Cover
Titel
London’s Working-Class Youth and the Making of Post-Victorian Britain, 1958–1971.


Autor(en)
Fuhg, Felix
Reihe
Palgrave Studies in the History of Subcultures and Popular Music
Erschienen
Anzahl Seiten
441 S.
Preis
€ 93,08
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Felix Fuhgs Studie beruht auf einer am Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin entstandenen Dissertation. Sie steht im Kontext der Forschung zu Metropolen- und Jugendkulturen sowie moderner Ansätze, die „Populärkultur“ keineswegs losgelöst von gesellschaftlichen Prozessen oder als unpolitisch verstehen1 und sie in transnationaler Perspektive thematisieren.2

Über das Thema der Kultur von Arbeiterjugendlichen (im weiten Sinn) hinaus verfolgt der Autor einen vergleichbar komplexen Ansatz während der langen 1960er-Jahre (1958–1971) und wendet sich dem beschleunigten materiellen, sozialen und kulturellen Wandel in Großbritannien zu. Er fragt nach der Rolle der „working-class youth culture“ (S. 4) in diesem Prozess. Nirgendwo anders, so die der Studie unterliegende Annahme, ließe sich dieser Wandel besser erkennen als in der der Metropole London. Für Fuhg ist London sowohl Explanans wie Explanandum. Die Stadt ist der Raum für Prozesse von letztlich kulturrevolutionärer Qualität; sie erscheint im Buch als das „powerhouse“ des Wandels der „grassroot culture“ und als „job machine“ des Landes (S. 90, 108, 118).

Wie Fuhg zeigt, bezog sich der allgemeine Diskurs über auffällige Praktiken von Jugendlichen, explizite Modestile und die Entwicklung zu einer multiethnischen Stadtgesellschaft (jedenfalls außerhalb der „suburbs“) immer wieder, wenngleich nicht ausschließlich auf die Metropole. Der Autor betont zutreffend die Dynamik seiner Untersuchungszeit. Sie war vorangetrieben durch erheblich erweiterte Konsumspielräume gerade von Jugendlichen und ihre neuen Beschäftigungschancen in Dienstleistungsberufen, was aber selten auf einen sozialen Aufstieg hinauslief und keineswegs auf einen Verbürgerlichungsprozess. Das Hervortreten der (vielfältig auftauchenden, dennoch eher deskriptiven als analytischen) Kategorie der „generation“ ist ebenso Kennzeichen dieser Dynamik wie das wachsende Auftreten schwarzer Jugendlicher, denen zeitgenössisch ein eigenes, besonders herausforderndes Potenzial zugeschrieben wurde. Subkulturelle Ausdrucksformen, von provozierendem Auftreten auf den Straßen bis zu signifikanter Kleidung, wurden, in britischer Kodierung, gar zu einem weltweiten Phänomen (S. 39). In seinem Durchgang durch die Transformation des Londoner Stadtraums und der Stadtgesellschaft lässt Fuhg die ethnischen Quartiere hervortreten und neue Orte des Vergnügens sichtbar werden, die exklusiv von Jugendlichen und hier besonders von Arbeiterjugendlichen angeeignet wurden. So bringt der Verfasser einen sozial- und stadtgeschichtlichen Ansatz, die Rolle von Musikszenen und expressiven Ausdrucksformen sowie die Kategorie des „public space“ zusammen.

Sein komplexes Transformationsmodell kann Fuhg dadurch empirisch ausfüllen, dass er sich auf London konzentriert. Es geht ihm dabei nicht um die Erforschung von Stadt, sondern um Forschung in der Stadt. Diese geschieht vornehmlich in diskursgeschichtlicher Perspektive. Zu Wort kommen die Stellungnahmen der bekannten, fast offiziösen nationalen Blätter wie des Guardian, des Daily Telegraph oder der Sunday Times; ferner politische, soziologische und sozialpädagogische Kommentare wie von Terence Morris über „The Teenage Criminal“ im wöchentlich erscheinenden Kulturmagazin New Society (1963). Trotz dieser dominanten Perspektive geht es auch immer wieder um den „realen“ Wandel, zum Beispiel um Wohnverhältnisse, wirtschaftlichen Strukturwandel und Konsummuster. Spärlich vertreten sind hingegen die Quellen, die auf eine Binnensicht des neuen Jugendkollektivs oder gar auf individuelle Praktiken hinausliefen. Das Kino beispielsweise, das Jugendlichen einen alternativen Raum eigener Soziabilität eröffnete, wird zwar erwähnt, in seiner Bedeutung jedoch nicht näher untersucht. Überhaupt geht Fuhg kaum auf die mediale Seite des Wandels ein. Die neuen Radio- und Fernsehprogramme für jugendliche Publika, die lokale Pop-Ereignisse verbreiteten, diese kommentierten und deren Medialisierung dann wieder auf das Londoner Ensemble zurückwirkte, werden nicht erwähnt. Die heftig und massenhaft nachgefragten Jugendmagazine, die erst Konsumangebote, Modestile, Leitbilder der Lebensführung und die Visualität der Popmusikgruppen vermittelten, sind im Buch nur sehr spärlich vertreten (S. 228). So wird das transformative Potenzial jugendspezifischer Medien ausgespart, wie auch die herangezogenen publizistischen Quellen meist nur kurz zitiert, aber nicht kritisch verortet werden. Insgesamt geht es Fuhg eher um das Sprechen über Jugendliche (meist aus dem klassischen, aber erodierenden Milieu der Arbeiterquartiere) als um das Sprechen der Jugendlichen selbst. Was deren Identitätsbildung betrifft, so präsentiert Fuhg die räumlichen Praktiken und die beschleunigte Mobilität (Mods gegen Rocker, Jugendclubs, Kaffeebars).

Fuhgs Beobachtungen überzeugen an vielen Stellen. Man wird bestätigen können, dass aus der Sicht der späten 1960er-Jahre der Teenagerkultur eine leuchtende Zukunft bevorzustehen schien (S. 25). Auch die erhöhte Bedeutung von sozialwissenschaftlicher Expertise ist unübersehbar. Der Autor greift auf das bekannte Paradigma des „Swinging London“ zurück (das Fuhg berechtigt 1968 am Ende sieht, S. 134) und differenziert es weiter aus. Er argumentiert überzeugend, dass der internationale Erfolg der Londoner Mode am Ende der 1960er-Jahre zunächst auf Kosten der Pariser Konkurrenz ging – die aber doch ihre internationale Bedeutung behielt. Stark ist, wie Fuhg vielfältige Stimmen, kurze Zitate, Impressionen in Wohnquartieren, kaleidoskopartig mit – allerdings zu hinterfragenden – Gesamtinterpretationen zusammenbringt. Den zunächst subkulturellen, dann immer weiter ausgreifenden Wandlungen der Verhaltensweisen, Werte und Konsummuster einer jungen (Arbeiter-)Generation (die wohl doch nicht gänzlich neu waren, wie zumindest die „kitchen-sink“-Filme gezeigt hatten) schreibt der Autor das Potenzial zu, die gesamte britische Gesellschaft zu transformieren und ein post-viktorianisches Zeitalter einzuläuten. Ob aber nicht schon das Entstehen eigenständiger Arbeiterbewegungen um 1900 dieses Ende bedingte? Zu gewichten wären ferner die anderen Faktoren des Strukturwandels: Der Zusammenbruch vieler Grundstoffindustrien, die mangelnde Erneuerung der industriellen Infrastrukturen, die anhaltend starke Position Großbritanniens im internationalen Handel trotz des endgültigen Endes des britischen Weltreiches. Weniger deutlich wird der Basisprozess der die Mittelschichten ergreifenden Demokratisierung, der mit dem Abbau der Autorität von Eltern, konservativer Politiker und der bislang herrschenden Klassen einherging.

Das Beispiel London ist, wie jede:r Stadthistoriker:in gerne einräumen wird, ergiebig, nicht nur wegen der Vielzahl der hier zur Verfügung stehenden Quellen, sondern auch wegen der historisch seit langem verankerten überaus starken Bedeutung der Metropole im britischen Städtesystem. Auch die Konzentration der Medien in London (BBC, Verlage, Studios), von Exportindustrien sowie die Rolle der Stadt als politisches Entscheidungszentrum und ihre sich ungemein steigernde Attraktivität für den internationalen Tourismus (nicht zuletzt für Jugendliche und junge Erwachsene) sprechen für den auf die Metropole konzentrierten Ansatz. Insgesamt überzieht Fuhg allerdings dessen Erklärungsanspruch. Ganz kommt seine Darstellung doch nicht um den Merseybeat von Liverpool als innovatives Milieu der Popmusik herum. Auch wie sich in Großbritannien der fokussierte Wandel ungleichzeitig vollzog, bleibt bis auf einige kurze Ausblicke in die britische Stadtlandschaft unerörtert. Ab und zu werden Störungen des Fortschrittsmodells angedeutet: anhaltende Unsicherheit von Beschäftigungschancen, Festhalten an maskuliner Identität in der „working class“, rassische Diskriminierung sowie die Fortexistenz von „Slums“ (S. 74–75, 80–86, 172–176). Kontinentaleuropa kommt im Setting (bis auf kurze Erwähnungen von Paris und Hamburg) gar nicht vor, eher schon die USA mit ihrer in den 1950er-Jahren noch unangefochten einflussnehmenden Populärkultur. Die auf London fokussierte Betrachtung hat den Preis, dass die transnationale und translokale Dimensionen der beschriebenen Prozesse nicht ausreichend erfasst werden können. Hier hätte sich eine stärker gewichtende und komparative Verfahrensweise angeboten. Auch wären Generalisierungen vorsichtiger zu formulieren. Ist es genug, festzustellen, dass „London differed from the rest of the country“ (S. 4) und dass es schlechthin “the cultural capital of the world” (S. 7) dargestellt habe?

Dass „London’s Working-Class Youth“ der entscheidende Akteur des postviktorianischen Wandels war und fluide Identitäten die neue Signatur des Zeitalters darstellten, wie Fuhg argumentiert, ist ein Stück weit plausibel, kann aber nicht voll überzeugend nachgewiesen werden. Hierzu müsste unter anderem der historische Sprung von den sich unkonventionell verhaltenden Jugendlichen der 1950er-Jahre zu den politisch mobilisierten der 1960er reflektiert werden. Wenngleich die besondere Bedeutung der Metropole als Labor der Modernisierung von Lebensstilen und als Impulsgeber neuer Konsumpraktiken unterstrichen werden kann, vollzog sich die Auflösung traditioneller Arbeiterquartiere längerfristiger als bei Fuhg dargestellt. Und schließlich, welche Rolle spielten jugendliche Gruppen, die nicht eindeutig der (je nach Lesart schwindenden oder sich neu aufstellenden) Arbeiterklasse oder den Mittelschichten zugeordnet werden können? Waren geschlechterspezifische Profile nicht doch ausgeprägter als es im Buch erscheint, wo eher der männliche Jugendliche und dessen körperliche Präsenz im öffentlichen Raum im Fokus stehen? Trotz solcher kritischer Nachfragen ist die Arbeit Fuhgs instruktiv und äußerst anregend für die weitere soziokulturelle Forschung zum Thema. Die hohe beschreibende und kategoriale Qualität der reichhaltigen Studie und ihr bemerkenswerter Charakter als stadthistorischer Forschungsbeitrag stehen außer Frage.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu schon Detlef Siegfried, Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.
2 Es sei verwiesen auf die herausragende Studie von Bodo Mrozek, Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, und die Forschungsgruppe „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“ (Universität des Saarlandes/Universität Luxembourg, 2018–2025).

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