P. Gördüren / D. Schöne (Hrsg.): Der unbekannte politische Gefangene / The Unknown Political Prisoner

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Titel
Der unbekannte politische Gefangene / The Unknown Political Prisoner. Ein internationaler Skulpturenwettbewerb zu Zeiten des Kalten Krieges / An International Sculpture Competition in the Cold War Era


Herausgeber
Gördüren, Petra; Schöne, Dorothea
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Endlich, Universität der Künste Berlin

Wer sich mit politischen Denkmälern im 20. Jahrhundert beschäftigt, stößt bald auf den Wettbewerb „The Unknown Political Prisoner“, der 1952 auf US-amerikanische Initiative hin durch das Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) ausgelobt und durchgeführt wurde. Er sei der „wohl bedeutendste Wettbewerb der Nachkriegszeit“, so die Ankündigung des Kunsthauses Dahlem. Der Ablauf dieses Wettbewerbs, die Debatten um die prämierten Entwürfe und um die ausgewählte Arbeit des britischen Bildhauers Reg Butler sowie die elf Jahre andauernde konfliktreiche Nachgeschichte bieten eine Fülle aufschlussreicher Einblicke in den zeit- und kunstgeschichtlichen Kontext jener frühen Nachkriegsjahre.

Das Kunsthaus Dahlem hat nun, Jahrzehnte später, den Wettbewerb selbst und das Scheitern der Realisierung nachvollzogen und möglichst viele originale Wettbewerbsentwürfe noch einmal zusammengeführt. Ergebnis der mühsamen und verdienstvollen Recherchen war 2020/21 eine Ausstellung in jenem Berliner Atelierhaus, das 1939 bis 1942 für den Bildhauer Arnold Breker erbaut wurde, dessen Ostflügel 1949 bis 1995 von Bernhard Heiliger genutzt wurde und das seither in Gänze von der Bernhard-Heiliger-Stiftung und ihrem 2015 gegründeten Kunsthaus Dahlem betrieben wird.

Die Attraktion der Ausstellung war die Vielzahl der Modelle und Originalzeichnungen. Mit dem von Dorothea Schöne, der Leiterin des Kunsthauses Dahlem, und der Kunsthistorikerin Petra Gördüren herausgegebenen zweisprachigen Begleitband konnte das Projekt vertieft werden. Die Entwürfe werden hier erläutert und durch biographische Angaben ergänzt. Vier Grundsatzartikel analysieren den Wettbewerb und seine Nachgeschichte im Kontext der geschichts- und kunstpolitischen Entwicklungen jener Zeit.

Der Text von Dorothea Schöne beschäftigt sich mit dem Wettbewerb selbst, mit dem Verfahren, den politischen Rahmenbedingungen und Deutungen, den Reaktionen von Presse, Publikum und Kunstszene auf die ausgestellten Entwürfe sowie mit der Nachgeschichte. Die internationale Ausschreibung war offen für Bildhauerinnen und Bildhauer aller Länder und aller Stilrichtungen, ausdrücklich auch der figürlichen. Die Zusammensetzung des Organisationskomitees (unter anderem mit Henry Moore), der Jurys für die nationalen Vorentscheidungen sowie der prominenten internationalen Jury für die Finalisten (darunter Moore und Will Grohmann) machte allerdings die klare Vorliebe des Auslobers für abstrakte Kunst deutlich. Explizit offen formuliert war auch die kurz gefasste, sehr vage Aufgabenstellung. Mit der Wahl des Themas „Der unbekannte politische Gefangene“ sollte all jener unbekannten Männer und Frauen „unserer Zeit“ gedacht werden, die ihr Leben oder ihre persönliche Freiheit für die menschliche Freiheit hingegeben hatten. Unausgesprochen blieb, welche Gefangenen und welche politischen Systeme gemeint waren und welches Verständnis von Freiheit zugrunde gelegt werden sollte. Verwiesen wurde auf die „menschliche Bedeutung des Themas im allgemeinen Sinn“.

Im Kontext des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes waren damit die Konflikte vorprogrammiert. Nur wenige Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, das mit Terror, Vernichtungskrieg und Massenmorden ganz Europa verwüstet hatte, standen die stalinistischen Repressionen und der Koreakrieg im Fokus der weltpolitischen Auseinandersetzungen. Angesichts der allgemein gehaltenen Widmung boykottierten die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten den Wettbewerb. Dennoch wurden fast 1.500 Entwürfe eingereicht. Um dieses große Spektrum etwas einzugrenzen, gab es zunächst 28 nationale Vorentscheide. Die Endauswahl mit über 200 Entwürfen aus mehr als 50 Ländern fand 1953 in London statt; sie wurde in der Tate Gallery präsentiert.

Die Jury entschied sich für die Arbeit von Reg Butler. Über einem Felsen sollte sich eine 30 Meter hohe, fragile Metallkonstruktion aus Stäben und einer Plattform erheben, die vielfache Assoziationen hervorrief (Wachturm? Galgen? Funkanlage?). Drei weibliche Figuren sollten zu ihr aufschauen. Die Reaktionen von Fach- und Tagespresse, Künstlerschaft und Publikum auf diesen und die meisten anderen Entwürfe waren, allerdings aus unterschiedlichen Gründen, überwiegend negativ bis aggressiv ablehnend. Die Ausschreibung hatte keinen Standort für die Realisierung angegeben. Im Vorfeld waren einige Orte im Gespräch, darunter schon 1952 West-Berlin. Diese Idee wurde durch ein Angebot des Bürgermeisters Ernst Reuter an die Jury bestärkt: Berlin sei „an outpost of the democratic world, surrounded by a Soviet dominated territory, a center of the fight of freedom against oppression and tyranny“ (zit. auf S. 32). Hier konzentrierten sich die Realisierungsbemühungen auf verschiedene Standorte, zuletzt auf die Humboldthöhe im Wedding, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Trümmerberg entstanden war. Nach langen Debatten und Querelen scheiterte das Projekt 1964 an der fehlenden Finanzierung.

Der Text von Angela Lammert beschäftigt sich mit einem Gutachten zum Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen, in dem sich die Berliner Akademie der Künste (West) unter ihrem Präsidenten Hans Scharoun 1956 für den Standort Berlin stark machte. Darin kam eine klare Fokussierung der Denkmalswidmung auf die Opfer der sowjetischen Repressionen zum Ausdruck. Verfasser des Gutachtens war der Lyriker und Kritiker Hans Egon Holthusen, dessen SS-Mitgliedschaft zwar bekannt, aber bislang nicht öffentlich beachtet worden war. Seine Interpretation von Butlers Entwurf ist das Dokument einer problematischen, weitgehenden inhaltlichen Umwidmung des Denkmalsprojektes, hin zum Thema einer epochenübergreifenden „dramatischen Spannung zwischen Mensch und Technik“. Zugleich sah Holthusen in der Aufstellung eines Denkmals in Berlin nach dem Entwurf „eines Nicht-Deutschen und Bürgers einer der im Kampf gegen den Faschismus siegreichen Nationen“ eine „Entsühnung“ und ein „nationale[s] Bekenntnis zur Anerkennung und Wiedergutmachung einer nationalen Schuld“ (S. 71f.).1 Lammerts Aufsatz ist auch ein interessanter Beitrag zur aktuellen Diskussion um die kulturpolitischen Entwicklungen der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik und in West-Berlin sowie um personelle Kontinuitäten nach 1945.

Petra Gördürens Text mit dem Untertitel „Vom Scheitern einer Gattung in den ästhetischen Konflikten der Nachkriegszeit“ verbindet Betrachtungen zum Denkmals-Wettbewerb des ICA mit dem Blick auf andere Wettbewerbe und auf die Entwicklung politischer Denkmäler in beiden Teilen Nachkriegsdeutschlands. Der vermutlich mit Geldern des CIA und des US-Außenministeriums finanzierte Wettbewerb habe durch die Förderung der Abstraktion für die Freiheit der Kunst werben wollen, habe jedoch die mit dem Wettbewerbsziel verbundene politische Agenda, die sich gegen die stalinistischen Repressionen richtete, nicht offenlegen wollen. Die Autorin schreibt das „Scheitern“ des Wettbewerbs und, wie im genannten Untertitel formuliert, der Gattung Denkmal insgesamt einerseits der mangelnden Beteiligung der Öffentlichkeit am Entscheidungsprozess zu, andererseits der als „elitär“ empfundenen abstrahierenden Bildsprache der Avantgarde, die nicht dem Wunsch der Menschen nach einem Denkmal entsprochen habe, mit dem man sich hätte emotional identifizieren können (S. 101f.). Die These des „Scheitern[s] einer Gattung“ kann angesichts der Vielzahl und stilistischen Vielfalt der Denkmäler im westlichen Nachkriegsdeutschland allerdings nicht überzeugen.

Der Beitrag von Tanja Pirsig-Marshall beschäftigt sich mit der „Rezeption der britischen und amerikanischen Bildhauerei im Nachkriegsdeutschland“. Impulse kamen vor allem von abstrakt arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern. Auf deutscher Seite fanden sie Eingang in eine „Vielfalt an Form- und Bildsprachen […], die sich im Nebeneinander von Figuration und Abstraktion, in Deformation und Verletzung des Menschenbildes niederschlägt“ (S. 136).

Die Textbeiträge, besonders Schönes ausführlicher historischer Abriss, bieten eine weit gespannte Kontextualisierung des Wettbewerbs. Tatsächlich hat die Kürze und Unbestimmtheit der Formulierung von Aufgabe, Thema und Widmung damals unterschiedlichen künstlerischen wie auch politischen Interpretationen Tür und Tor geöffnet. Reg Butler hatte – in Erinnerung an eigene Kriegserfahrungen – zunächst an nationalsozialistische Lager wie Buchenwald und Bergen-Belsen und deren Wachtürme gedacht.2 Vermutlich erst im Zuge der Realisierungsbemühungen ließ er sich auf die nun propagierte eindeutige Positionierung gegen die sowjetische Unterdrückung ein. Daher ist bedauerlich, dass der Ausschreibungstext selbst, der in der Ausstellung in einer Vitrine auslag, im Buch nicht im Wortlaut enthalten ist. Die politische und kulturelle Konfliktlage Berlins als zentraler Schauplatz des Kalten Krieges wird recht knapp behandelt. Unerwähnt bleiben die Konkurrenzen und Propaganda-Kampagnen, die sich zeitgleich zu den Wettbewerbs-Planungen abspielten, so der im West-Berliner Titania-Palast 1950 gegründete „Kongress für kulturelle Freiheit“ und die „Weltfestspiele der Jugend“ in Ost-Berlin 1951.3

Nicht näher betrachtet werden auch die politischen und philosophischen Totalitarismus-Debatten, letztere durch Hannah Arendt mit „The Origins of Totalitarianism“ ebenfalls 1951 angestoßen, sowie die Frage, wie sich in der frühen Nachkriegszeit speziell in Gedenkpolitik und Denkmalsentwicklung politische und kulturelle Muster des Umgangs mit der NS-Zeit und der Schuldabwehr herausbildeten. Unbestritten ist, dass die Abstraktion als „Weltsprache“ gerade von den USA als ideologische Waffe im Kalten Krieg aufgebaut und eingesetzt wurde. Beim Blick auf die Entwürfe zeigt sich allerdings, dass gerade dieser Wettbewerb nicht unbedingt als Paradebeispiel für die These von der „abstrakte[n] Kunst als Sinnbild für Freiheit und Demokratie“ (so im Rücktitel des Buches) gelten kann. Nur die wenigsten Arbeiten waren tatsächlich abstrakt. Viele verbanden stilisierte figürliche Motive wie menschliche Körper, Fesseln oder Stacheldraht mit Elementen wie Mauern, Wänden, Toren, um so Bedrohung, Verletzlichkeit oder Ausweglosigkeit zu symbolisieren.4 Bei diesem Wettbewerb hat offensichtlich gerade die Opfer-Thematik viele – auch abstrakt arbeitende – Künstlerinnen und Künstler motiviert, leicht erkennbare bildhafte Formen ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen.

Das umfangreiche, hervorragend gestaltete Begleitbuch zur Ausstellung bietet eine Fülle anregender Texte und Abbildungen. Es kommt zur richtigen Zeit, denn es leistet einen interessanten Beitrag in der derzeit verstärkten Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg – für den am Berliner Checkpoint Charlie ein eigenes Museum entstehen soll – und mit der Nachkriegsmoderne in der bildenden Kunst.

Anmerkungen:
1 Siehe auch Christine Fischer-Defoy, Opfer Hitlers – Opfer Stalins?, in: „Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“. Dreihundert Jahre Akademie der Künste, Ausstellungskatalog, Berlin 1996, S. 649–654.
2 Siehe auch Reg Butler, Zum Entwurf für das Denkmal des Unbekannten Politischen Gefangenen, in: Das Kunstwerk, August 1957 (2/XI), S. 34f.
3 Siehe dazu Eckhart Gillen, Abstrakte Kunst als Instrument des Kalten Krieges der Kulturen. Der Wettbewerb für das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen 1952/53, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2014, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1641 (26.11.2021); ders., The Cold War of the Arts. Monument to the Unknown Political Prisoner and Memorial to the Buchenwald Concentration Camp, in: ders. / Peter Weibel (Hrsg.), Facing the Future. Art in Europe 1945–1968, Karlsruhe 2016, S. 236–250.
4 Interessanterweise verstärkte die deutsche Übersetzung der Ausschreibung die Tendenz zum Symbolhaften: Hier ging es darum, „alle die unbekannten Männer und Frauen zu versinnbildlichen“ (im englischen Text: to commemorate).