Seit 2016 geben Henry Lowood und Raiford Guins bei MIT Press eine Buchreihe zu „Game Histories“ heraus, das perfekte Zuhause für Melanie Swalwells erste Monographie zur Geschichte des „Homebrew Gaming“ in Australien und Neuseeland in den 1970er- und 1980er-Jahren. In dem Buch gibt uns Swalwell, basierend auf ausführlichen Interviews und Literaturrecherchen, einen Einblick in die großteils vergessene Alltagsgeschichte der frühen Spieleentwicklung. Während sich bisher die meisten Geschichten digitaler Spiele auf prestigeträchtige Experimente an Großrechnern und mehr oder weniger glamouröse Entwickler-Entrepreneurs wie Nolan Bushnell konzentrierten1, geriet die Geschichte der Mehrheit der Spieler:innen und Hobby-Entwickler:innen jener Frühzeit der Computerspielgeschichte bisher in Vergessenheit: „Homebrew was deemed an unworthy topic for study.“ (S. 4) Dabei entstanden genau hier im alltäglichen Gebrauch von Mikrocomputern neue Kulturformen, etwas, das Swalwell unter dem nur schwer zu übersetzenden Begriff des vernacular zusammenfasst.
In den Kapiteln 2 bis 5 des Buches entfaltet Swalwell ihre Analyse. In Kapitel 2 befasst sie sich ausführlich mit den öffentlichen Diskursen über Mikrocomputer. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass schon während der Markteinführung von Mikrocomputern in Australien und Neuseeland Zweifel und Unsicherheiten den Diskurs bestimmten. So wurde anfangs vor allem in der Presse die Nützlichkeit dieser neuartigen und teuren Geräte angezweifelt. Vor allem fehlte es an Vorstellungen davon, wofür Mikrocomputer wie der australische Microbee verwendet werden könnten. Auch wurden oft die Geräte verkauft, noch bevor es überhaupt Software für sie gab. Diese Leerstelle wurde früh mit digitalen Spielen gefüllt, die die Software-Verkaufszahlen vor allem für die günstigeren Computermodelle dominierten. Neben dieser Unsicherheit arbeitete Swalwell zudem eine frühe Trennung zwischen „serious software people“ und „home users“ heraus. Erstere distanzierten sich von digitalen Spielen und bestanden auf „the line between the toys and real business“ (S. 32). Tatsächlich wurden Spiele bald zum (Haupt-)Grund, einen Computer zu kaufen, sie dienten als Lerninstanz für den Umgang mit den neumodischen Geräten und dem Programmieren.
In Kapitel 3 konzentriert sich Swalwell, unter Rückgriff auf Michel de Certeaus L’Invention du Quotidien2, auf die Aneignungsprozesse der „users who are not producers“ (S. 51), die üblicherweise von der Forschung vernachlässigt werden. Dieser Fokus auf die Praxis zeigt, wie wenig wir nach wie vor über das Nutzungsverhalten der ersten User:innen von Mikrocomputern wissen. Dabei eroberten Mikrocomputer neben dem privaten Raum auch (halb-)öffentliche Räume: Fachgeschäfte, Pubs und Schulen. In einem nächsten Schritt zeigt Swalwell, indem sie Luce Giards Konzept des „Cuisinier“3 heranzieht, die Ähnlichkeiten zwischen dem frühen Programmieren zuhause und dem Kochen. Beides erscheint gewöhnlich und alltäglich und wurde deshalb lange von der Forschung nicht beachtet. Ähnlich wie beim Kochen wurde auch beim frühen Programmieren auf Rezeptbücher zurückgegriffen, es wurde improvisiert und verbessert. Die Küchen-Metaphorik findet sich nicht nur im Titel der Monographie wieder, sondern auch im Sprachgebrauch der Homebrew-Szene selbst, die u.a. Anleitungen als Cookbook bezeichneten (s.u.). Die fertigen Spiele wurden dann informell unter Freund:innen verbreitet und getauscht. Angetrieben wurden die meist jungen Programmierer:innen vom Ehrgeiz, ihre Fähigkeiten zu verbessern und neue Wege des Programmierens auszuloten.
Im anschließenden Kapitel wendet sich Swalwell den von Amateur:innen programmierten Spielen selbst zu und hat dazu 14 „Home-Coder:innen“ interviewt. In diesen Interviews manifestiert sich ein etwas anderer Diskurs. Neben Neugier, Spaß und Kreativität wurden vor allem populärkulturelle Einflüsse als Motiv für die Spielentwicklung benannt: „Homebrew authors often wrote games based on what they knew.“ (S. 85) Viele der – vor allem jugendlichen – Home-Coder:innen fingen mit dem Kopieren von bekannten Spielen bzw. dem Portieren dieser Spiele auf andere Plattformen an, das Programmierhandwerk zu lernen. Wobei hier keine unlautere Absicht dahinter steckte: Das Kopieren von Spielideen und der Versuch, bekannte Spiele nachzuprogrammieren, gehörte zu den gängigen Anfängen eigener Spieleentwicklung. Neben dem Coden selbst geriet zunehmend auch das Marketing in den Fokus einiger weniger junger Entwickler:innen, doch nur den wenigsten gelang es, auf dem Hobby eine profitable Karriere aufzubauen. Gegen Ende der 1980er-Jahre, mit der zunehmenden Durchdringung der australischen und neuseeländischen Gesellschaft mit Mikrocomputern, fand auch hier eine Normalisierung statt, das heißt Computer wurden vom exotischen Luxusobjekt immer mehr zum Alltagsgegenstand. Allerdings bezweifelt Swalwell im Gegensatz zu Graeme Kirkpatrick4, dass sich unter Mikrocomputernutzer:innen eine haarscharfe Trennung zwischen Spieler:innen und Coder:innen manifestiert habe.
In Kapitel fünf geht es schließlich um Bastelkulturen, die sich rund um das Anfertigen neuer Hardware-Komponenten entwickelten. Anhand der zeitgenössisch publizierten „hackers handbooks“ und „circuit cookbooks“ analysiert Swalwell Beispiele von neuseeländischen und australischen Bastler:innen, die sich in den 1970er-Jahren und 1980er-Jahren teilweise ganze Computer selbst zusammengebaut hatten. Hier wird besonders deutlich sichtbar, wie sehr sich frühe User:innen die neue Technologie angeeignet hatten.
Im anschließenden Kapitel, das schon Teile der Schlussfolgerung vorwegnimmt, beschäftigt sich Swalwell mit dem nachhaltigen Einfluss des „Home Brewing“ auf die Entwicklung der sogenannten „independent“-Spieleentwickler:innen, und setzt sich auch mit anachronistischen Neuerscheinungen von Spielen für längst obsolete Mikrocomputer auseinander. Abschließend greift Swalwell noch einmal auf Michel de Certeau, Luce Giard und Pierre Mayol zurück, die sie dazu inspiriert haben, sich mit den „uses that people make of things“ und vor allem „users and consumers“ als Kulturproduzent:innen näher auseinanderzusetzen. Ihr Fazit ist ein Appell, sich vermehrt jener bisher von der Forschung verschmähten „vernacular digitality“ zuzuwenden, nicht nur um die Frühphase der Digitalisierung unserer Gesellschaften besser zu verstehen, sondern auch unsere Beziehung zum Digitalen.
Melanie Swalwells Monographie ist eine gut lesbare und konzise Arbeit, die uns anhand punktueller Analysen und theoretischer Überlegungen auf die Dringlichkeit dieser Forschung hinweist. Eine Geschichte digitaler Spiele, bzw. allgemeiner noch eine Geschichte des Digitalen, darf nicht länger nur anhand ausgewählter Erfolgsbiographien von Entwickler:innen und Unternehmen erzählt werden, sondern muss in Zukunft vermehrt den Blick auf die Nutzer:innen und Spieler:innen richten, die nie nur passive Kulturkonsument:innen waren, sondern immer auch zugleich Kulturproduzent:innen. Mein einziger Kritikpunkt wäre, dass die Passagen zur theoretischen Inspiration des Buches, also vor allem zu „Invention du Quotidien“, sich noch stärker in der Analyse des Forschungsgegenstand hätten widerspiegeln können, womit Theorie und Praxis noch stärker hätten verbunden werden können. Insgesamt ist es in dem Fall allerdings ein wenig müßig, nach Monita zu suchen, denn Swalwells Monographie sticht durch ihre Klarheit und spannende neue Funde sowie vor allem durch den respektvollen Umgang mit ihren Quellen hervor. Sie nimmt die von ihr interviewten Entwickler:innen ernst, ohne zugleich unkritisch zu werden, und liefert so eine Blaupause für nachfolgende Forscher:innen.
Anmerkungen:
1 Steven Kent, The Ultimate History of Video Games, New York 2001; Harold Goldberg, All your Base Are Belong to Us, New York 2011; aber auch: Tristan Donovan, Replay. The History of Video Games, Lewes 2010.
2 Michel de Certeau, L’Invention du Quotidien. Vol. 1. Arts de Faire, Paris 1990.
3 Michel de Certeau / Luce Giard / Pierre Mayol, L’Invention du Quotidien. Vol 2. Habiter, Cuisinier, Paris 1998.
4 Graeme Kirkpatrick, The Formation of Gaming Culture. UK Gaming Magazines, 1981–1995, London 2015. Siehe dazu auch die Rezensionen: Gleb J. Albert, Rezension zu: Graeme Kirkpatrick, The Formation of Gaming Culture. UK Gaming Magazines, 1981–1995, London 2015, in: H-Soz-Kult, 14.07.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23375 (03.12.2022); und Eugen Pfister, Zzap! Zur Normalisierung von Videospielen im Vereinigten Königreich in den 1980ern. Graeme Kirkpatricks Formation of Gaming Culture, in: Spiel-Kultur-Wissenschaften, 15.01.2021, https://spielkult.hypotheses.org/2872 (03.12.2022).