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Titel
Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien.


Autor(en)
Kugelmeier, Christoph
Reihe
Zetemata 129
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Eine der heiß diskutiertesten Fragen der Senecaforschung datiert zurück in die deutsche Klassik, als Lessing und Schlegel mit dem Instinkt erfahrener Theatermänner Senecas Tragödien rundweg die Bühnentauglichkeit absprachen. Den entscheidenden modernen Beitrag zu der Frage lieferte die Berliner Dissertation Otto Zwierleins, die ihr Ergebnis bereits im Titel verrät: „Die Rezitationsdramen Senecas“ (1966). Doch Zwierlein erntete lebhaften Widerspruch. Die Diskussion, die im Kielwasser seiner Arbeit entbrannte, ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Ein gewichtiges, in vieler Hinsicht eigenständiges Resümee des Streitfalls liefert die Saarbrückener Habilitationsschrift von Christoph Kugelmeier, die nicht nur die Forschungsgeschichte vor und seit Zwierlein aufarbeitet, sondern vor dem Hintergrund der inzwischen ins Spiel gebrachten Argumente den Fall selbst noch einmal neu aufrollt.

Kugelmeier nähert sich der Aufgabe gleichsam von außen. Zunächst klärt er den archäologischen Befund zur römischen Bühne des frühen Prinzipats und sichtet die Testimonien zur zeitgenössischen Aufführungspraxis (S. 16f. prüft er en passant noch einmal, ob Nero je in senecanischen Rollen aufgetreten sei; wie kaum anders zu erwarten, sind die Indizien mager). Er zieht aber auch die Erfahrungen zurate, die moderne Regisseure mit Seneca gesammelt haben. Die Eingriffe in den Text, die Kompromisse, zu denen heutige Inszenierungen genötigt sind, die Freiheiten, die sie sich faute de mieux nehmen, werfen ihr eigenes Licht auf die diskutierten Fragen.

Die räumlichen Gegebenheiten römischer Theater haben Konsequenzen beispielsweise für die Rolle des Chors (dem Kugelmeiers Untersuchung zu Recht eine Schlüsselrolle einräumt) oder auch für eine Szene wie Medeas furiosen Abgang im Drachenwagen, der auf der römischen Bühne kaum umzusetzen war (S. 40). Indizien liefern auch die Auftritte und Abgänge der Schauspieler, die Wechsel der Szenen und Schauplätze (frappierende Probleme bereiten hier etwa der Oedipus oder die Phoenissae). Und soll man sich vorstellen, dass am Schluss der Phaedra auf offener Bühne Hippolytus’ zerstückelter Körper eingesammelt wurde? Überraschend ergiebig erweisen sich die „beiseite“ gesprochenen Partien (S. 43–71), die etwa in den Troades zu fast schon komischen Verwicklungen führen. Die epischen Botenberichte, die sich dank ihrer Länge quasi aus den Stücken emanzipieren, lassen zudem die dramatische Handlung empfindlich stocken (S. 117–131). Ins innere Gefüge des senecanischen Dramas führen abstraktere Fragen: evidente Brüche zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit (beispielsweise im Hercules furens), in der Begründung der Handlung insgesamt wie einzelner Szenen, oder Inkonsistenzen in der Charakterisierung des Personals, bei Protagonisten wie bei Nebenfiguren.

In vielen Punkten ergänzen und bestätigen Kugelmeiers Ergebnisse Zwierleins Befund. So ist es nur folgerichtig, dass der Schluss der Arbeit sich der Praxis der zeitgenössischen Rezitation widmet. In der frühen Kaiserzeit wurden viele Spielarten von Literatur ‚konzertant‘ aufgeführt 1, gerade auch dramatische Texte. Dass Senecas Stücke als ‚Rezitationsdramen‘ dem Hörer einiges abverlangen, liegt auf der Hand, beispielsweise die Identifikation der Sprecher in Stichomythien – zumal die Texte in aller Regel nicht mit verteilten Rollen dargeboten wurden, sondern von nur einer Person, an erster Stelle dem Autor. Doch dank ihrer Ausdrucksmittel waren geschickte Rezitatoren offenbar problemlos in der Lage, auch im raschen Wechsel zwei und mehr Rollen scharf voneinander abzugrenzen und individuell zu charakterisieren. Und warum sollte Seneca (immerhin Sohn eines der größten Redner der Zeit) nicht gelungen sein, wofür man heutzutage Vorleser wie Rufus Beck (Harry Potter) oder Peter Stein (Faust II) zu Recht rühmt? In der Tat: Aus deren Munde hörte man gerne auch einmal Senecas Medea.

Anmerkung:
1 Dazu jetzt umfassend Ehlers, Widu-Wolfgang, Auribus escam oder Der intendierte Rezitator. Produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte der Mündlichkeit antiker Texte, in: Benz, Lore (Hrsg.), ScriptOralia Romana, Tübingen 2001, S. 11–42.

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