Im April 2008 ist es genau 15 Jahre her, dass mit der Einführung eines grafikfähigen Browsers die Popularisierung des Internet spürbar vorangetrieben wurde. Gemessen an dieser kurzen Zeitspanne ist das Fach Geschichte, dem rituell eine gewisse Medienverschlafenheit nachgesagt wird, im Internet erstaunlich präsent. Allerdings handelt es sich dabei überwiegend um traditionelle Formate wie E-Mail-Dienste oder klassische Informations- und Wissenschaftstexte. Wie sich historische Inhalte verhalten, wenn sie unter der spezifischen Grammatik hypermedialer Konfigurationen aufgebaut werden, ist bislang kaum untersucht oder diskutiert worden.1
Der Wiener Historiker Jakob Krameritsch hat sich in seiner Dissertation von 2005, die nun im Traditionsmedium Buch erschienen ist, des Themas angenommen. Sein Text ist somit Teil jener frühen Phase der Medienumbrüche, die Krameritsch mit Rainer Leschke als „primäre Intermedialität“ bezeichnet.2 Damit ist der Übergangszustand gemeint, in dem der Mediendiskurs die Chancen- und Risikoabwägung zwischen alten und neuen Medien betreibt. Krameritsch steht der Materie auch in praktischer Hinsicht nicht fern; er ist für das Konzept der Frühneuzeit-Plattform <http://www.pastperfect.at> mit verantwortlich.
Das Buch ist in acht größere Kapitel gegliedert, die von einer historischen Fallanalyse (Gutenberg) über die Systematik des Hypertexts und dessen Potenziale hin zu konkreten Anwendungen leiten. Das erste Kapitel, mit „Disposition“ betitelt, stellt das Erkenntnisinteresse vor: So soll die Produktion, Narration und Rezeption von Geschichte im Hypertext beobachtet werden, also die Wechselwirkung zwischen Medium und Inhalt im Hinblick auf historische Erzählungen (S. 15). Bevor Krameritsch jedoch seinen Untersuchungsgegenstand intensiver beleuchtet, leitet er aus dem Beispiel des Buchdrucks (S. 51-107) ein Innovationsmodell ab, anhand dessen er die Entwicklungsgeschichte des Hypertexts abgleichen kann. Diese Darstellung der „Medienrevolution Buchdruck“ hätte angesichts der Tatsache, dass sie weitgehend auf bekannten Forschungen im Gefolge Michael Gieseckes fußt3, spürbar kürzer ausfallen können. Das Stufenmodell sieht vereinfacht folgende Schritte vor: 1. Bereitstellung der Technik, 2. Diskurs um Potenziale, 3. Koppelung mit Ökonomie und anderen Interessen, 4. Etablierung neuer Kulturtechniken, 5. Durchsetzung eines neuen Informationstyps. Am Ende dieser Entwicklung steht dann die Durchsetzung eines „Schlüsselmediums“, definiert als Medium, „das die Hegemonie über die anderen Medien gewinnt, ihnen seine Spielregeln, seinen ‚Lehrplan’ aufzwingt“ (S. 57).
Mit Hilfe dieses Modells will Krameritsch die Geschichte des Hypertexts herausarbeiten. Zunächst fügt er den zahlreichen Gründungsgeschichten des Internets eine weitere hinzu (S. 109-180), anschließend wird eine Systematik des Hypertexts geliefert. Dabei werden wesentliche Aspekte hypertextueller Systeme angesprochen und in ihrer Relevanz für die Produktion wissenschaftlicher Texte diskutiert. So wird der Begriff der nichtlinearen Texte relativiert, wird zwischen verschiedenen Formen (offen oder geschlossen) von Hypertexten differenziert – wobei Krameritsch keinen Zweifel daran lässt, dass er den offenen, tendenziell unendlich erweiterbaren Hypertexten die größeren Innovationspotenziale zubilligt. Die Produktion eines Hypertexts erfordere ein gänzlich anderes Verständnis für die Konfiguration des Textganzen, da auch die vielfache Vernetzung der einzelnen Bausteine im Vorfeld konzipiert und angelegt werden müsse. Die Herausforderung bestehe dann darin, die Texte trotz multipler Aneignungspfade mit inhaltlicher Kohärenz auszustatten.
Hypertexte, so Krameritsch weiter, heben die Trennung von Autor und Leser tendenziell auf, wenn letztere aktiv die Texte verändern oder ergänzen können. Er stellt diesbezüglich die von der Literaturwissenschaftlerin Christiane Heibach vorgeschlagene Typologie verschiedener Beteiligungsstufen der Nutzer an Hypertextsystemen vor und diskutiert diese Nutzungsvarianten für den Wissenschaftsdiskurs, bevor er die Vision eines Modells skizziert, das um einen klassisch strukturierten Kerntext sich prozessual anlagernde und erweiternde Kommunikationsfelder provoziert und ermöglicht. So könnten nahezu alle Elemente eines wissenschaftlichen Diskurses einer potentiell unbegrenzten Teilnehmerschaft bereitgestellt werden. Fußnoten seien dann keine anonymen Verweise mehr; vielmehr sind Referent und Referat nur einen Mausklick voneinander entfernt und direkt abrufbar. An dieser Stelle könnte gewinnbringend diskutiert werden, inwieweit hinter derartigen Konzepten das Bedürfnis nach der Inszenierung einer recht traditionellen Anwesenheitskommunikation steht. Dies liegt indes nicht in Krameritschs Beobachtungsfeld.
Das Kapitel VI (S. 181-243) ist sicher das stärkste im ganzen Buch. Hier diskutiert Krameritsch verschiedene Diskurse und Mythologeme, die sich mittlerweile um den Hypertext etabliert haben. Dazu gehört beispielsweise der schwierige Stand, den Neue Medien in der Geschichtswissenschaft nach wie vor haben, was Krameritsch zu Recht auf die mangelnden praktischen Erfahrungen vieler Wissenschaftler mit der Erstellung von Hypertext zurückführt. Das Argument, dass offener Hypertext zu Informations- und Kontingenzüberschuss führe, wendet Krameritsch mit dem Hinweis auf den Zufall als Lektüreprinzip zur epistemologischen Chance. Anschließend kritisiert er die verbreiteten Vorstellungen von der neuronalen Struktur des Hypertexts, die aus einer heuristischen Analogie epistemische Ansprüche ableiten und so das Agieren mit und in Hypertext mit der Tätigkeit des Gehirns gleichsetzen. Auch die von Medienpropheten geprägte Auffassung, dass erst Hypertext den aktiven Leser ermögliche und damit einen radikalen Bruch zur Buchkultur etabliere, wird mit Argumenten der Rezeptionsästhetik grundlegend relativiert. Der bisweilen diagnostizierte „Tod des Autors“ im Hypertext sei ebenfalls keine medienspezifische Notwendigkeit. Aus historiographischer Sicht sei ein gänzliches Zurücktreten des verantwortlichen Autors nicht einmal wünschenswert, denn dies würde die Standortgebundenheit der historischen Argumentation unterschlagen, so Krameritsch.
In einem Exkurs zeigt er im Rückgriff auf Wittgenstein und – mehr noch – auf Hans Ulrich Gumbrechts bekanntes Buch „1926“, wie Erzählstrukturen, die oft nur für den Hypertext reklamiert werden, im Medium der Typographie vorweg- oder aufgenommen wurden. Völlig zu Recht betont er, dass das Unterlaufen von Linearität und Chronologie nicht erst mit dem World Wide Web in die Welt kam. (Gumbrechts Experiment ist indes auch als ein Reflex auf Multimedia zu sehen.) Konsequent zeichnet Krameritsch zudem die schon andernorts mehrfach ausgeführte Metapher vom Hypertext als Rhizom, als poststrukturalistisches Wissensgeflecht nach. Er betont die Potenziale eines antihierarchischen Informationsaufbaus für vielfältige Lektüren und nutzerorientierte Aneignungsverfahren wie entdeckendes Lernen.
In seinem Abschlusskapitel (S. 244-294) stellt Krameritsch die Erfahrungen mit zwei Hypertextprojekten vor: mit der Onlineplattform <http://www.pastperfect.at> und der Redaktionssoftware Hypertextcreator. Während letztere eine Content-Management-Variante für Redaktion und Editing darstellt, wie sie auch in anderen Multimedia-Projekten üblicherweise erstellt und verwendet werden, setzt „pastperfect“ Hypertextpotenziale am Beispiel der Geschichte der Frühen Neuzeit um. Es handelt sich um eine Plattform, die nichthierarchisch Informationen anbietet und die Idee des Rhizoms oder Netzes zur Navigationsmetapher und Organisationsstruktur gleichermaßen erklärt. Hier kommen vor allem organisatorische und didaktische Überlegungen zur Sprache, die einen Einblick in die aufwendige Multimedia-Planung geben.
Insgesamt liefert das Buch einen profunden Einstieg in die Diskussionen um Hypertext, der sich über weite Strecken als Forschungsüberblick liest. Der Gang durch die Möglichkeiten von Hypertext bietet Neulingen in dieser Medientechnik viele Anregungen; auch der Einblick in die Praxis der Projektplanung dürfte den meisten Leserinnen und Lesern neu sein. Um das Buch stärker an die Geschichtswissenschaft anzuschließen, hätten die Konsequenzen hypertextueller Strukturen für die besondere Kausal- und Erzähllogik historiographischer Texte sowie der potenzielle Verlust einer chronologisch-argumentativen Dramaturgie in den Neuen Medien intensiver diskutiert werden können. Die Möglichkeit, variable Konfigurationen von Zeitlichkeit (linear versus modular) hypertextuell abbilden zu können – und damit ein Kernthema der Geschichte aufzugreifen –, kommt gar nicht zur Sprache, was möglicherweise dem bewussten Verzicht auf hypermediale Elemente (Film, Bild, Sound) geschuldet ist. Vertiefende geschichtstheoretische und zugleich anwendungsorientierte Überlegungen in dieser Richtung wären sehr zu wünschen. Eine Marginalie zum Schluss: Hätten Autor oder Verlag die im Text zahlreich vorkommenden, vage formulierten Verweise auf vorherige oder spätere Argumente und Passagen konsequent durch „printed links“ angereichert, wäre das Buch auch in seiner medialen Form dem Inhalt näher gekommen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Haas, Stefan, Vom Schreiben in Bildern. Visualität, Narrativität und digitale Medien in den historischen Wissenschaften, in: zeitenblicke 5 (2006), 3, online unter URL: <http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Haas/index_html> (4.2.2008).
2 Leschke, Rainer, Einführung in die Medientheorie, München 2003.
3 Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1991.