung aufzeigen, noch ließe sie sich als eine auf elaborierten Theorien basierende post-strukturalistische Studie charakterisieren. Ihre Stärke ist ihr dezidiert nicht feministisches, sondern eben wissenschaftliches Erkenntnisinteresse, das ihr zu differenzieren und eine andere Art von „Realität“ zu konstruieren erlaubt: eine, in der die unerhörte Tat einer Frau den Ausschlag für das Handeln der Männer gibt (Lucretia) – wenn ein Königssohn weibliche Tugend zerstört, anstatt sie zu schützen, hat sich die vom ihm repräsentierte Ordnung ad absurdum geführt; eine, in der es qua Recht möglich war, eine Frau zu verstoßen, um eine wirtschaftlich attraktivere Verbindung einzugehen (Medea), die aber die soziale Sprengkraft solcher Entscheidungen der Bürgerschaft auf der Bühne eindrucksvoll vor Augen führt. Oder eine, in der Eheschließungen ein Zeichen der Freundschaft der sie aushandelnden Männer sind und in der der Tod der res publica den der eigenen Tochter relativiert (Tullia) – eine Realität also, die – so seltsam vertraut sie in den Texten der antiken Autoren prima vista aufscheint – im Grunde genommen fremd ist: in der ein Dasein überhaupt nur im Rahmen familiärer Integration vorstellbar ist und die eben keine Individualität, sondern die Einnahme eines bestimmten „Platzes“ im sozialen Gefüge erwartet. In diesem Kontext hängen Ansehen und Handlungsspielraum einer Frau von der gesellschaftlichen Position und dem Prestige des Mannes ab, dem sie zugehört – ob sie das nun als einengend oder befreiend empfunden, ihr Dasein als Glück oder Leid erlebt haben mag, bleibt dem Analyseinstrumentarium einer Historikerin respektive eines Historikers verschlossen. Diese Einsicht mit Vehemenz konstatiert, so manche Frauengestalt von ihrem Topos befreit und auf eine „Realität“ zurückgeführt zu haben, ist kein geringer Verdienst.