Mobilität, sowohl räumliche als auch soziale, wird in der Islamwissenschaft zwar oft herangezogen, um die muslimische Gelehrsamkeit in vormodernen Gesellschaften zu charakterisieren. Nur wenige Publikationen jedoch nehmen Mobilität selbst in den Fokus, durchdringen sie konzeptionell und bauen Fallstudien darum herum. Und das, obwohl das Narrativ einer mobilen Gelehrsamkeit nicht nur die Forschungsliteratur dominiert. Auch die Primärquellen suggerieren einen hohen Grad an räumlicher Mobilität von Gelehrten, welche im Rahmen ihres Studiums, im Streben nach Wissen, verschiedene Städte bereisen. Auch scheint soziale und räumliche Mobilität nicht bestimmten sozialen Gruppen vorbehalten gewesen zu sein.
Es ist längst überfällig, dass sich Forscher:innen mit diesem verbreiteten Narrativ gezielt auseinandersetzen und die Primärquellen nach Konzepten von Mobilität auswerten, um Entwicklungen aus der Perspektive z.B. der Ideen- oder Sozialgeschichte besser zu verstehen. Denn Gelehrte (hier tatsächlich überwiegend männlich) sind die überwiegenden Produzenten von Chroniken, Biographischen Lexika, Abhandlungen zum theologischen Diskurs, Kompendien von Rechtsgutachten und vielem mehr. Darüber hinaus fungierten Gelehrte häufig als Vermittler zwischen der herrschenden Elite und der Bevölkerung. Sie sprachen Recht, setzten Urkunden auf, verwalteten Stiftungen, pflegten Archive und führten die Marktaufsicht. Was wir heute für „den Islam“ halten, ist uns nur zugänglich über Schriften, die von Gelehrten verfasst wurden.
Es ist folglich von großem Interesse, zu verstehen, wie „mobil“ Personen in vormodernen muslimischen Gesellschaften wirklich waren. Stand es wirklich jedem offen, sozial aufzusteigen, oder war der Zugang zu wichtigen Ämtern eingeschränkt, die über die Produktion von und den Zugang zu sozialem und kulturellem Kapital entschieden? War die Aufnahme in diese Gruppe an bestimmte Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit oder geographische Herkunft geknüpft? Wie eng war das Netzwerk der Entscheidungsträger geknüpft, die über die Verteilung von materiellen Ressourcen und die Ernennung von Personen in Ämtern entschieden? Begünstigte die Zugehörigkeit zu bestimmten Gelehrtenfamilien oder Rechtsschulen den Zugang zu bezahlten Posten in Schulen und am Hof? Wie gelangten Gelehrte überhaupt in die Position, über die Produktion von Wissen, dessen Überlieferung und Bewahrung sowie Vermittlung zu entscheiden?
Der zu rezensierende Sammelband erhebt den Anspruch, sich dieser Forschungsfragen anzunehmen, und legt eine Reihe von Fallstudien vor, die sich mit dem Thema Mobilität beschäftigen. Er geht auf einen zweitägigen Workshop zurück, der an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London von den beiden Herausgebern, Mohamad El-Merheb und Mehdi Berriah, organisiert wurde. Mit dem Vorhaben schließen sie sowie die Beitragenden an eine Reihe bereits existierender Studien an, die sich überwiegend anhand von einzelnen Fallbeispielen – mit einem starken Fokus auf die Regionen Ägypten und Syrien zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert – mit der Sozialstruktur der muslimischen Gelehrsamkeit beschäftigten.1 Der vorliegende Band möchte vor dem Hintergrund der bereits existierenden Studien zum einen Mobilität konzeptionalisieren und zum anderen mit einer Reihe von weiteren Fallbeispielen zu allgemeineren Aussagen kommen und eine Basis für einen sinnvollen Vergleich bieten.
Entsprechend werden in der sehr lesenswerten Einleitung zum Band die Vorgehensweise offengelegt und theoretische Überlegungen angeführt, wie die Herausgeber Mobilität verstehen und wie das Konzept im Band thematisiert wird. Darüber hinaus gehen sie auf grundsätzliche Entscheidungen zur zeitlichen und inhaltlichen Eingrenzung des Bandes ein. Die Beiträge konzentrieren sich ausschließlich auf vormoderne Gesellschaften (8.–18. Jahrhundert) und untersuchen soziale bzw. professionelle und räumliche Mobilität der muslimischen Gelehrsamkeit. Dieser Fokus ist sinnvoll gewählt und erklärt sich zum einen damit, dass Mobilität in verschiedenen vormoderne Gesellschaften zwar nicht identisch ist, aber doch ein vergleichbares Phänomen zu sein scheint. Zum anderen liefert das Quellenmaterial, das überwiegend aus Chroniken und Biographischen Lexika besteht, Informationen, die sich zum größten Teil auf die Gelehrsamkeit beziehen. Die Beiträge decken mit ihren Fallbeispielen einen breiten geographischen Raum ab, um eine breite Vergleichsbasis zu erzielen.
Mobilität wird von den Herausgebern auf drei Ebenen gedacht: als räumliche sowie horizontale und vertikale soziale bzw. professionelle Mobilität. Vertikale Mobilität wird verstanden als das Auf- oder Absteigen von Gelehrten in verschiedenen Berufen oder Ämtern, etwa Imam (imām), Prediger (khaṭīb), Lehrer (mudarris/shaykh) oder Richter (qāḍī) (S. 6). Dazu gehörten auch Beförderungen oder Degradierungen im selben Berufszweig. Horizontale Mobilität liege dann vor, wenn Gelehrte mehrere bezahlte Ämter ausüben, wenn sie folglich neben ihrer Tätigkeit als Lehrer z.B. auch als Marktaufseher (muḥtasib), Stiftungsverwalter (nāẓir al-awqāf) oder Aufseher der Schatzkammer (nāẓir bayt al-māl) fungieren. Diese Differenzierung von Mobilität soll auch dem Umstand Rechnung tragen, dass viele Religionsgelehrte gleichzeitig auch Dichter oder Literaten waren. Räumliche Mobilität beschreibt die Reisetätigkeit von Gelehrten. Sie bezieht sich nicht nur auf die Studienreisen, welche ein angehender Gelehrter im Streben nach Wissen unternahm. Auch Migrationen in andere Städte und Regionen auf der Suche nach Arbeit werden hier einbezogen.
Die Beiträge des Bandes sind in drei übergeordnete Themenzusammenhänge gruppiert. Der erste Teil beschäftigt sich mit „Networks of Knowledge and Learning“, der zweite mit „Social Mobility and Professionalization“ und der dritte mit „Power, Politics, and Mobility“. Mehmetcan Akpinar untersucht in seinem Beitrag „Medinan Scholars on the Move: Professional Mobility at the Umayyad Court”, wie medinensische Gelehrte nach Damaskus ins Machtzentrum der Umayyaden auswandern und welche Karrieren sie dort am Hof, in Lehrinstitutionen und Studienzirkel aufnehmen. In ihrem Beitrag „Professional Mobility and Social Capital: A Note on the muḥaddithāt in Kitāb Tārīkh Baghdād” wertet Nadia Maria El Cheikh das Geschichtswerk und biographische Lexikon des Historikers und Religionsgelehrten al-Khaṭīb al-Baghdādī (gest. 463/1071) hinsichtlich sozialer und räumlicher Mobilität von Frauen aus. Zwar ist der Anteil an Frauen im Bildungssystem immer wieder erstaunlich und erwähnenswert. Jedoch wird auch deutlich, dass sich der oft beschworene Einfluss sowie die tatsächliche Mobilität von Frauen in Grenzen hält. Vordergründig waren sie im Bereich der Überlieferung von Wissen, hier insbesondere der Prophetischen Tradition (ḥadīth), und seltener in der Wissensvermittlung tätig. Es kann nicht bestritten werden, dass damit auch eine Aufwertung ihres sozialen Status einherging. Räumliche Mobilität schloss dies jedoch nur selten ein und an der männlichen Dominanz im Wissenssektor dürften ihre Aktivitäten ebenfalls nicht viel geändert haben. Marta G. Novo beschreibt eindrucksvoll in ihrem Beitrag „The Aqīt Household: Professional Mobility of a Berber Learned Elite in Premodern West Africa“, wie sudanesische Gelehrter ihre Gelehrtenkarriere vor dem Hintergrund von Identitätspolitiken, politischen Rivalitäten und professionellen Beziehungen entweder zu Kairo oder Nordafrika aushandelten. Abhängig von der untersuchten Quelle traten dabei die Beschreibung von Berbern im Gegensatz zu nicht-Berbern oder die Beziehungen zu nordafrikanischen bzw. Kairiner Gelehrten unterschiedlich zu tage.
Mit dem Beitrag „The Professional Mobility of Qāḍī ʿAbd al-Jabbār between the Quest for Knowledge and the Confluence of Power” von Amal Belkamel beginnt der zweite Teil des Bandes. Belkamel zeichnet die Karriere des muʿtazilitischen Gelehrten ʿAbd al-Jabbār vor allem in Bagdad nach und zeigt, wie sein Erfolg maßgeblich durch seine Beziehungen zur herrschenden Elite sowie durch deren Religionspolitik möglich gemacht wurde. In ähnlicher Weise zeigt Mehdi Berriah in seinem Beitrag „Mobility and Versatility of the ʿulamāʾ in the Mamluk Period: The Case of Ibn Taymiyya“, wie die Karriere eines Religionsgelehrten in Damaskus und Kairo ebenfalls stark von der politischen Patronage abhing. Insbesondere im Fall Ibn Taymiyyas, der mit seinen Ansichten nicht selten gegen den Mainstream der Gelehrsamkeit in der Mamlukenzeit verstieß, wird besonders deutlich, wie wichtig funktionierende Patronagebeziehungen zur herrschenden Elite waren und wie schnell sich auch die Karriere und das Ansehen eines Gelehrten ändern konnten, wenn innerhalb der politischen Elite die Machtverhältnisse neu geordnet wurden. Mit ihrem Beitrag „Mobility among the Andalusī quḍāt: Social Advancement and Spatial Displacement in a Professional Context” wählt Adday Hernández López einen quantitativen Ansatz, um zu erörtern, wie sich das Fehlen eines Madrasa-Systems, das an ein von der politischen Elite kontrolliertes Stiftungswesen gekoppelt wäre, auf die Karriere und die Vernetzung von Gelehrten im Allgemeinen und Richtern im Besonderen auswirkt. Sie zeigt dabei, wie umayyadische und später auch almohadische Herrscher dennoch versuchten, Einfluss auf Richter und andere Gelehrten zu nehmen, um ihre Politik und Herrschaft legitimieren zu können.
Der dritte Teil des Bandes beginnt mit dem Beitrag „Imām al-Ḥaramayn al-Juwaynī’s Mobility and the Saljūq’s Project of Sunnī Political Unity“ von M. Syifa Amin Widigdo. Er untersucht, wie al-Juwaynī zum einen seine Theologie entlang der Linien der Religionspolitik der Seljuken entwickelte und zum anderen seine Nähe zur politischen Elite, aber auch seine räumliche Mobilität zwischen Nischapur, Bagdad und dem Hijaz nutzte, um seine Theologie in das sich etablierende Madrasa-System zu integrieren und zu verbreiten. Der Einfluss und vor allem der Nachklang seiner Theologie hängen damit maßgeblich von den „äußeren“ Umständen ab und lassen sich nicht ausschließlich mit der Überzeugungskraft seiner Ideen begründen. Der zweite Beitrag in diesem letzten Teil des Bandes beschäftigt sich mit der Gelehrsamkeit am Hof nach dem Ende der Ṣafavidenherrschaft. In seinem Artikel „Iran’s State Literature under Afghan Rule (1722–1729)“ befasst sich M.A.H. Parsa mit Fürstenspiegel und den Legitimationsstrategien am Hof der afghanischen Hotaki-Dynastie. Interessant zu sehen ist, wie Beamte vom Ṣafavidenhof durch die Hotakiden übernommen und dadurch auch Legitimationsstrategien der vormaligen schiitischen für die nun sunnitische Herrschaft genutzt wurden. Mohamad El-Merheb behandelt in seinem Beitrag „Islamic Political Thought and Professional Mobility: The Intellectual and Empirical Worlds of Ibn Ṭalḥā and Ibn Jamāʿa”, wie Ratgeberliteratur sowie Konzeptionen von Autorität und Herrschaft stark von der Mobilität der Gelehrsamkeit abhingen. Die beiden Gelehrten, welche unter verschiedenen Herrschaften lebten, den Artukiden, den Ayyubiden und den Mamluken, entwickelten ihre Konzepte jeweils in Abhängigkeit von der gerade herrschenden Dynastien.
Im Ganzen ist der Band ein gelungener und lesenswerter Beitrag zur Forschung und bietet selbst für besonders häufig studierte Fälle, wie z.B. Ibn Taymiyya, noch neue Erkenntnisse. Dazu gehört, dass die Bewertung von Mobilität immer im Kontext der jeweiligen Gesellschaft bzw. auch von persönlichen Motiven betrachtet werden muss. Im Fall der Mobilität von Frauen z.B. scheinen unterschiedliche Geschlechterzuschreibungen zu hohe Mobilität als nachteilig bewertet zu haben. Ähnlich zeigt die Untersuchung zu Richtern in Andalusien, dass eine räumliche Mobilität eher ein Mittel der Degradierung von Gelehrten war, hier also noch einmal der Aspekt von Zentrum-Peripherie mitbedacht werden muss. In manchen Fällen scheint es hingegen die persönliche Entscheidung eines Gelehrten gewesen zu sein, auf vertikale Mobilität zu verzichten und ein Leben in Askese und Einsamkeit vorzuziehen. Nicht zuletzt wird man auch akzeptieren müssen, dass das Quellenmaterial nur begrenzte Informationen bieten kann und dass das Hauptnarrativ der Quellen, und damit auch der Informationsreichtum, von dem Historiker abhängt, der vermutlich andere Aspekte der Vergangenheit erzählen wollte.
In allem ist der Band jedoch sehr lesenswert und eine inspirierende Ergänzung zur bestehenden Forschung. Es ist in jedem Fall erstrebens- und lohnenswert, den von dem Band vorgezeichneten Weg weiterzuverfolgen, auszudifferenzieren und mit mehr Fallbeispielen auszutesten.
Anmerkungen:
1 Die wichtigsten Studien sind die von Carl F. Petry, Civilian Elite of Cairo in the Later Middle Ages, Princeton 1981; Ira M. Lapidus, Muslim Cities in the Later Middle Ages, Cambridge 2002; Anne Broadbridge, Academic Rivalry and the Patronage System in Fifteenth Century Egypt: al-ʿAynī, al-Maqrīzī and Ibn Ḥajar al-ʿAsqalānī, in: Mamlūk Studies Review 3 (1999), S. 85–106; Jonathan Berkey, The Transmission of Knowledge in Medieval Cairo. A Social History of Islamic Education, Princeton 1992; Michael Chamberlain, Knowledge and Social Practice in Medieval Damascus, 1190–1350, Cambridge 1995; Joan E. Gilbert, Institutionalization of Muslim Scholarship and Professionalization of the ʿUlamāʾ in Medieval Damascus, in: Studia Islamica 52 (1980), S. 105–134; Irmeli Perho, Climbing the Ladder: Social Mobility in the Mamluk Period, in: Mamlūk Studies Review 15 (2011), S. 19–35.