A.D. Moses: German Intellectuals and the Nazi Past

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Titel
German Intellectuals and the Nazi Past.


Autor(en)
Moses, A. Dirk
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 293 S.
Preis
£ 45.00, $ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke, Hamburger Institut für Sozialforschung

Immer öfter passiert es, dass eine Dissertation schon vor der Drucklegung bestimmten Erwartungen seitens der Fachöffentlichkeit ausgesetzt ist, weil aufgrund frühzeitig publizierter Aufsätze zum Thema die wesentlichen Thesen und Überlegungen bereits lanciert sind. So ergeht es auch dem australischen Historiker Dirk Moses, dessen bereits 1999 erschienener Aufsatz über die „Fünfundvierziger“ nicht nur viel zitiert, sondern einflussreich für eine neue Phase der Historisierung der Bundesrepublik geworden ist.1 Spätestens seit den 1990er-Jahren drängte sich die Beobachtung auf, dass die so genannte „skeptische“ oder „Flakhelfer“-Generation intellektuell zur prägenden Alterskohorte im westdeutschen Staat avanciert war. In ihren Reihen agierten vom „ewigen Kanzler“ Helmut Kohl über den Philosophen Jürgen Habermas bis hin zum Literaturnobelpreisträger Günter Grass Persönlichkeiten, die von den frühen 1960er-Jahren bis in die Gegenwart dem geistigen und politischen Leben ihren Stempel aufgedrückt haben – fürwahr eine „lange Generation“, der eine günstige biographische Konstellation in die Hände spielte: Die „Gnade der späten Geburt“ sorgte dafür, dass diese Jahrgänge den Zweiten Weltkrieg einigermaßen unbeschadet überstanden und überdies die ersten waren, denen die neu gewonnene akademische Freiheit später optimale Karrieremöglichkeiten verschaffte. Die Kernjahrgänge der Fünfundvierziger rückten relativ zügig in die Positionen der arg dezimierten älteren Frontsoldaten-Generation ein und profitierten überdies vom Ausbau der deutschen Universitätslandschaft, denn die Vergrößerung und Neugründung zahlreicher Hochschulen seit den 1960er-Jahren sorgte für ein reichhaltiges Stellenangebot.

Moses ist natürlich nicht der erste, der die Wirkmächtigkeit dieser Generation erkannt hat, denn sie ist seit der Pionierarbeit von Helmut Schelsky aus dem Jahr 1957 und der Dissertation von Heinz Bude 30 Jahre später ein Thema für Soziologen gewesen.2 Darüber hinaus lassen die zahlreichen autobiographischen und biographischen Arbeiten der letzten Jahre die Rede von einer „comparatively neglected ‚generation of 1945’“ (S. 9) etwas übertrieben erscheinen. Es ist vermutlich auch wenig ergiebig, sich über die Engführung von Generationenkonzepten zu streiten, denn die von Moses mit „good reasons“ vorgenommene Bestimmung einer intellektuellen Generation der zwischen 1922 und 1932 Geborenen (S. 56) erscheint in vielerlei Hinsicht weniger plausibel als Budes Beschränkung auf die Flakhelferjahrgänge 1926–1930. Auch wenn man die Generationenforschung als eine „erweiterte Fußnote“ zu Karl Mannheim auffassen kann, bedarf es doch eines genaueren Blicks auf die Fünfundvierziger (die übrigens der Literatur- und Musikkritiker Joachim Kaiser 1983 als erster so benannte), denn der Erfahrungshintergrund konnte schon bei geringen Altersunterschieden erheblich divergieren.

Angesichts dieser generellen Probleme des Generationskonzepts hat sich Moses entschlossen, für sein Buch einen etwas weiteren Rahmen zu wählen. Es geht ihm – anders als der etwas unglückliche Titel suggeriert – um mehr als das Verhältnis von (west)deutschen Intellektuellen zur NS-Vergangenheit. Eher möchte Moses die politische Denkhaltung der ersten bundesrepublikanischen Generation rekonstruieren, die trotz eines gemeinsamen und alles überwölbenden Erfahrungsraumes – nämlich Totalitarismus, Krieg und Niederlage – verschiedene Entwicklungspfade einschlug, um einen verinnerlichten politischen Auftrag zu erfüllen: die Festigung eines demokratischen Gemeinwesens. In zwei instruktiven Einzelstudien führt Moses die unterschiedlichen intellektuellen Wege zweier exemplarischer Vertreter der Fünfundvierziger vor, nämlich den „integrative republicanism“ des „German German“ Wilhelm Hennis und den „redemptive republicanism“ des „Non-German German“ Jürgen Habermas. Es leuchtet nicht sofort ein, den streitbaren Hennis wieder mit dem Integrationsgedanken seines Göttinger Lehrers Rudolf Smend in Verbindung zu bringen und dem säkularen Aufklärer Habermas eine christliche Heilsvokabel unterzujubeln; zudem lässt sich womöglich darüber streiten, inwiefern Hennis’ Fixierung auf die angelsächsische politische Tradition „deutscher“ sein soll als Habermas’ Streben, sich von seinen Prägungen durch die idealistische Philosophie und Heidegger zu befreien. Moses gelingen gleichwohl instruktive Interpretationen der frühen Publizistik dieser beiden so unterschiedlichen Charaktere, die sich, wie wir spätestens seit Stephan Schlaks Studie wissen3, einmal sehr nahe gestanden haben, insbesondere in ihrer Diagnose vom Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit (S. 101).

Die entscheidende Frage, die man mit Moses stellen muss, betrifft den tieferen Grund für die spätere Entzweiung dieser beiden politischen Denker, die hier stellvertretend für ein liberalkonservatives und ein linksliberales Lager stehen und sich seit den ausgehenden 1960er-Jahren eindrucksvolle Duelle lieferten. Während die unmittelbare deutsche Traditionskritik von Habermas und Hennis in den 1950er-Jahren durchaus parallel zu lesen ist, kam es mit dem Aufstieg der Neuen Linken zur intellektuellen Frontenbildung. Dabei waren übrigens weniger die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung der NS-Vergangenheit maßgeblich, sondern vielmehr aktuelle gesellschaftspolitische Kontroversen. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass die Debatten um Demokratisierung und die vermeintliche Legitimationskrise der Bundesrepublik zunächst weitaus mehr Bedeutung besaßen als jene um den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte. In Habermas’ einflussreicher Schrift über „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973) spielte das Erbe des „Dritten Reiches“ noch gar keine Rolle; die Bundesrepublik fand sich gleichsam universalisiert und paradigmatisch mit den Krisenlagen spätkapitalistischer Industriegesellschaften konfrontiert.

Kenntnisreich und mit sicherem Urteil geht Moses den politisch-intellektuellen Auseinandersetzungen insbesondere der 1960er- und 1970er-Jahre nach. Mit der Verhärtung der Diskursfronten nach Positivismusstreit, Technokratiedebatte und der Frage der Universitätsreform löste sich die liberale Allianz der Jüngeren, die sich im Aufbegehren gegen den Adenauer-Staat gebildet hatte, zusehends auf. In der Darstellung der verschiedenen Positionen, die sich im Fahrwasser des studentischen Protestes und einer gesellschaftlichen Liberalisierung artikulierten, liegt die eigentliche Stärke des Buches. Neben Hennis und Habermas diskutiert Moses vor allem die Rolle einiger aufstrebender und interventionsfreudiger Intellektueller dieser Generation wie Karl Dietrich Bracher, Hermann Lübbe oder Kurt Sontheimer sowie die hochschulpolitischen Aktivitäten des Bundes Freiheit der Wissenschaft.

Einer Ideengeschichte, in der ausschließlich von Intellektuellen die Rede ist, wird man nicht vorhalten wollen, sozial- und politikgeschichtliche Aspekte zu vernachlässigen. Aus dieser Warte irritierte es nämlich tatsächlich, die Jahre 1960–1967 als „crisis of the republic“ (Kap. 7) zu begreifen. Etwas mehr Erklärung verlangen allerdings methodische Fragen und inhaltliche Schwerpunktsetzungen, denn die letzten Kapitel zu den geschichtspolitischen Diskursen der 1980er- und 1990er-Jahre wiederholen nicht nur allseits Bekanntes zwischen Historikerstreit, Vereinigungs- und Holocaust-Mahnmal-Debatten; sie werfen auch das Problem begrifflicher und theoretischer Differenzierung auf. Geht es Moses in der ersten Hälfte seines Buches noch um die Grundlagen politischer Reflexion und um gewisse politiktheoretische Vorstellungen, die von einer reform- und praxisorientierten Generation in den Diskurs eingeführt worden sind, so werden am Ende allerlei politisch-kulturelle Aspekte verschiedener Feuilletondebatten vermischt, ohne dass hier viel Neues gesagt wird. Nachteilig wirkt sich auch die mit der angelsächsischen Publikationspraxis einhergehende Zeitverzögerung aus. Der Forschungsstand mindestens des letzten Jahrfünfts scheint nur sehr kursorisch eingearbeitet – und gerade zum Umgang mit der NS-Vergangenheit sind in dieser Zeit ganze Festmeter erschienen.

Diese Einwände sollen die Verdienste der Studie nicht schmälern. Moses hat eine außerordentlich gut lesbare Debattengeschichte der Bundesrepublik vorgelegt, die zwar ohne grundstürzende These auskommt, aber durch ihre Urteilssicherheit und ihr ausgleichendes Temperament besticht. Jede ideengeschichtliche Forschung zur Bundesrepublik findet in diesem Buch verlässliche Orientierung.

Anmerkungen:
1 Moses, A. Dirk, The Forty-Fivers. A Generation between Fascism and Democracy, in: German Politics and Society 17 (1999), S. 94-126; dt.: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233-263.
2 Schelsky, Helmut, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957; Bude, Heinz, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt am Main 1987.
3 Schlak, Stephan, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008 (rezensiert von Joachim Radkau: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-019>).