Im August 1944 gelang es einer Gruppe von Häftlingen, heimlich vier Fotos vom Vernichtungsprozess in Auschwitz-Birkenau aufzunehmen. Die Häftlingsgruppe gehörte zum Sonderkommando des Krematoriums und der Gaskammer V, einer Spezialeinheit, die die Verbrennung der zuvor in den Gaskammern ermordeten Juden auszuführen hatte. An der Aktion waren mehrere Personen beteiligt. Die Kamera wurde von der polnischen Widerstandsgruppe im KZ Auschwitz zum Sonderkommando eingeschleust. Den Auslöser betätigte ein griechischer Jude namens Alex, dessen Nachname nicht bekannt ist. Andere Häftlinge des Sonderkommandos beobachteten die Kapos und SS-Wachposten im Moment der Aufnahmen.
Es wurden zwei Sequenzen fotografiert1: Die erste entstand aus dem Inneren einer Gaskammer durch die offen stehende Tür. Auf zwei Fotos sind Häftlinge des Sonderkommandos beim Verbrennen der Leichen zu sehen. Der schützende Türrahmen ist auf den Kontaktabzügen erhalten. Die zweite Sequenz entstand außerhalb des Gebäudes. Im Vorbeigehen drückte Alex auf den Auslöser und konnte auf einem Negativ noch in der linken unteren Ecke Frauen auf dem Film festhalten, die sich bereits entkleidet hatten und darauf warteten, in die als Duschen getarnten Gaskammern geführt zu werden. Das zweite Bild dieser Sequenz – relativ unbekannt, weil es bis vor einigen Jahren nie publiziert wurde – enthält keine wichtigen Details, die zum Beweis der Verbrechen beitragen könnten. Es sind lediglich ein paar Baumwipfel zu sehen. Aber gerade dieses Foto verdeutlicht die Situation und das Risiko: Im Freien konnte der Fotograf den Auslöser nur „blind“ betätigen, in der Hoffnung, dass etwas auf dem Film zu sehen sein würde.
Es gelang, die Filmrolle ein paar Tage später aus dem Lager zu schmuggeln. Beigefügt war dem Film ein Kassiber, der kurz beschrieb, was zu sehen sein sollte. In Krakau wurden mehrere Kontaktabzüge angefertigt und an einige Mitglieder des polnischen Widerstands verteilt. Warum die Fotos 1944 nicht an die Öffentlichkeit gelangten, ist bis heute unklar. Während der Ermittlungen zu den nationalsozialistischen Verbrechen in Auschwitz tauchten sie 1945 erstmals in Krakau auf. Inzwischen gehören die Fotos zum internationalen Bildgedächtnis des nationalsozialistischen Genozids. Sie fehlen in keiner Ausstellung und in keiner Publikation zum Thema. Ausstellungsmacher und Herausgeber sahen und sehen sich meistens veranlasst, die Fotos in die gewohnte rechtwinklig ausgerichtete Sichtweise zu rücken und in extremen Ausschnittvergrößerungen zu präsentieren, die den Türrahmen der Gaskammer ausblenden oder die Frauen formatfüllend ins Bild setzen. Damit verschwinden jedoch der Kontext der Entstehung, die Flüchtigkeit und das Risiko, dem die Häftlinge bei der Aufnahme ausgesetzt waren.
Das Ziel des französischen Kunsthistorikers und Philosophen Georges Didi-Huberman ist es, den Entstehungsmoment durch eine sorgfältige Analyse der Bilder offenzulegen und dies mit der Frage der (Un-)Vorstellbarkeit von Auschwitz zu verknüpfen. Der erste Teil des Buchs ist die deutsche Übersetzung seines bereits 2001 erschienenen Katalogbeitrags zur Ausstellung „Mémoire des camps“.2 Neben schriftlichen Quellen, den „Rollen von Auschwitz“ (den versteckten und vergrabenen Handschriften der Sonderkommandohäftlinge), den Überlebendenberichten und der Sekundärliteratur hebt Didi-Huberman die „(historische) Einbildungskraft“ hervor, die die „phänomenologische Dimension“ der Bilder, ihren dynamischen und aktiven Charakter offenlegen soll. Diese „Einbildungskraft“, die das gesammelte Wissen zu einer Interpretation zusammenfügt, gerät bei Didi-Huberman gelegentlich etwas zu spekulativ (S. 166). Mit Empathie und emotionaler Anteilnahme versucht er einen lückenlosen Ablauf von „kaum mehr als elf Minuten Zeit“ (S. 140) zu rekonstruieren. Wie er im zweiten Teil selbst beschreibt, besteht unter den Autoren eine gewisse Uneinigkeit über die Abfolge der vier Fotos. Die zeitliche Dimension erscheint ebenso fragwürdig. Bilder sind für Didi-Huberman „Fetzen“ der Vergangenheit, die nicht die Wahrheit, aber einen Moment davon zum Vorschein bringen (S. 15). Dennoch lassen sich Lücken und Leerstellen zwischen diesen Augenblicken auch mit „Einbildungskraft“ nicht füllen, so sehr man sich bemüht, die überlieferten Details zusammenzufügen.
Trotz der Unzulänglichkeit der Bilder und ihres Charakters als Momentaufnahmen bieten sie laut Didi-Huberman einen Ansatzpunkt, um etwas über das Innenleben des Lagers zu erfahren. Sich auf das Unvorstellbare (l’inimaginable) zu berufen dürfe nicht von der Aufgabe entlasten, eine Vorstellung und Darstellung zumindest zu versuchen. Damit wendet sich Didi-Huberman gegen das von Claude Lanzmann zum Dogma erhobene Postulat der Undarstellbarkeit. Lanzmann hatte in seinem neunstündigen Dokumentarfilm „Shoah“ über die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ keinerlei historisches Bildmaterial eingesetzt – was mit dem Mangel an Bilddokumenten zusammenhängt, für Lanzmann aber eine bewusste ästhetische und moralische Entscheidung war.
In Frankreich hat Didi-Hubermans Katalogbeitrag über die vier Sonderkommandofotos eine heftige Debatte ausgelöst. Die beiden Hauptkritiker, der Psychoanalytiker Gérard Wajcman und die Autorin Elisabeth Pagnoux, attackierten Didi-Huberman in langen Artikeln, die in der von Lanzmann herausgegebenen Zeitschrift „Les temps modernes“ erschienen.3 Die Vorwürfe waren scharf und bisweilen polemisch. Wajcman warf Didi-Huberman „Denkfehler“, „eine Art hypnotischer Faszination durch Bilder“ bis hin zur „religiösen Fetischisierung“ und „Perversion“ vor, die auf einem „vom Christentum infiltrierte[n] Denken“ basiere. Pagnoux wie Wajcman hielten Didi-Huberman entgegen, seine Analyse vernichte das Gedächtnis und befördere Antisemitismus und Revisionismus. Didi-Hubermans Betrachtung sei nichts als „Voyeurismus“ und ein „Vergnügen am Entsetzen“.
Mit dieser Kritik setzt sich Didi-Huberman im zweiten Teil des Buchs auseinander. Wajcman fordere die Bilderlosigkeit und Undarstellbarkeit der Shoah ein, weil es kein Bild gebe, das die gesamte Wirklichkeit der Shoah zeige. Didi-Huberman argumentiert hingegen, dass man trotz des fehlenden und letztlich unmöglichen Gesamtbilds auch nicht so tun könne, als gebe es gar kein Foto. Die Fotografien seien „Fetzen“ oder „Risse“, die „trotz allem“ einen Widerschein und Moment des Realen bieten würden (S. 121). Mit dem Leitmotiv „trotz allem“ will Didi-Huberman „den produktiven Akt dieser Bilder selbst zum Ausdruck bringen […] – einen Akt des Widerstands in Auschwitz im Jahr 1944“ (S. 93). Es waren „Bilder trotz allem“, die unter mörderischen Bedingungen entstanden (S. 16, S. 254).
Ungeachtet einer gewissen Redundanz dieser These ist das Buch höchst anregend zu lesen – vor allem der zweite Teil, in dem die Empathie zurücktritt und Didi-Huberman die medialen Eigenschaften der Fotografie und des Films als Quellen beleuchtet. Der Umgang der Historiker mit fotografischen Quellen sei deshalb so schwierig, weil Bilder eine irritierende „zweifache Ordnung“ besitzen. Man erwartet einerseits die „Unmittelbarkeit der Monade“, die die „ganze Wahrheit“ der Geschichte vorzeigt; andererseits beraubt man sie der „Komplexität der Montage“, die das Bild hervorgebracht hat und es zum Ereignis macht. In der historischen Betrachtung werden Bilder entweder als Ikonen für das Ganze oder als „illustrative“ Dokumente verwendet. „Auf diese Weise erzeugt der Historismus sein eigenes Konzept des Undarstellbaren.“ (S. 57)
Didi-Huberman führt die Erschließung der Sonderkommandofotos en détail vor. In der Kontextualisierung beschränkt er sich auf den Entstehungsprozess und auf das Sonderkommando; dabei blendet er die Geschichte von Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 sowie die Widerstandsaktivitäten im Konzentrations- und Vernichtungslager weitgehend aus. Auch die Nachgeschichte der Bilder, ihre Gebrauchsweisen in den Kriegsverbrecherprozessen seit 1945 und ihre Instrumentalisierung im antifaschistischen Widerstandskontext fehlen. Die Abtragung dieser Schichten, die zur Mythen- und Legendenbildung geführt haben, hätte ebenfalls Bestandteil der von Didi-Huberman angestrebten „visuellen Archäologie“ sein müssen. Er kritisiert zwar die Art der Bearbeitung in der Nachkriegszeit, berücksichtigt aber nicht die dadurch veränderte Rezeption der Fotos.
Den Akt des Fotografierens rekonstruieren zu können ist bei seriellen Bildüberlieferungen wie den vier Sonderkommandofotos noch am ehesten möglich. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich Didi-Hubermans Herangehensweise auf die Erschließung von Einzelaufnahmen anwenden lässt (die den Großteil der Überlieferung ausmachen), oder wie sich Entstehungsprozesse bei Fotografien der Täterseite aufzeigen lassen.
Anmerkungen:
1 Das Verdienst, die Entstehung der vier Fotos rekonstruiert und sie erstmals vollständig publiziert zu haben, kommt Jean-Claude Pressac zu, auf den Didi-Huberman sich in den wesentlichen Aspekten stützt. Vgl. Pressac, Jean-Claude, Auschwitz: Technique and Operation of the Gas Chambers, New York 1989.
2 Chéroux, Clément (Hrsg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999), Ausst.-Kat. Paris 2001. Die Ausstellung wurde in Paris, Winterthur, Barcelona und Reggio Emilia gezeigt. Für ein Beiheft zur Ausstellung in Winterthur waren die Artikel ins Deutsche übersetzt worden, mit Ausnahme des Beitrags von Didi-Huberman.
3 Wajcman, Gérard, De la croyance photographique, in: Les temps modernes 56 (2001), no. 613, S. 47-83; Pagnoux, Elisabeth, Reporter photographe à Auschwitz, in: ebd., S. 84-108.