Titel
Philipp Jakob Spener - Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren


Herausgeber
Wendebourg, Dorothea
Reihe
Hallesche Forschungen 23
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Eißner, Leipzig

Die hier zu besprechende Publikation umfasst eine Sammlung von Vorträgen, die im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums mit dem Titel „Philipp Jakob Spener – Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater“ der Akademie der Berliner-Brandenburgischen Kirche anlässlich des 300. Todestages Speners, nach den Worten Martin Brechts der „bedeutendste, einflussreichste und umstrittenste deutsche evangelische Theologe und Kirchenmann seiner Zeit“, am 4. und 5. Februar 2005 gehalten wurden. Herausgeberin dieses Tagungsbandes ist die Berliner Kirchenhistorikerin Frau Prof. Dr. Dorothea Wendebourg, zugehörig der für die Ausrichtung besagter Veranstaltung verantwortlichen Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität.

Dem Vorwort der Herausgeberin zufolge war es Ziel des Symposiums, „ein umfassendes Bild von Speners Leben und Werk und seinen vielfältigen Einflüssen auf Kirche, Theologie und Gesellschaft nach dem neuesten Stand der Forschung zu bieten“ (Vorwort). In der Tat versammelt der vorliegende Tagungsband zahlreiche hochkarätige Wissenschaftler aus dem Bereich der Pietismusforschung. Eröffnet wird die Publikation mit dem Eröffnungsvortrag Martin Friedrichs (S. 1-16), der Spener als umfassend gebildete und außerordentlich disziplinierte „Ausnahmepersönlichkeit“ (S. 2) in Leben, Werk und Bedeutung würdigt und ihn „als Urheber, als Vater des Pietismus“ (S. 10) bestätigt. Spener habe schließlich die pietistische Theologie formuliert, das Reformprogramm des Pietismus beschrieben und zudem dem Pietismus einen Platz in der Kirche erkämpft. Den Abschluss dieses Beitrages bildet der Versuch einer Beantwortung der Frage nach Rechtmäßigkeit der Charakterisierung Speners als protestantischem Kirchenvater, die sich durch das Tagungsmotto programmatisch geradezu aufdrängte. Damit greift Martin Friedrich einen Aspekt auf, der schon vor über 20 Jahren dargestellt worden ist: Spener ist „Vater des Neuprotestantismus“1, da er ein gemeinprotestantisches Bewusstsein gefördert, dem Protestantismus ein dynamisches Element und ein entsprechendes Kirchenverständnis gegeben habe (S. 11).

Die folgenden vier Beiträge befassen sich mit den Wirkungsorten Philipp Jakob Speners: Der vormalige Kirchenpräsident der elsässischen Kirche, Marc Lienhard, betrachtet in „Spener und das Elsaß“ (S. 17-34) zunächst die Beziehung Speners zu seiner elsässischen Heimat in der Zeit nach dessen Fortgang aus Straßburg und widmet sich dann dem Fortwirken spenerschen Geistes in der Region. Dabei wird konstatiert, dass sich die persönlichen Kontakte Speners in seine Heimat zwar lockerten, aber nie völlig abrissen, während sich die Beziehungen zur theologischen Fakultät Straßburgs dagegen offenbar nach dem Weggang 1666 zunehmend verschlechterten.2 So habe in der Frage der Errichtung der Collegia pietatis ein grundsätzlicher Dissens zwischen Spener und seiner Heimatuniversität bestanden; diese Initiative Speners zur Sammlung der Frommen in eigenen Versammlungen sei von Straßburger Theologen noch Mitte des 18. Jahrhunderts als „unglückliche Idee“ kritisiert worden (S. 28).

Unter dem Titel „Spener, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus in Frankfurt am Main“ (S. 35-52) zeichnet Andreas Deppermann jene Jahre nach, die „entscheidend für die Entstehung des Pietismus“ (S. 35) waren. Dabei wird insbesondere auf die Entwicklung der Eckpunkte des pietistischen Programms eingegangen und die wesentliche Beteiligung des zweiten Mannes, des Juristen und theologischen Laien Johann Jakob Schütz hingewiesen. Dieser sei nicht nur der maßgebliche Anreger für die Collegia pietatis Speners gewesen, sondern habe durch sein persönliches Beispiel (Bekehrung unter Einfluss von Bibelstudium und mystischer Literatur), konsequentes Drängen auf Heiligung und einen vorbildhaften christlichen Lebenswandel „zahlreiche andere Personen beeindruckt und zur Nachahmung angeregt“ (S. 42), was wiederum den Frankfurter Senior nachhaltig imponiert und bei seiner Konzeption der Ecclesiola in ecclesia beeinflusst habe (S. 43). Schütz habe schon lange vor ihm zu chiliastischen Überzeugungen gefunden (S. 44) und ihm wesentliche Ideen für seine pietistische Konzeption geliefert; Speners überragende Leistung habe hingegen darin bestanden, dass er den Wert dieser Anregungen nicht nur erkannt und sie in ein bündiges Reformkonzept integriert hat, sondern dass er „unter Vermeidung von Extremen dem Pietismus dauerhaft eine Heimat in der lutherischen Kirche verschaffte“ (S. 52).

Der Beitrag des kürzlich verstorbenen Leipziger Kirchenhistorikers Günther Wartenberg beschäftigt sich anschließend mit Speners Wirken als Oberhofprediger in Kursachsen (S. 53-69). Dabei wird die Situation Kursachsens in den fünf Jahren Spenerscher Tätigkeit beschrieben und das Wirken desselben in Dresden dargestellt. Günther Wartenberg charakterisiert die sächsische Schaffensperiode Speners als „nicht nur eine Phase der unerfüllten Hoffnungen und Enttäuschungen“ (S. 67) mit wenigen Erfolgen für den Theologen. Aufgrund der erheblichen Forschungslücken dürfe auch sie nicht unterschätzt werden, denn dieser Zeitraum könne als ein Höhepunkt der theologischen Arbeit Speners gelten. Immerhin löste selbiger in den Dresdener Jahren nicht nur den Entfremdungsprozess zwischen Kurfürst und Landeskirche aus, sondern er gab auch vielfältige Impulse für die weitere theologische Entwicklung der kursächsischen Landeskirche (S. 69).

Gerd Heinrich schließlich gibt einen Überblick (S. 70-88) über die historische Situation in Berlin im Todesjahr Speners, beleuchtet die staatlichen Zustände Brandenburg-Preußens um die Wende zum 18. Jahrhundert und analysiert treffend die Beziehung zwischen aufstrebendem Staat und dem Pietismus. Dabei wendet sich Gerd Heinrich bewusst gegen „das ältere Bild Speners“, welches ihn „in generationsmäßigen typologischem Gegensatz“ zum rasch aufstrebenden und rücksichtslosen Francke zeichnete (S. 84), und betont Speners Stärke als „mehrfacher Fundator“ und Protegé, der mit seiner ganzen politischen Kraft und nicht nur als „Korrespondenzvater“ hinter Francke stand und selbigem so sein kühnes Handeln erst ermöglichte (S. 85).

An diese Beziehung zwischen „Spener und August Hermann Francke“ (S. 89-104) knüpft der Beitrag von Udo Sträter an, in welchem er das herkömmliche Bild vom pietistischen Siegenszug in Brandenburg-Preußen nach Speners Amtsantritt in Berlin korrigiert, dessen beste Frucht der Aufbau der theologischen Fakultät an der neugegründeten Universität Halle darstellte. Udo Sträter stellt anhand der sich gerade vollziehenden Edition des Briefwechsels der beiden Protagonisten klar, dass das Verhältnis Spener-Francke vor allem in den Jahren 1692, 1695/96 und 1699/1700 alles andere als konfliktfrei ablief und zeitweise bis zum Zerreißen gespannt war. Die Rolle Speners wird bestimmt als die eines Korrektors für die theologische Entwicklung Franckes (S. 103); der Reifeprozess Franckes zum Strategen und „Politiker“ sei „sicher Spener zu verdanken“ (S. 104).

Dietrich Meyers Beitrag „Spener, Graf Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine“ (S. 105-122) behandelt die Relation des Grafen zu seinem „Paten“ Spener. Obwohl Zinzendorf entgegen eigener Aussagen nie Patenkind Speners war, hat er sich doch in vielfältiger Weise in Ekklesiologie und Soteriologie kontinuierlich auf Spener berufen. In Abgrenzung zum hallischen Pietismus Franckes und in direkter Folge Speners habe so die Taufe in der Praxis der Brüdergemeinde eine hohe Wertschätzung erfahren; ja sie sei geradezu „ein Erbstück von Spener“ (S. 121).

Die folgenden zwei Beiträge behandeln die Wahrnehmung Philipp Jakob Speners außerhalb des deutschen Sprachraumes: „Spener in den nordischen Ländern“ (S. 123-133) des finnischen Pietismusforschers Pentti Laasonen weist auf die Wirkungsgeschichte der zahlreich übersetzten Bücher Speners in Skandinavien hin und betont den hohen Verbreitungsgrad selbiger sowohl innerhalb als auch außerhalb der pietistischen Bewegung. Carter Lindberg breitet in seinem 23seitigen Aufsatz „Spener and North America“ (S. 135-158) die Ergebnisse seiner Forschungen hinsichtlich der bislang wenig beachteten Wirkungen Speners in Nordamerika von den Anfängen bis zur Gegenwart aus. Im Ergebnis habe die Suche nach Übersetzungen seiner Bücher oder ihn erwähnenden Werken „very little hard data on Spener’s Reception in North America“ erbracht, er sei hier wohl „less a direct influence […] than a vague inspiration in the works and live of others – mostly transmitted by Francke and then Muhlenberg“ gewesen (S. 156).

Auf den Seiten 159 bis 186 untersucht Christof Windhorst „Spener und die Gemeinde“, stellt die bekannten Aspekte der spenerschen Auffassungen u.a. von Gemeindebildung, der Bedeutung katechetischen Unterrichts (S. 167) und der Notwendigkeit von Konventikeln (S. 168) zusammen und betont Speners Selbstverständnis als Prediger und Beter gegenüber, aber auch mitten in der Gemeinde, deren Wegbegleiter er sein will (S. 185).

Martin Brecht wirft einen Blick auf „Speners Verhältnis zu Martin Luther“ (S. 187-204). Dabei werden die überwiegend positiven Äußerungen Speners über den Reformator mit Einschätzungen der Kenntnis lutherischer Schriften und den daraus resultierenden Einflüssen auf die spenersche Theologie, aber auch auf Speners Haltung zu Reformation und Papsttum, verbunden. Im Fazit wird Spener als „gewiß einer der bedeutendsten Lutherrezipienten“ identifiziert (S. 203) mit einem eigenständigen Urteil über Luther, für dessen Theologie er als „Korrektiv“ wirkte. Nicht zuletzt sei es die Aufnahme lutherischer Gedanken gewesen, welche Spener „die kirchliche, reformatorische Konsolidierung seines Pietismus“ erlaubte (S. 204).

Mit „Spener und die Aufklärung“ (S. 205-226) ist der Beitrag des Münsteraner Theologen Albrecht Beutel überschrieben, in welchem er die bislang eher unbestimmt gebliebenen aufklärerischen Züge Philipp Jakob Speners herausstellt. In einem Vergleich mit Johann Joachim Spalding kommen die Aspekte Perfektibilität, Religionskultur und Zukunftshoffnung in den Blick, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen werden bestimmt. Im Schlussurteil werden beide als „klassische Gründerfiguren neuzeitlicher Theologie“ gewürdigt, mit denen die „Gegenwart begonnen habe“ (S. 226).

Wilhelm Gräb befasst sich anschließend mit dem Urteil des Neuprotestantismus über Spener. In „Spener und der Neuprotestantismus“ (S. 227-240) folgt er der Aussagen Ernst Troeltschs, demzufolge Spener zwei Gesichter gehabt habe: Einerseits in den theologischen Essentials „Mann des Altprotestantismus“ (S. 228) ganz in reformatorischem Fahrwasser, andererseits neben Leibnitz mittels Entdeckung der religiösen Subjektivität „die entscheidende Figur des Übergangs zwischen Alt- und Neuprotestantismus“ (S. 234).
„Philipp Jakob Spener und die Kirchenmusik“ (S. 241-265) von Christian Brunners versammelt die von Paul Grünberg in seiner älteren Spenerdarstellung3 ausgewählten Aussagen Speners zur Musik, welcher Singen als „Mittel der Erbauung“ (S. 245) und besondere Singestunden (S. 247) empfohlen und das Gesangbuchwesen gefördert habe (S. 253). Die genaue Untersuchung der Wirkungsgeschichte der spenerschen Musikauffassung – insbesondere sein Beitrag zur Verbürgerlichung des Musikwesens im 18. Jahrhunderts durch seine Forderung nach Mittätigkeit der Laien – stände jedoch „noch als Forschungsaufgabe an“ (S. 262).

Gemessen am oben zitierten Anspruch des Bandes liegt damit eine durchaus gelungene Bilanz der Spenerforschung vor, die kaum einen Aspekt des Themas unbehandelt und deshalb nur wenig zu wünschen übrig lässt. Leider entfiel – wie dem Vorwort zu entnehmen ist – der geplante Vortrag „Spener und der radikale Pietismus“. Dieses Feld stellt nach Ansicht des Rezensenten das größte Desiderat des Bandes dar; auch der in diese Richtung tendierende Aufsatz Klaus Deppermanns kann dieses Manko nicht beheben.

Auffällig ist das Fehlen eines maßgeblichen Spener-Forschers, des Kirchenhistorikers Johannes Wallmann, der mit seiner Monographie zu den frühen Jahren spenerschen Wirkens entscheidenden Anteil an der Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte des Pietismus hat 4. Vor allem in der Frage nach der Rolle Speners als „Vater des Neuprotestantismus“ hätte Wallmann sicherlich einiges beizutragen gehabt, zumal er sich jüngst wieder hinsichtlich dieses Aspektes spenerscher Wirkungsgeschichte zu Wort gemeldet hat.5

Die Stärke der Publikation besteht ohne Zweifel in der Breite der betrachteten Aspekte; die ganz überwiegend instruktiven Beiträge der Autoren vermitteln generell einen konzisen Überblick über den Stand der Spener-Forschung. Daneben betonen die Autoren mit Blick auf bestehende Desiderata, dass die Aufarbeitung der Persönlichkeit und Wirkmächtigkeit Speners keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Aus diesem Grund empfiehlt sich der Band für Interessierte als Einstieg in die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Facetten der eher kirchlichen pietistischen Weltsicht.

Literatur:

Brecht, Martin, „Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen“, in: Brecht, Martin u.a. (Hrsg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 279-389.
Wallmann, Johannes, Der Pietismus, Göttingen ²2005.

Anmerkungen:
1 Diese Bezeichnung findet sich zuerst bei Wallmann, Johannes, Philipp Jakob Spener, in: Scholder, Klaus; Kleinmann, Dieter (Hrsg.), Protestantische Profile. Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, Königstein 1983, S. 157-171.
2 Wallmann (2005) bemerkt, dass die Straßburger theologische Fakultät 1666 keinen Finger gerührt habe, um Spener zu halten und seinen Weggang nach Frankfurt am Main zu verhindern. Beredt ist in diesem Zusammenhang, dass sich Spener in seiner Abschiedspredigt gegen den Verdacht wehren musste, „heimlich den Reformierten zuzuneigen“ (ebd., S. 74).
3 Gemeint ist hier Grünberg, Paul, Philipp Jakob Spener, 3 Bde., Göttingen 1893-1906, Nachdruck Hildesheim 1988.
4 Wallmann, Johannes, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (Beiträge zur historischen Theologie 42), Tübingen ²1986.
5 Wallmann, Johannes, „Der Vater des Neuprotestantismus. Der Ertrag des Gedenkens zum 300-jährigen Todestags Philipp Jakob Speners“, in: Theologische Literaturzeitung 132 (2007), 10, Sp. 1033-1044.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension